Zusammenfassung
Rousseau war nicht der erste, vermutlich nicht einmal der Naivste. Aber er war der Berühmteste in einer langen Reihe Leichtgläubiger, die so weit zurückreicht wie das Denken und vielleicht so weit nach vorn, wie unsere gefährdete Gattung zu überleben vermag. Diese Leute scheinen zu glauben, wir hätten etwas hinter uns gelassen, das in jeder Beziehung besser ist als das, was wir jetzt haben, und die geeignetste Weise, unsere Probleme zu lösen, sei die, so schnell wie möglich rückwärts zu gehen. Unweigerlich wird, was Vergangenheit, als natürlich, was von heute, als unnatürlich betrachtet; so, als hätte der Lauf der Geschichte mit seiner sich ausbreitenden Pest von Apparaturen uns auf irgendeine Weise von den Körpern entfernt, die wir bewohnen, von den Funktionen, die wir jeden Tag erfüllen. Diese Nostalgie ist in typischer Weise kritiklos. Die naiven Romantiker einer ra blicken nur einige Jahrzehnte zurück, um ihren Garten Eden zu finden, ohne zu erkennen, daß die Romantiker dieser Zeit ebenfalls zurückblickten und so weiter und so fort. Rousseau selbst verliebte sich in die Schweizer Bauern, sowohl in Gestalt seiner Frau als auch im Thema seiner Philosophie. Er sah in ihrem atomisierten sozialen (asozialen?) Dasein den Weg zum Glück. Die Gesellschaft war die Wurzel des Übels, und in diesem ‹natürlichen› bäuerlichen Dasein angeblich vollkommener Selbstgenügsamkeit vermieden die menschlichen Atome den Zusammenprall dadurch, daß sie die Berührung vermieden — in einem Vakuum gibt es keine Reibungen. Jede Person oder zumindest jede Familie blieb für sich und ging dem Geschäft des Lebens mit tüchtiger Selbstsicherheit nach, ohne zu fragen oder zu geben, ohne Snobismus und natürlich ohne Apparaturen.
Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Morgen und setzte den Menschen drein, den er gemacht hatte. I. Buch Mose, 2.8
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Anmerkungen und Quellen
Dieses Kapitel verwendet die !Kung San als ein Beispiel der Jäger/Sammler-Adaptation, von der man weiß, daß sie in der menschlichen Evolution eine zentrale Rolle gespielt hat. Übertriebene Hervorhebung der !Kung ist von manchen Anthropologen kritisiert worden, und zwar zu Recht: Es gab und gibt noch viele andere Jäger/Sammler-Adaptationen, und manche unterscheiden sich von jener der !Kung grundsätzlich. Keine andere ist aber auch nur annähernd so gründlich studiert worden. Die Kritiker täten daher gut daran, ihre Energie der Untersuchung vergleichbarer Vortrefflichkeit bei anderen Jäger/Sammler-Gruppen zuzuwenden, solange es diese noch gibt. Das Kapitel bezieht sich vorwiegend auf die Arbeit von Lee und DeVore (‹Kalahari Hunter-Gatherers›), Marshall (‹The !Kung of Nyae Nyae›), Lee (‹The !Kung San›), Howell ((Demography of the Dobe !Kung›) und Shostak (‹Nisa: The Life and Words of a !Kung Woman›) sowie auf die eigene Erfahrung und Forschungsarbeit des Verfassers. Diese und andere relevante Bücher und Abhandlungen werden im folgenden ausführlich zitiert.
Keine Veröffentlichung über die !Kung darf darauf verzichten, ihre heutige Lage zu erwähnen. Nach jahrhundertelanger Unterdrückung vor allem durch die Weißen, aber auch die Schwarzen im südlichen Afrika, sehen sie sich jetzt gezwungen, zwischen Beinahe-Sklaverei auf Bantu-Farmen oder Abhängigkeit mit eingeschränkter Freiheit auf von Weißen geleiteten Rassenreservaten in Namibia oder Beinahe-Unterdrückung in der südafrikanischen Armee zu wählen, um in einem Krieg zu töten und zu sterben, den sie nicht verstehen, während ihre überkommene Weise der Lebensführung durch die Eigensucht und Gewalttätigkeit anderer Menschen rings um sie unmöglich gemacht wird. Wir, die wir sie benützen, um die menschliche Natur verstehen zu lernen, dürfen nicht vergessen, daß sie menschliche Wesen in den Qualen einer schweren historischen Krise sind. Die genaueste Information findet sich in Lees ‹The !Kung San›, und bei Willcox, ‹The Story of a !Kung Woman›, wie unten zitiert. John Marshalls Dokumentarfilm ‹N!ai: The Story of a !Kung Woman›, im nationalen Public-Fernsehen mehrmals gezeigt, illustriert die Ereignisse Ende der siebziger Jahre auf dramatische Weise. Lee, Professor für Anthropologie an der University of Toronto, hält sich, was die derzeitige Entwicklung angeht, auf dem laufenden. Wem das Elend der !Kung und anderer San-Stämme am Herzen liegt, sollte sich an ihn wenden.
20 Rousseau war nicht der erste: Jean Jacques Rousseau, ‹Staat und Gesellschaft, München 1959.
21 Die archäologischen Nachweise: Eine vollständige Grundlage für die Verwendung von Jäger/Sammler-Studien als Hilfsmittel zur archäologischen Interpretation siehe Richard B. Lee und Iven DeVore, Hsgb., ‹Man the Hunten, Chicago 1968. Eine interessante ergänzende (und aktuellere) Darstellung bei Frances Dahlberg, Hsgb. ‹Woman the Gatherer›, New Haven 1981. Sie enthält ein Kapitel über die Agta auf den Philippinen, der einzige bekannte Fall systematischen Jagens durch Frauen. Es könnte noch andere geben.
22 Familie Marshall: Siehe Lorna Marshall, ‹The !Kung of Nyae Nyae›, Cambridge, Mass., 1976; Elizabeth Marshall Thomas, ‹The Harmless People›, New York 1959; und John Marshalls verschiedene Filme, darunter ‹The Hunters›, ‹Bitter Melons› und ‹N!ai, The Story of a !Kung Woman›.
22 Expeditionen von Lee und DeVore: Siehe Richard B. Lee und Iven DeVore, Hsgb.; ‹Kalahari Hunter-Gatherers›, Cambridge, Mass., 1976; Richard B. Lee, ‹The !Kung San: Men, Women and Work in a Foraging Society›, Cambridge, Engl., 1969; Nancy Howell, ‹Demography of the Dobe !Kung›, New York 1979, und Marjorie Shostak, ‹Nisa: The Life and Works of a !Kung Woman›, Cambridge, Mass., 1981. Diese vier Werke stellen die große ethnographische Leistung der Lee-DeVore-Expeditionen in Buchform dar. Zusammen mit Lorna Marshalls Buch werden sie zweifellos den Kern der dauerhaften, endgültigen Darstellung des !Kung-Lebens sein, ergänzt durch zahlreiche Abhandlungen in Vergangenheit und Zukunft.
Ich hatte den Vorzug, an den Lee-DeVore-Expeditionen teilnehmen zu dürfen und lebte und lernte bei den !Kung 1969—1971 zwanzig Monate und 1975 fünf Monate lang. Eine Reihe von Abhandlungen, die einen Teil meiner Forschungen während dieser Zeiträume schildern, sind in Fachzeitschriften wie ‹Ethological Studies of Child Behaviour›, ‹Social Science Information›, ‹Science›, ‹Ethology and Psychiatry› und in Handbüchern erschienen.
22–24 Darstellung der !Kung-San: Ausführliche ethnographische Beschreibung des !Kung San-Lebens bei Marshall, ‹The !Kung of Nyae Nyae›, Lee, ‹The !Kung San!›, und Shostak, ‹Nisa›.
Ein historischer Überblick über die San im südlichen Afrika findet sich bei A. Willcox, ‹The Bushmen in History›, R. Inskeep, ‹The Bushmen› in Prehistory›, und P. Tobias, ‹Introduction to the Bushmen or San› in ‹The Bushmen›, Kapstadt 1978. Eine ins Einzelnere gehende archäologische Sicht liefert John Yellen in ‹Archäological Approaches to the Present: Models for Reconstructing the Past›, New York 1977. Dieser Band enthält auch wertvolle Information über die materielle !Kung-Kultur und die Landnutzung in der Gegenwart (von 1970).
25 ‹einsam, arm›... Thomas Hobbes, ‹Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates›, Neuwied/Bin. 1966.
27 ‹... ich dachte, man müßte zur Natur...› Guillaume Appolinaire in seinem Vorwort zu ‹Die Brüste des Teiresias› in ‹Œuvres Complètes›, Paris 1966.
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Konner, M. (1984). Die Suche nach dem Natürlichen. In: Die unvollkommene Gattung. Birkhäuser, Basel. https://doi.org/10.1007/978-3-0348-6749-8_1
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