Zusammenfassung
Dass der Diskurs des Purismus ungeeignet ist, die Vielfalt avantgardistischer Techniken zu bezeichnen, soll nicht heißen, dass der stattdessen vorgeschlagene Terminus des cinéma brut auf eine Praxis verweist, die in einem ‚Jenseits der Zeichen’ angesiedelt ist. In der Filmsemiotik ist zur Bezeichnung des Problems, dass Zeichen und damit Bedeutungen sozial und kulturell gebunden sind (was wissenschaftliche Interpretationen natürlich miteinschließt), der Begriff des „Codes“ üblich geworden. Sowohl das Konzept als auch der Begriff eines cinéma brut stellen in diesem Zusammenhang eine Herausforderung dar: Denn beide scheinen auf den ersten Blick auf eine künstlerische Praxis zu verweisen, die frei von jeglicher Codierung ist und ohne Vermittlung (eines Diskurses, eines Mediums oder eines Codes) auf das ‚Wahre’ und ‚Eigentliche’ — das unbearbeitete ‚Rohe’ -zugreifen kann. Akzeptiert man jedoch, dass auch ein cinéma brut codiert ist, so muss es sich um einen Codebegriff handeln, der sich von jenem des herkömmlichen Films unterscheidet.72 Da jeder Film aus einer Vielzahl von kinematographischen Codes besteht, vermittels dieser kulturelle Traditionen und gesellschaftliche Konventionen wirksam werden, stellt sich mit Recht die Frage, wie sich das Kinernatographische mit dem Brutistischen, dem Rohen, Wilden und Primitiven auf einen Nenner bringen lässt.73
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Literatur
Zur Geschichte und Vielfalt der Interpretation des Codebegriffs vgl. Nöth, Handbuch der Semiotik, 2000, 216–226.
Barthes, „Rhetorik des Bildes“ [1964], 1990, 31f.
A.a.O.
Vgl. Dubois, Der fotografische Akt [1983], 1998.
Zum Apparatus zählt nicht nur der in der Aufnahme verwendete Teil der filmischen Technik (allem voran die Kamera mit ihren Codierungsprozessen), sondern das gesamte kinematographische Dispositiv, wie etwa das perspektivische System, der chemophotographische Prozess als Voraussetzung der technischen Bilder, der Filmstreifen in seiner Materialbeschaffenheit sowie alle kontextuellen Aspekte des kinematographischen Ereignisses (zum Beispiel der Kinosaal, die Projektion, die Zuschauerschaft). Zur deutschsprachigen Rezeption der Apparatus-und-ldeologie-Debatte vgl. Winkler, Der fitmische Raum und der Zuschauer, 1992.
Vgl. Dubois, Der fotografische Akt, 1998, 49–57.
Vgl. Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung, 1999, 42.
Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen [1903], 1998, 65.
Zur Genese des Zeichengebrauchs vgl. Nöth, Dynamik semiotischer Systeme, 1977, 12–28.
Dubois, Der fotografische Akt, 1998, 55.
Zu dieser Entscheidungssituation auf Seiten der Zuschauerschaft vgl. Fischer-Lichte, „Performativität und Ereignis“, 2003, 22.
Vgl. Krauss, Das Photographische, 1998.
Vgl. hierzu neben Krauss auch Dubois, Der fotografische Akt, 1998, 7 und 54; Barthes, Die helle Kammer, 1985, 90.
Vgl. Hüppauf, „Das Unzeitgemäße der Avantgarden“, 2000; Liska, „Vorhut und Nachträglichkeit“, 2002.
Liska, „Vorhut und Nachträglichkeit“, 2002, 12.
Vgl. Krauss, „A Voyage on the North Sea“, 1999; Dies., „Reinventing the Medium“, 1999; Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung, 1999.
Vgl. Marks, „How Electrons Remember“, 2002.
Vgl. Manovich, „Digital Cinema and the History of a Moving Image“, 2001.
Vgl. Crane, The Transformation of the Avant-Garde, 1987, 14.
A.a.O. [Herv. d. Verf.].
Zur Dekonstruktion hat sich Derrida an mehreren Stellen geäußert, z.B. Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“ [1971], 1976, 154f. Eine überaus lesenswerte Einführung zum Thema bietet Culler, Dekonstruktion, 1988.
Vgl. Krauss, „A Voyage on the North Sea“, 1999; Dies., „Reinventing the Medium“, 1999.
Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [1936–1939], 1977, 162 [Herv. d. Verf.].
Metz, Semiologie des Films, 1972, 54. Den Begriff „profilmique“ hat Metz von Etienne Souriau übernommen.
James, „Semiology and the Independent Film“, 1978, 389.
Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung, 1999, 14f.
Séris, La Technique, 1994, 254.
Ebd., 253.
Antoni, zitiert nach Wagner, Das Material der Kunst, 2001, 315.
Wollen, „Cinema and Technology“, 1980, 20.
Vgl. Lindner, Photographie ohne Kamera, 1920, 26–39.
Vgl. Hoberman, „The Super-80s“, 1991.
Zu den Pionieren von Normal-8 zählen George und Mike Kuchar, Ken Jacobs, Stan Brakhage und Saul Levine. Vgl. Anker, Big as Life, 1998.
Vgl. Zielinski, Archäologie der Medien, 2002.
Vgl. den ausführlichen Beitrag zu Vinyl Video in der Rundfunksendung „hör! spiel! art.mix“, Bayern 2, 10. Oktober 2003.
Vgl. Lash, Sociology of Postmodernism, 1990, 5–15.
Zielinski, Archäologie der Medien, 2002, 297.
Vgl. Wagner, „Bild — Schrift — Material“, 1996.
Wagner, „Authentizitätsversprechen medialer Bilder und physischer Stoffe“, 1996.
Assmann, „Gedächtnis-Simulationen im Brachland des Vergessens“, 1998, 63.
Vgl. Jutz, „Gedächtnis und Material“, 2001.
Vgl. Blümlinger, „Kino aus zweiter Hand“, 2009, 157–163.
In einem Schreiben an die Verfasserin vom 5. September 2000.
Mauss, „Die Techniken des Körpers“ [1936], 1975, 205; vgl. auch Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung, 1999, 15.
Benjamin, Das Passagen-Werk [1927–1940], 1983, 560.
Ebd., 229, 225, 228. Weitere Beispiele finden sich in Buck-Morss’ profunder und überaus detailreicher Analyse von Benjamins Passagen-Werk: Dialektik des Sehens, 2000, 142–144.
Ausführlicher zu dieser Dialektik vgl. Buck-Morss, Dialektik des Sehens, 2000, 142–198 und 293–299.
Vgl. das Exposé von 1935, wo Benjamin schreibt: „[D]as Neue, um sich bildhaft zu gestalten, [verbindet] seine Elemente stets mit solchen der klassenlosen Gesellschaft. Das kollektive Unbewußte hat an ihnen mehr Anteil als das Bewußtsein des Kollektivs“ (Benjamin, Das Passagen-Werk, 1983, 1225).
Ebd., 1046.
Buck-Morss, Dialektik des Sehens, 2000, 199 und 210.
Benjamin, Das Passagen-Werk, 1983, 578 [Herv. d. Verf.].
Vgl. Krauss, „A Voyage on the North Sea“, 1999.
Vgl. Broodthaers, Politique/Poétique, 2003, 92.
Vgl. http://www.medienkunstnetz.de/werke/a-voyage-on-the-north-sea/ [letzter Zugriff: 10.08.2009].
Gunning, „Das Kino der Attraktionen“ [1990], 1996.
Paech, Literatur und Film, 1988, 24.
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Jutz, G. (2010). Cinéma brut. In: Cinéma brut. Edition Angewandte. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-211-99150-3_3
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