Der ethische Nonkognitivismus des späten Carnap, der im letzten Kapitel des Schilpp-Bandes (Carnap, 1963) ausgearbeitet wird, ist in letzter Zeit erneut in die Diskussion gekommen, und wird zum Teil sehr unterschiedlich interpretiert, was zumindest teilweise mit verschiedenen Auffassungen des Nonkognitivismus zusammenhängt.Footnote 1 Dieser wird manchmal als äquivalent mit einem „Emotivismus“ (wie etwa bei Ayer) dargestellt, manchmal als voluntaristisch gefärbt (wozu Christian Damböck zu tendieren scheint), unter vielen anderen Möglichkeiten. Deshalb möchte ich zuerst klarstellen, was ich hier unter Nonkognitivismus verstehe.

Dabei halte ich mich möglichst an Carnap. Das ist nicht nur im gegenwärtigen Zusammenhang (d. h. der Carnap-Interpretation) sinnvoll, sondern auch insofern angebracht, als Carnap tatsächlich den Begriff des Nonkognitivismus eingeführt zu haben scheint. Mir ist jedenfalls kein früherer Gebrauch des Terminus ‚non-cognitivism‘ (oder ‚Nonkognitivismus‘) bekannt. Carnap erklärt gleich am Anfang seines Textes, warum er den verbreiteten Begriff des Emotivismus nicht verwenden möchte, und schlägt stattdessen in der für ihn charakteristischen Weise einen hässlichen, aber nicht so belasteten Neologismus vor:

My own conception of value statements belongs to the general kind which is customarily labeled “emotivism”. However, this term is appropriate only if understood in the wide sense in which Stevenson speaks of “emotive meanings”. He warns explicitly […] that his term does not refer to momentary emotions in the ordinary sense, but rather to attitudes. However, since the term “emotivism” is sometimes associated by critics with too narrow an interpretation which today is rejected by most of the adherents to the conception[,] it is perhaps preferable to use a more general term, e.g. “non-cognitivism (with respect to value statements)”. (Carnap, 1963, 999–1000)

Und was meint Carnap damit? Auch das macht er klar. Seine These des Nonkognitivismus behauptet einfach, dass man keine normativen Sätze – die Carnap „optative“ Sätze nennt – aus deskriptiven, das heißt „kognitiven“, Sätzen deduktiv ableiten kann und umgekehrt. Man kann also rein normative Sätze in eine Sprache einführen. Diese These ist genau das, was Hume gemeint hat mit seiner Behauptung, man könne kein „ought“ aus einem „is“ ableiten. Die von G.E. Moore bekämpfte „naturalistic fallacy“ war die Behauptung des Gegenteils. Bei Hume und Moore, sowie bei allen, die einen Nonkognitivismus vertreten, ist diese minimale Doktrin mit anderen Elementen kombiniert, wie natürlich auch bei Carnap. Im Folgenden will ich mich aber nur auf den minimalen Kern des Nonkognitivismus beschränken, den Carnap selbst mit diesem Namen bezeichnete.

Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, wie und wann Carnap zu diesem Nonkognitivismus kam. Thomas Mormann glaubt zum Beispiel, dass Carnap als sozial und politisch engagierter (wenn auch ziemlich ahnungsloser) Neukantianer begann, und eine Art Wertetheorie im Stil von Rickert zu entwickeln versuchte, deren Relikte noch im Aufbau (§ 152) aufzufinden sind.Footnote 2 Hier blieb demnach die Möglichkeit noch offen, über Werte rational zu diskutieren, es gab eine praktische Rationalität im Sinne Kants, nicht nur Logik und Naturwissenschaft – es gab also nicht nur Verstand, sondern auch Vernunft. Das alles wurde aber bald über Bord geworfen, so Mormann, als Carnap nach Wien kam und mit dem übrigen Wiener Kreis eine verstümmelte Form der Bedeutungstheorie Wittgensteins übernahm, die alle Ethik, alle Sätze über Werte, zu Unsinn degradierte. Carnaps Nonkognitivismus resultierte also aus dem überheblichen Versuch, alle Wertetheorie und überhaupt alle praktische Philosophie im Interesse eines überentwickelten szientistischen Ordnungssinnes aus der Welt zu schaffen. Somit wurde nach Mormanns Auffassung das praktische und politische Engagement Carnaps an der Wurzel abgeschnitten, und es verwelkte. Aus diesem Blickwinkel erscheint der Nonkognitivismus als etwas dem früheren, engagierteren Carnap im Grunde Wesensfremdes, und erst relativ spät – Ende der zwanziger Jahre – einer ganz andersartigen philosophischen Basis aufgestülpt.

Es gibt aber auch andere Meinungen. Alan Richardson (2007) argumentiert zum Beispiel, dass die Ursprünge von Carnaps Nonkognitivismus in Kants Unterscheidung zwischen dem Praktischen und dem Theoretischen liegen. Richardson stützt sich allerdings hauptsächlich auf einen kurzen Aufsatz Carnap (1934), der nach der von Mormann diagnostizierten Wende in Carnaps Denken entstand. Es bleibt die Frage offen, ob Carnap schon vor dieser Wende ähnlich gedacht haben könnte. Im vorliegenden Band wird ein offener Brief Carnaps aus dem Jahre 1916 veröffentlicht, der Richardsons These wunderbar belegt.Footnote 3 Es handelt sich um einen offenen Brief gegen einen gewissen Berliner Pastor Eduard Le Seur, der in einem Artikel behauptet hatte, dass die moderne Kultur zu schwach gewesen sei, um die Katastrophe des Krieges zu verhindern. Aus diesem Grund sollten wir sie nun beiseitelassen zugunsten einer Erneuerung des traditionellen christlichen Glaubens. Unter anderem hatte Le Seur hervorgehoben, dass nur das Christentum imstande sei, einen Ausweg zu finden aus dem drohenden Determinismus der Naturwissenschaften. Dazu Carnap:

Zu ihm [d. h. zu Jesus], so glauben Sie, muß uns das erschreckende Bewußtsein des Determinismus hinführen. „Die Erkenntnis dieser unbedingten Unfreiheit führt zur Verzweiflung... In diese gebundene Menschheit hinein stellt Gott den Christus Jesus.“ Aber ich stehe nur als natürliches Wesen in dem Kausalnexus. Als ethisches Wesen bin ich selbst dagegen frei entscheidendes Subjekt meiner Handlungen. „Jesus bahnt der Freiheit derer, die ihm folgen, eine Gasse.“ Also auch Sie sind jetzt frei und selbst entscheidendes Subjekt, wenn auch nach Ihrem Glauben durch die Hilfe eines andern Wesens. (ASP RC 089-74-01, 17 f.)

Kants Ethik, mit seiner Unterscheidung zwischen Praktischem und Theoretischem, ist offenbar also schon präsent in diesem frühen Dokument, was Richardsons These ziemlich eindeutig zu belegen scheint. Ich will es aber nicht einfach dabei belassen, sondern werde ein anderes, noch früheres Dokument heranziehen, das die Frage wieder kompliziert oder zumindest ein ganz anderes Licht auf sie wirft. Es handelt sich um einen Vortrag über „Religion und Kirche“, den Carnap 1911 in Freiburg vor der neugegründeten Freischar hielt. Dieses Dokument, das auch im vorliegenden Band abgedruckt ist, möchte ich hier zunächst kommentieren, da es den meisten Lesern unbekannt sein dürfte.Footnote 4 Danach werde ich erstens seinen Inhalt besprechen und mit dem Nonkognitivismus in Zusammenhang bringen, zweitens dem Hintergrund dieses Vortrags nachspüren, und ihn drittens mit dem Brief an Le Seur vergleichen. Zum Schluss komme ich auf die gegenwärtige Diskussion über Carnaps Nonkognitivismus zurück, und mache einen ersten Versuch, die frühen Zeugnisse von 1911 und 1916 in den größeren Zusammenhang der Entwicklung Carnaps bis zu seinen philosophischen Anfängen in den frühen zwanziger Jahren einzureihen.

1 „Religion und Kirche“ (1911)

Das Dokument mit diesem Titel besteht aus Notizen, in Kurzschrift, für einen Vortrag vor der Freischar in Freiburg, an deren Gründung Carnap offenbar mitgewirkt hatte.Footnote 5 Im Gegensatz zu seinen späteren Vorlagen zu Vorträgen sind diese Notizen zum größten Teil in fertigen Sätzen ausformuliert – allerdings häufig korrigiert und ergänzt mit zusätzlichen, später nachgetragenen Notizen. Das Resultat ist nicht ohne Weiteres eindeutig und in jedem Detail zu rekonstruieren, obwohl die Hauptgedanken klar auszumachen sind. Es fehlt auch ein wichtiger Bestandteil des Manuskripts. Carnap argumentierte hier nämlich historisch (sehr entgegen seiner späteren Praxis!) mit vielen Beispielen, und jedes historische Beispiel wurde durch ein offenbar recht langes Zitat untermauert. Diese Zitate sind leider nicht mit dem Vortrag selbst aufbewahrt worden und daher nicht erhalten.

Es ging Carnap in diesem Vortrag vor allem darum, jede Form von Religion oder Gesinnung, einschließlich der verschiedenen Formen der Ethik, in zwei Komponenten zu zerlegen, die fast immer in Verbindung auftreten, aber logisch gesehen ganz andere Funktionen haben und deshalb streng unterschieden werden müssen. Es ging Carnap darum, diese Hauptunterscheidung klarzumachen und mit vielen historischen Beispielen zu veranschaulichen. Carnap beginnt mit der Aufstellung von drei Hauptbestandteilen der Religion als empirischem Phänomen, er möchte also nicht das „Wesen“ der Religion definieren. Die Hauptbestandteile sind: 1. der Kultus, oder Handlungen, um eine Gesinnung gegenüber dem Höheren auszudrücken, 2. die Ethik, oder die Gesinnung gegenüber anderen Menschen und der Gesellschaft, die aus der Gesinnung gegenüber dem Höheren resultiert, und 3. die Lehrsätze, die eine Gesinnung in Worte fassen sollen.

Carnap nimmt eine entschieden skeptische Haltung diesen Lehrsätzen gegenüber ein: „die Religion besteht nicht nur nicht in den Lehrsätzen, – was jeder zugeben wird, – sondern sie kann durch sie weder unterstützt noch gestürzt werden, da sie von ihnen überhaupt nicht berührt wird“ (ASP RC 081-47-05, 5). Man könnte aber entgegnen, sagt Carnap, dass „jede Religion doch mit Hülfe des Wortes von Mensch zu Mensch weitergegeben wird“ (ebd.). Dazu muss man aber, sagt er weiter, unterscheiden zwischen zwei Arten von Lehrsätzen und kommt damit zu seiner Hauptunterscheidung, die den ganzen übrigen Vortrag in Anspruch nimmt:

Unter den Sätzen, die allerdings zu diesem Zwecke gesprochen werden müssen, möchte ich deshalb unterscheiden zwischen denen, die sich auf verstandesmäßig erfaßbare Dinge beziehen, und denen, die ethische Forderungen oder die subjektive Auffassung des Weltganzen und des Menschenlebens zum Ausdruck bringen. Die erstere Art von Behauptungen, nämlich die über ihrer Natur nach objektive, wenn auch vielleicht noch nicht erkannte oder unerkennbare Thesen, will ich „Wissenssätze“ nennen. Alle nur möglichen menschlichen Wissenssätze bilden in ihrer Gesamtheit das „Weltbild“. Ihnen gegenüber stehen die Sätze über unsere Stellung zu einem Weltbild, die also beispielsweise unseren Pessimismus oder Idealismus oder Realismus zum Ausdruck bringen; sie lassen sich weder rein verstandesmäßig beweisen, noch widerlegen, also nicht diskutieren. Ich will sie „Glaubenssätze“ nennen. (ASP RC 081-47-05)

Der darauffolgende historische Exkurs soll anhand von zahlreichen Beispielen zeigen, dass keine „Religion“ in Carnaps Sinn (wozu unter anderem auch die Weisheitslehren der antiken philosophischen Schulen gehörten) je von „Wissenssätzen“ abhing, oder von ihren Gründern und Stiftern als abhängig betrachtet wurde.

Es ging Carnap in diesem Vortrag also vor allem darum, jede Form von Religion oder Gesinnung, einschließlich der Ethik, so radikal wie möglich von jedem propositional-deskriptiven Wissen abzutrennen: „die Religion besteht nicht nur nicht in den Lehrsätzen, […] sondern sie kann durch sie weder unterstützt noch gestürzt werden, da sie von ihnen überhaupt nicht berührt wird.“ Um das in seiner vollen Tragweite zu verstehen, muss man Carnaps sehr weiten Begriff von „Religion“ berücksichtigen:

Ich fasse hier Religion weiter, als es gewöhnlich geschieht. Ich sehe sie als etwas allgemein menschliches an, was weder von dem Glauben an einen Gott, – wie ich ja bisher überhaupt noch nicht von irgendeinem Glauben in diesem Sinne gesprochen habe, – noch etwa an ein bestimmtes Ideal abhängig wäre. So ist nach meiner Auffassung z. B. auch der Patriotismus Religion und seine Betätigung Religionsausübung, nämlich für den Menschen, dem das Vaterland auf der höchsten Stufe seiner Wertung steht. Was für den Menschen auf dieser Stufe steht, ist für die Frage, ob sein Verhältnis dazu Religion ist oder nicht, prinzipiell gleichgültig, wenn wir auch zuweilen an anderen Menschen eine solche Religion höher als eine andere werten. Während dem einen auf der Stufe des Höchsten ein persönlicher Gott steht, oder das Weltganze als Organismus im pantheistischen Sinne, stellt z.B. ein anderer dorthin die Kunst im allgemeinen, oder eine bestimmte Kunst, oder die Wissenschaft; wieder andere Familie, Vaterland, Rasse, Menschheit. (ASP RC 081-47-05, 3f.)

Was er später deskriptive oder „kognitive“ Erkenntnis nennen würde, konnte also nicht aus Sätzen abgeleitet werden, die das bezeichnen, was auf der höchsten Stufe der Werteskala eines Menschen steht; und umgekehrt konnte ein solcher Wertsatz nicht aus kognitiver Erkenntnis abgeleitet werden. Dies ist genau, was Carnap fünfundvierzig Jahre später als „Nonkognitivismus“ definierte. Schon beim zwanzigjährigen Carnap wird diese These nicht etwa nebenbei oder implizit, sondern ganz bewusst und entschieden vertreten, als Hauptanliegen seines Vortrags. Offenbar hat ihn dieses Thema in seinen jungen Jahren sehr beschäftigt, und er hat viel darüber nachgedacht. Das lässt sich auch aus anderen Quellen belegen.

2 Der Hintergrund zu „Religion und Kirche“

Carnaps Beschäftigung mit der Frage der höchsten Werte und wie sie zu begründen und nicht zu begründen sind, ist kaum erstaunlich, denn der Nonkognitivismus war ihm sozusagen in die Wiege gelegt. In der ursprünglichen Fassung seiner Autobiographie beschreibt er nicht nur die utopischen religiösen Vorstellungen seiner Vorfahren, sondern bringt sogar die eigene Neigung, neue Ideen und Werte prophetisch zu verkünden, direkt mit diesem religiösen Familienhintergrund in Verbindung:

The vivid interest which these people took in their religion and their way of life could sometimes not be satisfied by merely accepting the Lutheran doctrine. The Reformed Church, which was strongly influenced by Calvinist ideas, had many adherents. About the year 1742 some members of this church, among them two ancestors of my father, found the worldly life in the great city of Elberfeld too sinful and intolerable. Eventually a group comprising about fifty families emigrated to the other side of the mountain and founded the town of Ronsdorf, which they called their “Zion,” devoted to a new and better life[.] I believe there is still a trace [of this impulse] in me, derived from the strivings of these people for the realisation of a visionary aim, and from their missionary spirit. (UCLA Box 2, CM3, folder M-A5, A6-7)

In scheinbarem Gegensatz zu solcher schwärmerisch-fanatischen Religiosität der Vorfahren hebt Carnap bei der Beschreibung seines Elternhauses besonders hervor, dass die Religiosität seiner Eltern sich fast ausschließlich auf die ethische Praxis bezog und nicht auf die Doktrin. Das Wichtige an der Religion „was not so much the acceptance of a creed, but the living of a good life‟ (Carnap, 1963, 3). Carnap veranschaulicht diese Einstellung durch das Beispiel der Beschäftigung seiner Mutter, Anna Carnap, mit den pantheistischen Werken des Begründers der Psychophysik, Gustav Theodor Fechner: „My mother liked to read at that time his little-known religious-philosophical works; it was characteristic for her attitude toward religious questions that she did not find any difficulty in reconciling Fechner’s pantheism (or panentheism) with her own Lutheran-Protestant faith‟ (UCLA Box 2, CM3, folder M-A5, B20). Carnap führt die unverkrampfte Leichtigkeit seiner Loslösung von der Religion in seinen Jugendjahren auf gerade diese Unterordnung der Doktrin zurück:

I relinquished my religious beliefs by a gradual development, a continual transformation[.] It was not, as I had often seen it with others, a matter of a sudden and violent rebellion with vehement emotional upheavals, where love is transformed into hatred and reverence into contempt and derision. I think that this is chiefly due to the influence of my mother’s attitude. Since childhood I had learned from her not to regard changes of convictions as moral problems, and to regard the doctrinal side of religion as much less important than the ethical side. (UCLA Box 2, CM3, folder M-A5, B23)

Anna Carnap interessierte sich nicht nur für Fechner, sondern auch für viele andere weniger orthodoxe religiöse Schriftsteller, darunter auch vor allem Heinrich Lhotzky und Johannes Müller, die Verfasser der seit 1897 erscheinenden Blätter zur Pflege persönlichen Lebens. Müller hatte Anna Carnap vermutlich zuerst persönlich in seinen Vorträgen erlebt, denn Wuppertal war einer der ersten Orte außerhalb Berlins, wo Müllers Wirken ab 1898 großen Zuspruch und hohe Besucherzahlen fand.Footnote 6 Es war auch eine Wuppertaler Unternehmensfamilie aus dem „Mittelpunkt von Johannes Müllers Hörerkreis in Wuppertal“, dem Anna Carnap offenbar angehörte, die dann Müllers und Lhotzkys „Erholungsheim für Erwachsene“ (Haury, 2005, 79) auf Schloss Mainberg in Franken finanzierte, das 1903 in Betrieb genommen wurde und bald Heilsuchende aus vornehmen Kreisen in ganz Deutschland und darüber hinaus anzog. Wann Anna Carnap zum ersten Mal nach Mainberg kam, wissen wir nicht genau, aber der Ort taucht in der frühen Korrespondenz zwischen Rudolf und Anna Carnap oft auf. Das gilt auch für die Blätter und deren Themen. Carnap selbst hatte im Oktober 1911 einige Zeit in Mainberg verbracht, und, wie er vier Monate später seiner schwedischen Freundin Tilly Neovius berichtet, die er offenbar dort kennengelernt hatte, war der Eindruck ein sehr starker gewesen:

Aber nach Mainberg muß ich doch noch mal in diesem Jahr. – Den Gedanken werde ich nicht los. Seit ich es verlassen habe, übt es eine solche Anziehungskraft auf mich aus. Als ich da war, hast Du davon wohl nichts gemerkt; denn ich glaube, damals habe ich es selbst nicht so gemerkt. Aber jetzt denk’ ich immer: Wann kann ich wohl mal wieder hin? (ASP 025-71-01, 13)

Im idyllischen Mainberg wurde nicht nur jeden Abend ausgelassen getanzt (was Carnap von seiner Sera-Erfahrung in Jena bestimmt sehr zusagte), sondern Johannes Müller kümmerte sich auch in persönlichen Einzelgesprächen um jeden Gast.Footnote 7 Der Freischar-Vortrag von 1911 war direkt unter dem starken Eindruck dieses Mainberg-Erlebnisses verfasst worden.

Worin lag nun der spezifische Einfluss Müllers, der bei Carnap in dieser Zeit eine Rolle spielen konnte? Um das zu verstehen, muss man Müllers Standpunkt im Zusammenhang des gesamten Spektrums religiös-spiritueller Angebote um die Jahrhundertwende einordnen. Vom heutigen Blickwinkel scheint ihn inhaltlich nämlich kaum etwas herauszuheben aus den vielen ähnlichen Heilsverkündern seiner Zeit, wie etwa die Erweckungsbewegung innerhalb des Protestantismus selbst,Footnote 8 die vielen „back to nature“ Strömungen auch innerhalb der Jugendbewegung,Footnote 9 der Monismus,Footnote 10 oder die Kulte um gewisse geistige Führungspersönlichkeiten wie etwa Stefan George, Rudolf Steiner, Ludwig Klages, oder C.G. Jung.Footnote 11 Carnaps Umfeld in Jena ist ein paradigmatisches Beispiel des Synkretismus unter diesen geistig-religiösen Strömungen; der Serakreis um den Verleger Eugen Diederichs, in dem Carnap so begeistert mitwirkte, in den Jahren 1908 bis 1914, war dem geistigen Inhalt nach ein typisches Produkt seiner Zeit, wie Meike Werner in ihrem Buch darüber so schön zeigt – auch was die Einstellung zur Religion betrifft.Footnote 12 Welche Rolle blieb also bei Carnap für Johannes Müller?

Diese Frage ist auch deshalb von Interesse, weil Diederichs selbst zu Müller auf Distanz ging und trotz mehrfacher Kontakte (Diederichs kam mehrmals nach Mainberg) Müller offenbar nicht zu den „modernen Geistern“ zählte, die er in seinem Verlag versammeln wollte – zu Müllers großer Enttäuschung.Footnote 13 Den vielen Intellektuellen, die das Christentum entschlossen hinter sich lassen und eine „neue Religion“ ansteuern wollten, fehlte bei Müller eben die Radikalität, die sie in den Monisten etwa oder in Nietzsches Schriften oder vielleicht auch in der Arbeiterbewegung bewunderten.Footnote 14

Gerade darin lag das Besondere an Müllers Standpunkt, dass er im Spektrum der (frei)religiösen Strömungen sozusagen einen Mittelweg darstellte, zwischen der radikalen Ablehnung des Christentums einerseits und der innerkirchlichen Erweckungsbewegung andererseits. Geistig konnte er zwar nicht innerhalb des kirchlich-lutherischen Protestantismus bleiben, dafür hatte er sich zu sehr von den kirchlichen Lehren distanziert. Er verneinte zum Beispiel die Erbsünde und spielte alles Übernatürliche im neuen Testament dermaßen herunter, dass Jesus fast nur noch als ethische Persönlichkeit erschien. Gott war für Müller vorwiegend in seinen natürlichen Erscheinungsformen zu begreifen, wobei die Natur allerdings vitalistisch verstanden wurde.Footnote 15 Jedenfalls war das alles ziemlich weit von einem kirchlich akzeptablen Luthertum entfernt. Aber andererseits war Müller innerhalb des Luthertums aufgewachsen, und verstand sich noch als Christ, im Sinne der „modernen Theologie“ von Ritschl und Harnack unter Einbeziehung mancher neuerer Entwicklungen in den Naturwissenschaften und der Gesellschaft.Footnote 16 Dabei sah er letztere, im Unterschied zu anderen Neuerern, eben nicht als Hindernis an, eine lebendige protestantische Tradition weiterzuführen. Und gerade das machte ihn für gebildete Menschen, die im Luthertum aufgewachsen waren und sich in ihm wohlfühlten, aber auch die Widersprüche zwischen ihm und der neueren Wissenschaft nicht verkannten, unter Umständen zu einem attraktiven Vermittler. Darin bestand wohl auch seine Anziehungskraft auf die neupietistisch und bildungsbürgerlich geprägte Anna Carnap, und das hat sie an ihren Sohn in seiner Jugend vor dem Kriegsausbruch weitergegeben.

In seiner prekären Vermittlungsposition war es für Müller aber auch notwendig, bei aller Zustimmung zur Botschaft des Neuen Testaments, sich von jeder Doktrin und jeglicher Bekenntnisformel so fern zu halten wie nur möglich. Tatsächlich verwarf er alle Theologie als „Bewusstseinskultur“ – das heißt als künstliche und schädliche Intellektualisierung von inneren Erfahrungen oder gefühlten Einsichten, die nur aus der Intuition der einzelnen Persönlichkeit und ihrer Entwicklung kommen können.Footnote 17 In seinem Vortrag von 1911 systematisiert und verallgemeinert Carnap nur, was er bei Müller gelesen und auf Mainberg gehört hatte; der radikalen Trennung von „Glaubenssätzen“ und „Wissenssätzen“ hätte Müller völlig zugestimmt. Der Nonkognitivismus kommt bei Carnap also gar nicht von weit her, sondern war vor seinem Erziehungshintergrund fast unvermeidlich.

3 Carnaps Nonkognitivismus nach 1911

Nun ging Carnaps geistige Entwicklung nach 1911 aber weiter, und vor allem durch die Umwälzungen des Kriegs und der Revolution war er einem zwischen Christentum und Freidenkertum vermittelnden Johannes Müller schnell entwachsen.Footnote 18 Schon im nächsten längeren, zusammenhängenden Dokument seiner Weltanschauung, dem oben schon erwähnten offenen Brief an Pastor Le Seur von 1916, lehnt er nicht mehr nur die christlichen „Wissenssätze“ ab, sondern nun auch die entsprechenden „Glaubenssätze“:

Der Ausdruck „Sündenerkenntnis“ stammt aus einer Begriffswelt, die mir fremd geworden ist. Sie war es nicht immer; als Kind habe ich mich mit Schuldbewußtsein und Suchen nach Vergebung bei Menschen und Gott viel geplagt. Gut sind diese Erlebnisse aber nur zum Wachhalten des Gewissens, im Übrigen unfruchtbar. In dieselbe unfruchtbare Begriffswelt gehören mir: Sündenknechtschaft, Gnade, Vergebung, Erlösung. Die Realitäten, die hier zugrunde liegen, leugne ich keineswegs. Ich sehe meine Fehler und weiß, daß ich noch mehr habe, als ich sehe. Ich erkenne, daß meine Fähigkeiten beschränkt, die Aufgabe aber unbeschränkt ist. (ASP RC 089-74-01, 13f.)

Auch was die Person Jesu betrifft, kann Carnap in ihm nicht mehr – wie es damals Johannes Müller tat – ein großes Beispiel erkennen:

Das kann er für mich nicht sein. Dazu sind seine ganzen Lebensumstände allzu verschieden von den unsrigen. Der Kreis, in dem er lebt, die Art, wie er sein Leben einrichtet, wie er mit den Menschen verkehrt, seine Ansichten über Familie, Staat, Berufsleben, geistiges Leben des Volkes, beinahe jede einzelne seiner Handlungen, zumal die in den Berichten besonders hervorgehobenen, sind unserm Leben und unsern Zielen so völlig fremd, daß, wenn ich mir überhaupt als „Bild, das vor mir steht“, einen bestimmten Menschen suchen wollte, ich ihn hierfür auf keinen Fall wählen könnte. (ASP RC 089-74-01, 18f.)

Und statt der christlichen Fügung in die göttliche Gnade – die auch bei Johannes Müller trotz seiner versuchten Modernisierung des Christentums im Vordergrund steht – beginnt sich in dem Brief Carnaps an Le Seur sein späterer Voluntarismus deutlich herauszukristallisieren.Footnote 19 „Fordert von dem Menschen unsrer Zeit nicht Sündenerkenntnis und Einsicht seiner Erlösungsbedürftigkeit, sondern packt ihn gerade von der entgegengesetzten, positiven Seite: Stärkt ihm das Selbstvertrauen“, legt Carnap Le Seur nahe. „Lehrt ihn auf der einen Seite die Demut bei der Wertung seiner Person im Vergleich zu der übergeordneten Idee, deren Diener er ist“, aber „[a]uf der andern Seite lehrt ihn den Stolz, der keine Gnade annimmt“ (ASP RC 089-74-01, 21). Denn:

Kommt der Mensch auf einem Abwege plötzlich mit Schrecken zur Selbstbesinnung und quält sich mit der Last seiner Schuld, so ruft ihm nicht zu: siehst du nun deine gräßliche Sünde? Jetzt bist du reif für unser Evangelium. Sondern sagt ihm, daß er nicht nur das Recht hat, sich selbst von seiner Vergangenheit Absolution zu erteilen, sondern sogar die Pflicht, alle quälenden Gedanken an sein verkehrtes Leben von sich zu weisen, um mit allen Kräften an seine Gegenwartsaufgabe zu gehen. Sprecht ihm nicht von einem Erlöser; sagt ihm nicht, daß einst ein Mensch für ihn gestorben sei. Wollt ihr ihm ein Vorbild geben, so zeigt ihm Männer seines Volkes, aus unsern Jahrhunderten. Denen fühlt er sich verwandt, in deren Erlebnisse kann er sich hineinversetzen. In deren Arbeit, die er versteht, weil sie Beziehungen zu seiner eignen Arbeit hat, spürt er das Übergeordnete, dem sich auch die größten Männer als Diener unterstellten. So kann er auch zur Klarheit über seine eigene Aufgabe kommen und zu dem Willen, ihr zu dienen. (ASP RC 089-74-01, 21f.)

Der seit Carnaps früher Jugend eingeimpfte Nonkognitivismus blieb aber trotz dieser Ablehnung der inhaltlichen Botschaft eines Johannes Müllers komplett intakt. Wenn Carnap zum Beispiel Le Seurs religiösen Weg schroff ablehnt, und sogar meint, er sei gar kein Weg, sondern nur „die Art, wie Sie und die Menschen Ihres Glaubens das innere Suchen nach einer Antwort auf jene Frage zur Ruhe gebracht haben“, fügt er hinzu, „[t]heoretisch läßt sich hierüber ja nichts sagen“ (Quelle, Seite). Es handelt sich schließlich, wie er sich 1911 ausgedrückt hatte, um „Glaubenssätze“, nicht um „Wissenssätze“ – es handelt sich um Gesinnung, nicht um Wissenschaft. Das heißt aber natürlich nicht, dass man Gesinnungen nicht rational diskutieren kann. Nach dem eben zitierten Satz, „Theoretisch läßt sich hierüber ja nichts sagen“, geht der Text des offenen Briefes nämlich mit der folgenden Argumentation weiter:

Aber es genügt, wenn die Allgemeingültigkeit des Weges dadurch hinfällig wird, daß er für mich nicht gangbar ist; selbst wenn es nicht all die anderen Menschen, die so sind wie ich, noch gäbe. Ja, werden Sie denken, das ist das „Eisengitter“. Doch wir stehen uns nicht in so entgegengesetzten Richtungen gegenüber, wie Sie vielleicht erwarten. Ich will einmal möglich[st] nahe zu Ihrem Standpunkt herantreten. Dann gerade wird sich am deutlichsten die unüberwindbare Kluft zeigen, die dann noch zwischen uns bestehen bleibt. (ASP RC 089-74-01,, 12f.)

Das ist natürlich ein wenig paradox ausgedrückt: erstens kann man theoretisch hierzu nichts sagen, zweitens lässt sich doch noch etwas Theoretisches sagen, nämlich dass ein einziges Gegenbeispiel die Allgemeinheit des optativen Satzes von Le Seur hinfällig macht. Drittens aber bedeutet dies kein „Eisengitter“, also kein unüberwindliches Hindernis, wie diese Anspielung auf Le Seurs Text wohl zu interpretieren ist, weil wir unsere unterschiedlichen Standpunkte artikulieren und genau bestimmen können, worin sie sich unterscheiden.

Das heißt aber nicht, dass die strikte Trennung von „Glaubenssätzen“ und „Wissenssätzen“ nun aufgehoben wäre. Zwar kann rein auf der Ebene der Theorie selbst, also rein verstandesmäßig, nichts gesagt werden. Aber trotzdem kann man Argumente vorbringen für und gegen Glaubenssätze, Argumente der praktischen Vernunft, könnte man vielleicht sagen. Oder etwa auch – wie sich Carnap fast ein halbes Jahrhundert später, in einem Fragment von 1958 ausdrückte – „purely valuational criteria by which to judge a value function as more or less rational than another“ (Carnap, 2017, 193).

Wie ging es mit diesem Nonkognitivismus nach 1916 weiter? Hier gehen die Meinungen auseinander. Thomas Mormann glaubt, im kurzen § 152 des Aufbau einen Rickertʼschen Wertekognitivismus zu erblicken.Footnote 20 Ich dagegen habe an anderer Stelle Argumente für eine ziemlich bruchlose Kontinuität dieses Nonkognitivismus vom jungen Carnap zum alten, also von 1911 bis 1963, zusammengestellt.Footnote 21 Im Zusammenhang der Vorkriegs- und Kriegsjahre vor 1918 ist jedenfalls festzuhalten, dass Carnaps anfangs religiös motivierter Nonkognitivismus seine erste große Hürde überstand; er blieb trotz des Verlusts seines vorherigen religiösen Unterbaus gänzlich intakt.

4 Carnap, Kant und Religion (und Goethe)

Nun kommen wir zurück zur Frage über die Entstehung des Nonkognitivismus bei Carnap. Zunächst muss festgestellt werden, dass im Freischar-Vortrag von 1911 Kant überhaupt keine Rolle spielt. Rickert wird zwar erwähnt, aber nur beiläufig. Carnaps Nonkognitivismus scheint in seinen Ursprüngen also, wie bereits in Teil 2 dargelegt, direkt aus seinem Elternhaus erklärbar, unter dem zusätzlichen Einfluss von Johannes Müller (sowohl aus seinen Schriften als auch persönlich in Mainberg). Im Le Seur-Brief ist es, wie in Teil 3 ausgeführt, genau umgekehrt. Hier ist die ursprünglich religiöse Motivation unsichtbar – aus diesem Brief allein wäre sie nicht zu erraten gewesen – und Kant wird wie selbstverständlich herangezogen. Obwohl Richardsons These über den Ursprung von Carnaps Nonkognitivismus also nicht aufrechtzuerhalten ist, könnte es gut sein, dass der Kantischen Unterscheidung von Praktischem und Theoretischem doch eine wichtige Rolle zukommt in der Erhaltung des Nonkognitivismus, nachdem die ursprüngliche religiöse Motivation weggefallen war. In gewisser Hinsicht wäre das sogar noch interessanter. Kants Philosophie wäre dann nämlich nicht einfach etwas, das Carnap mit der Muttermilch einsog, sondern etwas, das er sich bewusst aneignete und in eine schon bestehende Geistesordnung neu integrierte.

Carnap war den Werken Kants sicherlich schon in Jena begegnet. Aber seine Schilderung der Vorlesungen Rickerts in Freiburg im Wintersemester 1911/1912 klingt sehr danach, als würde er nun zum ersten Mal richtig begreifen, worum es bei Kant eigentlich geht. An Tilly Neovius schreibt er im Januar 1912:

Und dann die Philosophie. (Jetzt darfst Du nicht aufhören zu lesen; Du mußt aufpassen! Du weißt ja, zur Strafe.) Da spricht Rickert, einer unserer bedeutendsten jetzigen Philosophen in Deutschland, über die Philosophie von Kant bis Nietzsche (also etwa das 19. Jahrhundert). Als er über Kant gesprochen hat, das war ganz großartig. Ich glaube nicht, daß irgendein anderer einem das so klar machen könnte. Er nahm nicht etwa den Kant her und kommentierte dann ein Buch nach dem anderen. Sondern umgekehrt: Er ging von den Problemen aus, machte uns die zuerst vollständig klar, und dann brachte er Kants Lösung, und zwar möglichst unabhängig von der für uns schwer verständlichen Terminologie Kants. So konnten wir verstehen, was es denn eigentlich überhaupt für einen Wert gehabt hat, daß da einmal vor 100 Jahren in Königsberg ein Mensch gesessen hat und sein Leben lang über Fragen nachgedacht und gearbeitet hat, deren Sinn und Wichtigkeit einem vorher wenig einleuchten will. (ASP 025-71-01, 6)

Was ihm aber damals beim Schreiben dieses Briefs imponiert, ist nicht die Erkenntnistheorie oder auch die Ethik Kants, sondern Kants von Rickert dargestellte Verwandtschaft mit – Goethe! Beide, so Rickert, unterstützten sich gegenseitig in ihrer Ablehnung der „gekünstelten Verstandeskultur“ der Aufklärung zugunsten einer „ursprünglichen, echten Natürlichkeit“ (ASP 025-71-01, 6). Fast könnte man meinen, Mormanns These betreffend Carnaps Zustimmung zu einer Rickertʼschen Wertetheorie müsse doch irgendwo eine gewisse Berechtigung haben, wie die Weiterführung des obigen Zitats noch deutlicher nahelegt:

Und trotzdem hätte ich Dich damals nicht in die Vorlesung geschleift, wenn Du hier gewesen wärest; wohl aber jetzt in die letzte Stunde, wo er über Goethe gesprochen hat. Nicht über den Dichter Goethe. Über den hast Du schon genug gehört. Sondern über den Philosophen. Und doch hätte Dich’s interessiert! An der Hand des „Urfaust“ (der ältesten Fassung der Tragödie) stellte er Goethe in der „Sturm und Drang“-Periode dar. Wie der Renaissancemensch Faust sich gegen die Scholastik aufbäumt, so Goethe gegen die Strömungen der „Aufklärung“ (die Du wohl durch Deine Französisch-Studien besser kennst als ich), ebenso wie Kant, nur auf anderen Wegen. Und wie dann Goethe sein Ideal der ursprünglichen, unverfälschten Natur im Gegensatz zu der gekünstelten Aufklärungskultur bei (dem damals verachteten) Shakespeare findet: „Natur, Natur!“ (ruft Goethe,) oder vielmehr Shakespearesche Menschen! Denn woher sollten wir Natur kennen? Wo bei uns alles geziert und geschnürt ist. (ASP 025-71-01, 6-7)

Dann aber wird man mit einer unerwarteten (obwohl für den Vorkriegs-Carnap offenbar durchaus natürlichen) Wendung daran erinnert, dass der Freischar-Vortrag, mit seinem kompromisslosen Nonkognitivismus, gerade in diese Zeit fällt:

Also kurz zweiseitig ausgedrückt: negativ – gegen die Verstandeskultur der Aufklärung; positiv – für ursprüngliche echte Natürlichkeit. Es fehlt nur noch, daß er die Ausdrücke Bewußtseins- und Wissenskultur gebraucht hätte, um deutlich zu zeigen, wie nahe diese Darstellungen denen Johannes Müllers stehen. (ASP 025-71-01, 7)

Es sieht also fast so aus, als wäre Carnaps erster Zugangsweg zu Kant über Johannes Müller – und Goethe – verlaufen. Dies bezog sich übrigens sogar auf Goethes naturwissenschaftliche Auffassungen:

Dann die Stellung Goethes in der Wissenschaft gegenüber der Natur, im Gegensatz zu Kant, dessen Schriften für ihn infolgedessen auch unverdaulich waren, aber doch indirekt durch Schillers Vermittlung auf ihn wirkten. Goethe stand seinem wissenschaftlichen Objekte nie analytisch, sondern immer umfassend-anschauend gegenüber als etwas Konkretem. Daher auch diese Auffassung von der Natur, die er nicht wie Kant als Objekt dem erkennenden Menschen gegenüberstehend ansah, sondern als etwas, das ihn selbst vollständig mit umfaßt. Sie war für ihn eben Schöpferin und Trägerin alles Materiellen und Geistigen zugleich. (ASP 025-71-01, 7)

Das heißt natürlich nicht, dass Carnap zu dieser Zeit der Goetheʼschen Naturauffassung ganz zustimmte. In den Physikvorlesungen, die er zur selben Zeit besuchte, können wir annehmen, dass er die Vorteile der mathematischen Physik in der Tradition Newtons völlig einsah. An verschiedenen Stellen seiner Briefe an Tilly Neovius begeistert er sich zum Beispiel für die theoretische Physik im Gegensatz zur experimentellen. Aber in dieser Zeit, also vor 1914, ersparte ihm Johannes Müllers prekärer Mittelweg die Wahl zwischen diesen Standpunkten – ersparte ihm jedenfalls die Notwendigkeit, sie auf einen Nenner zu bringen und gegeneinander abzuwägen.

Erst später, in den Schützengräben des Kriegs, begann er, diese beiden unvereinbaren Teile seiner damaligen Geisteswelt miteinander zu konfrontieren, als er die ganze Farbenlehre an der Ostfront gründlich durchlas. Dies geschah im Jahre 1916, also ungefähr zur selben Zeit, als er seinen Brief an Le Seur verfasste. Die Dissonanz wurde, wie wir Carnaps damaligen Briefen an Wilhelm Flitner entnehmen können, zugunsten der neuen Physik aufgelöst.Footnote 22 Flitners Anfrage, ob es nicht, wie ein anderer Freund gemeint hatte, eine „erkenntnistheoretische Ungeheuerlichkeit“ von Newton sei, „daß ein mechanischer Vorgang, Aetherwellen, für den erlebenden Menschen realer sein soll, als die Farbe, die er sieht; dasjenige allerrealste, auf das alles andere reduziert werden muß, um begreifbar, erklärbar zu sein“ (ASP/WF 12), beantwortete Carnap verneinend. „Eine solche Reduktion erscheint mir nicht als ‚erkenntnistheoretische Ungeheuerlichkeit‘, da durch sie nicht behauptet wird, daß die ‚mechanischen Phänomene‘ realer seien als die auf sie zurückgeführten nicht-mechanischen“ (ASP/WF 12). Das sei eben ein Goetheʼsches Missverständnis der modernen Physik:

Für die Empfindungsinhalte sind alle physikalischen Qualitäten gleichberechtigt (Gewicht, Ton, Farbe). Da aber die Physik die Aufgabe hat, die Naturvorgänge möglichst einfach zu beschreiben, so ist es zweifellos für sie ein großer Fortschritt, wenn es ihr z. B. gelungen ist, die akustischen Phänomene als reine Bewegungsvorgänge darzustellen (und zwar als körperliche Schwingungen), die erkennbar, meßbar und zählbar sind, und denen, solange wir nicht ihre physiologischen Wirkungen betrachten, keine (das ist das Wichtige!) anderen Qualitäten anhaften, als eben die einer körperlichen Bewegung (Masse, Raumbestimmung, Zeitbestimmung). Eine, gleichgültig auf welche Weise hervorgerufene, longitudinale Luftschwingung mit der Frequenz 435 [Schwingungen pro Sekunde, A.W.C.], andererseits die Schallwelle des Tones „a“ gleichen sich nicht nur, sondern sind identisch. Daß Bewegungsvorgänge und Töne in verschiedene Sinnesgebiete gehören, geht die Physik nichts an. (ASP WF13, Brief an Flitner, 8.7.1916)

Hier scheint Carnap schon zu der Auffassung unterwegs zu sein, die in einem späteren Brief (1921) an Flitner breiter dargestellt wird. Carnap reagiert damit auf das Buch Die religiöse Entscheidung von Friedrich Gogarten, das Flitner ihm mit der Bemerkung geschickt hatte, dass es einer (wohl persönlich besprochenen) Auffassung Carnaps widerspreche, da es nach Flitner ein „Auseinanderklaffen von Kulturgeschehen und Gottgeschehen“ darstelle, vom Blickpunkt „eines von bestimmten Erlebnissen stark gepackten Menschen“ (ASP 081-48-04, 2). Carnap bestreitet aber in seiner Antwort, dass in dem Buch ein neuer „Wirklichkeitsbereich“ nachgewiesen wird. Natürlich könnte Gogarten antworten, Carnap sei einfach blind gegenüber den von ihm beschriebenen Bereichen: „Mein Nicht-Sehen würde ihm also auch keinen Einwand bedeuten, sondern nur zeigen, dass ich (bis jetzt) nicht zu den Auserwählten gehöre“. Wie kann man zwischen diesen Standpunkten vermitteln?

Zunächst ist also nur die relativistische Einstellung möglich: jener gibt zu, mir nicht die andre Wirklichkeit vor Augen stellen zu können, ich muss zugeben, sie nicht bestreiten zu können; so bleibt jeder zunächst in seinem Recht. Aber es muss gewiss im Grunde eine Möglichkeit geben, über eine solche Relativität (die mein Vernunftglaube stets nur als Durchgangsstadium gelten lassen kann), zu einer objektiven, allgemein-bindenden Erkenntnis zu kommen. (ASP 081-48-04, 2)

Carnap gibt eine Parabel. Stellen wir uns vor, die meisten Menschen seien blind, und nur wenige könnten sehen; da gäbe es dieselbe Pattsituation wie zwischen ihm und Gogarten, aber mit Bezug auf die Existenz einer sichtbaren Welt. Die Blinden könnten allerdings ein Kriterium angeben für die Existenz einer solchen Welt. Sie könnten sagen, „wenn ihr mehr wahrnehmt als wir, so müsst ihr auch an Dingen, die in unsere Welt hineinreichen, mehr Zusammenhänge erkennen können als wir, also zuweilen, wo uns etwas zufällig erscheint und überrascht, Notwendigkeit bemerken“. Da der Sehende das kann, kann er auch bestimmte Abläufe innerhalb der gemeinsam wahrgenommenen (gehörten und gefühlten) Welt vorhersagen, die der Blinde nicht vorhersagen kann; „so muss er die seltsame Wahrnehmungskraft des Sehenden anerkennen“ (ASP 081-48-04, 3, 3).

Ein ähnliches Kriterium kann in anderen Fällen angewandt werden, wo es nicht um unmittelbare Sinnesempfindungen geht, sondern um das ganzheitliche Verstehen kultureller Gegenstände oder Abläufe. Hierzu gibt Carnap eine zweite Parabel. Man stelle sich einen gänzlich unmusikalischen Menschen U vor, dem ein musikalischer Mensch M nicht vermitteln kann, worin eine Melodie besteht, außer einer Zeitreihe von Geräuschen verschiedener Frequenz, oder worin eine Harmonie besteht, außer mehreren gleichzeitig produzierten Geräuschen verschiedener Frequenz. Beim gemeinsamen Anhören einzelner Töne bestände kein Unterschied zwischen den Urteilen von U und M:

Aber sobald sich nun beide der Betrachtung der Gesamtgeschichte zuwenden, wird deutlich, dass M Zusammenhänge bemerken kann, wo U keine sieht. Wird ihnen etwa ein Tonwerk vorgelegt, so ist M imstande, nach dem von ihm bemerkten musikalischen Charakter Zeit und Kulturkreis anzugeben. Dies ist also ein Zusammenhang, den U nachprüfen kann. Nicht als ob nun für M und für uns der Zweck musikalischer Betätigung in dieser historischen Analyse liegen solle. Gewiss nicht. Aber das Wesentliche ist mir, dass M auch imstande ist, Zusammenhänge zwischen Dingen in der Welt des U zu knüpfen, die für diesen unverbunden nebeneinander stehen. (ASP 081-48-04, 4)

Dasselbe würde er von Gogarten fordern, sagt Carnap – zeige mir, was Du sehen oder vorhersagen kannst in der Untermenge Deiner Welt, die uns beiden zugänglich ist, die ich aber ohne Deine spezielle Sicht nicht begreifen oder vorhersehen kann: „Es ist für mich eine Art Postulat oder Glaubenssache, dass alles, was in irgend einem Sinne wirklich genannt werden soll, im Grunde in einem festen Zusammenhang mit meiner (einzigen) Wirklichkeit stehen muss“. Und außerdem: „Ich glaube nicht an die Wirklichkeit eines Geschehens, das nicht in der Geschichte nach oben und unten in Fäden hinge (damit ist noch nicht die Kausalität in der Geschichte behauptet, an die ich allerdings auch glaube)“ (ASP 081-48-04, 4).

Als Carnap diese Zeilen schrieb, hatte er gerade seine Dissertation fertiggeschrieben. Was er in diesem Brief an Flitner formuliert deutet also seinen philosophischen Ausgangspunkt an und umreißt auch die allgemeine geistige Haltung, aus der Carnaps politische „Erweckung“ des Jahres 1918 hervorging.Footnote 23 Was diesen Ausgangspunkt vor allem charakterisiert ist die Einheitsüberzeugung oder vielleicht besser der Einheitswille. Alles soll in ein einziges System kommen, wo alles mit allem gegenseitige Bezüge aufweisen kann. (Hieraus entstand offenbar auch der Impuls zum Aufbau eines „Systems aller Begriffe“, das schon im folgenden Jahr entworfen wurde.) Die treibende Motivation zu einem solchen einheitlichen System stellt sich als eine aufklärerische heraus, wie 1918 aus dem Artikel „Deutschlands Niederlage“ hervorgeht. Das rationale Zusammenwirken aller Kräfte in einer Gesellschaft erfordert, nach Carnap, ein System der menschlichen Erkenntnis, um eine „Gemeinschaftsgestalt“ zu begründen, die imstande ist, die bunte Vielfalt des menschlichen Treibens „der chaotischen Willkür zu entziehen und der zielbewussten Vernunft zu unterwerfen“ (ASP 089-72-04, 18).Footnote 24 In ganz ähnlichem Sinne wird der Aufbau Ende der zwanziger Jahre noch motiviert, in Carnaps Vortrag „Von Gott und Seele“ (1929).

Ein weiteres Zeugnis des aufklärerischen Grundmotivs dieser Zeit nach 1918, wo Carnap sogar Kants Metapher der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ aufgreift und weiterführt, sind die Notizen, die er sich für seine Ansprache bei der Hochzeitsfeier seiner Schwägerin Grete Schöndube am 17.9.1925 gemacht hatte. Hier spricht er neben Persönlichem die Notwendigkeit an, bei solchen Anlässen auch an die größeren Zusammenhänge zu denken, vor allem weil das für die Menschen jetzt schwieriger geworden sei: „Die Generationen vor uns hatten Tradition darin, sich bei solchen Gelegenheiten an Überpersönliches zu erinnern, nämlich in der Religion. Wir haben verlernt, von einem Gott zu sprechen, uns liegt der Sinn des Lebens nicht mehr in einem Jenseits; so sind wir in Gefahr, ihn überhaupt nicht zu finden“ (ASP 021-74-05, 1). Das mache es viel schwerer, uns auf das Überpersönliche zu besinnen, denn wir könnten nie solche ganz bestimmten Vorstellungen haben wie unsere Vorfahren, sondern seien permanent am Suchen. Wir seien ein wenig wie Kinder, die selbst keine Perspektive haben auf die größeren Zusammenhänge, in die sie hineinwachsen. Nur gäbe es leider keine Erwachsenen, die uns diese Zusammenhänge erklären könnten. „Die Menschheit […] ist eine große Familie von lauter Kindern, alle getrieben von den Kräften, die nicht aus der Einsicht in Weg und Ziel der Menschheit herkommen, sondern aus den Vorteilen des Tages im engeren oder weiteren Sinne“ (ASP 021-74-05). In solch kurzsichtiger, beschränkter Weise konnten wir gemäß Carnap bis jetzt zwar einigermaßen auskommen,

[a]ber es ist nun an der Zeit, dass die Menschheit sich bemüht, allmählich erwachsen zu werden, d. h. das, was geschieht, zwar nicht viel anders, aber mit Bewußtheit zu tun, und dadurch freilich auch allmählich immer mehr zu lernen, Umwege zu vermeiden. Aber das sind erst spätere Früchte. Zunächst mal nur Bewußtheit als Aufgabe, selbst wenn gar nichts inhaltlich anders geschähe. Wir müssen allmählich das Gefühl bekommen, dass es unwürdig ist, den Weg nur instinktiv und unbewußt zu gehen, von dem wir wenigstens ein gutes Stück uns bewußt machen können. Die Philosophen haben zuweilen gemeint, sie seien die Erwachsenen, sie hätten den Überblick, und die andern sollten nur mehr auf sie horchen, damit es besser ginge (Plato: Philosophen müßten Könige sein). Ich denke, wir Philosophen (ich rechne mich auch zu dieser Zunft) müssen doch bescheidener sein. Wenn unsere Arbeit darin besteht, Bewußtheit zu erringen, über das was geschieht, so sind wir doch noch sehr am Anfang dieser Arbeit. Wir sind wohl etwas besinnlichere Kinder, aber ebensolche Kinder wie die anderen, nur dass wir infolge der Besinnlichkeit im praktischen Leben mehr verpatzen als die anderen. (ASP 021-74-05, 2)

Zwar hält Carnap noch am Nonkognitivismus fest, der ursprünglich von Johannes Müller auf ihn übertragen wurde, aber das heißt jetzt nicht mehr, dass die Glaubenssätze und die Wissenssätze überhaupt nichts miteinander zu tun hätten, denn die Glaubenssätze haben ja sozusagen „kognitive“ Komponenten (um Carnaps spätere Ausdrucksweise anzuwenden) und diese können den Wissenssätzen im Gesamtsystem nicht widersprechen. In irgendeiner Weise hatte Carnap also die Kantische Aufteilung zwischen Theoretischem und Praktischem übernommen, sodass diese beiden Aspekte des Lebens in eine Art dialektische Gesamtbeziehung zueinander traten, wobei das Praktische dem Theoretischen seine Zwecke und seine Stellungen im Leben zuweist, das Theoretische dem Praktischen aber Grenzen gibt, Grenzen nicht nur des realistisch Wünschbaren, sondern auch des theoretisch Möglichen.

Dieser neue, dezidiert aufklärerische Standpunkt, dem wir im Brief an Flitner über Gogarten, in den Aufsätzen „Deutschlands Niederlage“ und „Von Gott und Seele“, sowie in Carnaps Notizen zu seiner Hochzeitsansprache begegnen, stellt somit auch den Endpunkt derjenigen Entwicklung dar, deren Anfang uns hier hauptsächlich, im 1. und 2. Teil, beschäftigt hat. Aus dem 3. Teil und aus den in diesem Teil zitierten Bemerkungen zur Farbenlehre ging hervor, dass Carnap schon 1916 ein gutes Stück des langen Wegs von 1911 bis 1921 zurückgelegt hatte. Was wir aber nicht wissen, ist, wie das alles zusammenhing. Die fragmentarischen Zeugnisse, die hier besprochen wurden, deuten nur Eckpunkte einer Entwicklung an, die uns zum größten Teil noch ziemlich rätselhaft bleibt. Wann geschah der entscheidende Wandel, und in welchen Etappen? Wie brachte der junge Carnap vor 1914 seine Begeisterung für Johannes Müller in Einklang mit seiner Parteinahme für Haeckel, die er in einem nicht veröffentlichten Teil seiner Autobiographie schildert?Footnote 25 War er sich dieser Dissonanz überhaupt bewusst?Footnote 26 Welche Rolle spielten in ihr zum Beispiel die Wissenschaftsauffassung Goethes oder des deutschen Idealismus (mit dem sich Carnap in einem Brief an die Mutter nach Kriegsausbruch 1914 ausdrücklich identifizert)? Wann begann er diese Inkonsequenzen zu konfrontieren? Wie wir sahen, war dieser Prozess schon vor 1916 in Gang – aber wie und wann, und vor allem warum? Was gab den entscheidenden Anstoß?

In einem Brief vom 11. September 1911 schlägt Carnaps Cousin Fritz von Rohden (offenbar auf der Basis eines langen Briefs von Carnap) für Carnaps geplante Freiburger Freischar-Vorträge im kommenden Semester folgende Themen vor:

  1. 1.)

    Materialismus und Idealismus

  2. 2.)

    Frauenfrage

  3. 3.)

    Schopenhauer, ein Erzieher oder ein Verbildner?

Hat Carnap diese anderen Vorträge wirklich geplant oder vielleicht gehalten? Unter dem frischen Eindruck seines Mainberg-Erlebnisses gab er offenbar „Religion und Kirche“ den Vorzug, zumindest sind keine anderen Vortragsvorlagen dieser Zeit im Nachlass zu finden. Aber was hätte er zu den drei vorgeschlagenen Themen zu sagen gehabt? Und wie verhielten sich seine Gedanken über diese Themen zu seiner Begeisterung für Johannes Müller einerseits (der einige Jahre zuvor sein Buch Der Beruf und die Stellung der Frau publiziert hatte) und zu seinen wissenschaftlichen Interessen andererseits? Nach der Liste der „Bücher, die ich gelesen“ von 1911–1913 (und ähnlichen Listen aus späteren Jahren) zu urteilen, interessierte sich Carnap nicht nur für Mathematik, Philosophie, Religion, und was man sonst noch von ihm erwartet hätte, sondern für alles Mögliche, von der Antike zu science fiction, von Flugzeugtechnik, Raumschifffahrt und Astronomie bis Ibsen, Kierkegaard, Strindberg, Wilde, Dante, Shakespeare, und vielen anderen belletristischen Autoren aus allen Epochen und Kulturkreisen. Wie ordnete sich das alles ein, wo trieb das alles hin? Welche dieser vielen möglichen Einflüsse spielte welche Rolle in Carnaps Reaktion auf das Kriegsgeschehen, die offenbar von entscheidender Bedeutung war für Carnaps eindeutige Wende in Richtung Aufklärung gegen Ende des Kriegs und in der Nachkriegszeit?

Wenn wir beginnen, Einsicht in diese Fragen zu bekommen, werden wir besser verstehen, wie aus dem relativ angepassten und selbstzufriedenen Vorkriegs-Carnap – der viele Impulse seiner Zeit aufgriff und nebeneinander liegen ließ, ohne sie besonders tief zu verarbeiten – der Carnap wurde, der nach dem Krieg den Aufbau schrieb und den Wiener Kreis entscheidend mitprägte. Immerhin können wir auf der Basis der hier besprochenen Zeugnisse festhalten, dass der Nonkognitivismus kein spät dazugekommener Bestandteil von Carnaps geistiger Welt war, sondern schon vor dem Krieg eine zentrale Rolle für ihn spielte, um dann während des Kriegs, irgendwie, auf Kantischer Basis neu rekonstruiert zu werden. Was sich also später, in den fünfziger Jahren, als Nonkognitivismus ausdrückte, entsprang aus tiefen Wurzeln in Carnaps früher geistiger Entwicklung.