Auszug
Evolution ist blind, aber nicht unbeobachtet. „Evolution ist nicht nur eine Idee, eine Theorie oder eine Vorstellung, sondern der Name für einen natürlichen Vorgang“, merkt dazu Ernst Mayr an. Es ist klar was er meint: Evolutionstheoretiker phantasieren nicht, sie meinen es ernst. Uns interessieren hier zwei Stellen in dem programmatischen Satz, das „nicht nur“ und der „Name“. Die Evolutionstheorie ist also auch eine Idee, Vorstellung und Theorie. Und sie trägt einen Eigennamen, der zum symbolisch variablen Bestand der Wissenschaft gehört. Kein Wunder, dass es inzwischen programmatisch alternative Buchtitel gibt wie „Kulturgeschichte der Evolutionstheorie“ oder „Darwinism Evolving“, zwischen denen der Leser auswählen muss und die zur Variation, Selektion und Retention des Darwinismus im Wissenschaftsbetrieb und/oder zu seiner Tradition beitragen. Über diese Alternativen ist der Begriff der Evolution reflexiv geworden, d.h. er hat seine dialektische Initiation erfahren. Er wird auf sich selbst angewendet und mit dem Nichts konfrontiert; seine Reflexivität ist eine evolutionäre Errungenschaft, die die Evolution in Frage stellt. Der amerikanische Jurist Donald Elliot spricht etwa von der evolutionary Tradition und man kann als Leser gar nicht sagen, ob das tau-tologisch oder widersprüchlich ist
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Literatur
Mayr (Fn. 28), 336.
Das Konzept sei empirisch gut bewährt, sagt z.B. Aschke, Die Verfassung des Experiments Moderne, in RG 6 (2005), 101–121 (110) (allerdings auch, es sei noch bei weitem nicht umfassend verstanden.)
Riedel (Fn. 156); Depew/ Weber (Fn. 37).
Elliot, The Evolutionary Tradition in Jurisprudence, Columbia Law Review 85 (1985), 38–94.
Vgl. anhand des Baldwin-Effekts die Darstellung bei Depew(Fn. 37).
Kurios und barock im Titel: Helsper, Die Vorschriften der Evolution für das Recht. Eine naturwissenschaftliche Analyse des Gestaltungsspielraums von Juristen und Politikern mit Folgerungen für das Steuer-, Subventions-, Krankenversicherungs-, Rentenrecht sowie das Recht der EG-Marktordnung (1989).
Im Ton zurückhaltend und im Ergebnis vernichtend spricht Saliger (Fn. 150), 112 von einer gegenwärtig guten Konjunktur.
Lampe (Fn. 31), (Vorwort/9) spricht von gelegentlichen Meinungsäußerungen, Verblüffung und Unverständnis.
Teubner, Reflexives Recht, Archiv für Rechts-und Sozialphilosophie 68 (1982), 13–59 (13).
Luhmann (Fn. 58), 3.
Trotz Singularfassung steckt auch bei Adam Smith schon eine erstaunliche Poly-valenz hinter der Formel, Rothschild, Adam Smith and the Invisible Hand, The American Economic Review 84 (1994), 319–322.
So z.B. Elliot (Fn. 166); die Nähe betont Lampe (Fn. 31),18 f.; Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (1994), 352–355 weist hingegen auf die Entfernung zwischen historischer Rechtsschule und moderner Evolutionstheorie, Savignys Konzept sei noch religiös eingefärbt; ihm fehle völlig die Vorstellung der Mutation.
Vertiefungsempfehlung für den unspezifischen Umgang mit dem Begriff der Evolution Watson, The Evolution of Western Private Law (1985); Hutchinson, Evolution and Common Law (2005).
Vertiefungsempfehlung für das 19. Jahrhundert: Kiesow, Das Naturgesetz des Rechts (1997) mit einer Studie zu Albert Hermann Post.
So Wieacker (Fn. 28), 452; DERS., Jhering und der Darwinismus, in: FS Larenz (1974), 63 ff.
Teleonomie meint zielgerichtete Prozesse, die in den Strukturen des Systems angelegt sind, Colin Pittendrigh, Behavior and Evolution (1958).
Blumenberg, Arbeit am Mythos (1979/1996), 433–604.
Kiesow (Fn. 177), 87; Bezeichnend, dass es weder in Brunner et al (Hg), Geschichtliche Grundbegriffe, noch in Ritter et a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie einen Eintrag zum Begriff Evolution und Hinweise zum Ursprung gibt. Vgl. hingegen in beiden Bänden die Einträge zu Revolution.
Vaihinger, Philosophie des Als-Ob (1911/1918), 1–12 zum Denken als gelungenem Mittel der Selbsterhaltung.
Elimination sagt z.B. Mayr (Fn. 28), 188; Extinktion ist ein weiterer üblicher Be-griff.
Fischer-Lescano/ Teubner, Regime-Kollisionen (2006).
Für beide Zitate Luhmann (Fn. 63), 268.
Das Zusammenfallen von Unruhe und Systembildung betont Amstutz, Evolutori-sches Wirtschaftsrecht (2001), 271 ff. unter Rückgriff auf Stuart Kaufmanns Idee spontaner Selbstorganisation und Gould/Eldredges Idee des puntuated equilibrium. Das Buch von Amstutz ist eine weitere Vertiefungsempfehlung, die anhand der besonderen Perspektive des Wirtschaftsrechts detailliert über die evolutionstheoretische Diskussion des 20. Jahrhunderts Auskunft gibt.
Vgl. zu Mayr und Wieacker Fn. 28.
Wieacker (Fn. 28), 26 ff.
Lampe (Fn. 31), 29 hingegen meint die „im Bewusstsein lokalisierten neuronischen Informationen über das Sollen aller Individuen“. Die Systemtheorie würde wiederum Informationen nicht lokalisieren.
Vertiefungsempfehlung: Luhmann (Fn. 63), 239–296.
Vesting (Fn. 20), Rnd. 261.
Amstutz sieht den Fortschritt der Theorie präziser darin, dass schließlich das Recht nicht mehr allein als von rechts externen Kräften (Variation, Selektion) gesteuert angesehen wurde, sondern dass schließlich die interne Dynamik des Rechts (Retention) als Evolution eines juristischen Propriums angesehen wurde. Amstutz, Rechtsgeschichte als Evolutionstheorie, RG 1 (2002), 26–31.
Für das 19. Jahrhundert: Kiesow (Fn. 177), 88 ff.
Keller, Societal Evolution (1915), 37; Zur Auseinandersetzung mit der Personalisierung und Verkörperung von Gesetzgebung siehe Ders. (Fn. 65), 769–783.
Zuletzt: Nancy, singulär plural sein (2005); LADEUR (Fn. 79), 10.
Vgl. Fn. 128.
Für eine Kombination aus Evolutions-und Medientheorie plädiert Vesting (Fn. 20), Rnd. 274–297 mit einer an primärer Oralität, Schrift, Buchdruck und Computer orientierten Phasenunterteilung.
Vgl. Mühlmann, MSC. Die Antriebskraft der Kulturen (2005),32.
Für die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Innen und Außen: Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, ARSP 74 (1988), 218 ff., 222.
Als Gegenmodell für diese Verunsicherung siehe aus den 60er Jahren noch Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1968/1983); dazu STEINHAUER, Das rhetorische Ensemble, RG 9 (2006), 125–137.
STeinhauer, Gestaltung des Rechts, in Buckel et al (Hg.), Neue Theorien des Rechts (2006), 187–211.
Kantorowicz (Fn. 12), 22: „Nebenbei bemerkt, sind die überkommenden Definitionen der Geometrie von der modernen Wissenschaft fast bis zur Unkenntlichkeit verändert worden.“
Eine gute Darstellung zu Variation, Selektion und Retention und deren endogene und exogene Bedeutung bietet Abegg (Fn. 161).
BVerfG Beschluß v. 12.07.2001 („Love-und Fuckparade“).
Dig. 50, 17,202; eine Stelle zu Regeln findet sich bei Paulus, Dig. 50, 17,1 (non ex regula ius sumatur, sed ex iure quad est regula fiat). Die Kulturtechnik der Rhetorik wählt aufgrund der zwischen Diskretion und Indiskretion oszillierenden Kombination aus Regelskepsis und Regelbedarf, aus Definitionsskepsis und Definitionsbedarf die topische Ordnung und den reflexiven Mechanismus des aptum/decorum; vgl. Cicero, Orator 14 43 ff.: nulla praecepta ponemus — neque enim suscepimus —, sed excellentis eloquentiae specim et forman adumbrabimus; nec quibus rebus ea paretur exponemus, sed qualis nobis esse videatur(...) [Es folgt die Einführung in die topische Methode]; Quinitlian, Inst. Ora. XI 3, 177: unum iam adiciendum est, cum praecipue in actione spectetur decorum, saepe aliud alios decere. est enim latens quaedam in hoc ratio inenarrabilis, et ut vere hoc dictum est „caput esse artis decere quod facias“, ita id neque sine arte esse neque totum arte tradi potest.
Der Begriff Inference taucht in der Theorie kognitiver Module auf um zu erklären, welche genetischen Dispositionen vorliegen müssen, damit Adaption möglich wird. Das Wiedererkennen von Gesichtern muss z.B. ontogenetisch gelernt werden, aber es gibt angeborene kognitive Module, die das Lernen ermöglichen und selbst evolutionäre Produkte sind; vgl. Atran (Fn. 43), 255–261.
Pieroth/ Schlink, Grundrechte Staatsrecht II (2004), Rn. 610; Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt, Der Staat 2004, 167–202.
Wenger, Negative Jurisprudenz (2006), 19.
Zu Vorzügen der Schrift, des Buchs und des Computers: Vesting (Fn. 20), Rnd. 274 ff.
vgl. Fn. 128.
Vesting (Fn. 20), Rn. 275.
Teubner (Fn. 52), 61.
Abegg, Regulierung hybrider Netzwerke im Schnittpunkt von Wirtschaft und Politik, KritV 89 (2006), 266–290 (271 f.)
Teubner, Die anonyme Matrix. Zu Menschenrechtsverletzungen durch private transnationale Akteure, Der Staat 44 (2006), 161–187 (187).
Kemmerer, The Turning Aside, in: Bratspies/ Miller (Hg.), Progress in International Organization (2007).
Kiesow, Weltrecht-Ruinenrecht, in: Kursbuch 155 (2004), 98–107 (107).
Luhmann (Fn. 63), 279.
Koselleck (Fn. 95), 302.
Ericson, Why Law is Like News, in: Nelken (Hg.), Law as communication (1996), 195–230 geht aber unspezifisch und übertrieben davon aus, Recht und News seien Säulen gesellschaftlicher Order, „telling us who to be and what to do.“
Ihering (Fn. 9), 23 spricht von pathologischen Affektionen des Rechtsgefühls.
Esposito, Immunitas. Schutz und Negation des Lebens (2004), 60.
Esposito beschreibt unter Rückgriff auf die Idee der mimetischen Gewalt von Girard eine Evolutionslinie des Rechts, die von der Prävention zur Heilung verlaufe — das Recht ersetze darin das rituelle Opfer, rationalisiere die Rache bis das Rechtssystem das Immunsystem der Gesellschaft selbst werde, Esposito (Fn. 223), 53–66.
Esposito (Fn. 223), 70 f.
Vismann, Verfassung nach dem Computer (2007).
Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft (2006), 98.
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(2007). Es gibt juristische Evolutionstheorien. In: Gerechtigkeit als Zufall. TRACE Transmission in Rhetorics, Arts and Cultural Evolution. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-211-71689-2_4
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