Soweit deutsche Gelehrte nicht selbst im Felde standen, nahmen sie zumeist am Schreibtisch oder in öffentlichen Vorträgen aktiv am Ersten Weltkrieg teil. Das gilt auch für die Philosophen. Unter ihnen finden wir nicht wenige ausgesprochene Kriegshetzer. Der vorliegende Beitrag untersucht (unter Rückgriff auf Korrespondenzen und Tagebucheinträge) die im Entstehen begriffene Disziplin der Wissenschaftsphilosophie anhand einiger zentraler Vertreter. Die wichtigsten Wissenschaftsphilosophen – die ältesten unter ihnen waren bei Kriegsbeginn zweiunddreißig Jahre alt – waren entweder naiv kriegsbegeistert (so zunächst der jugendbewegte Rudolf Carnap), oder überzeugte Kriegsgegner (Moritz Schlick, Otto Neurath und Hans Reichenbach, letzterer schon vor dem Krieg ein scharfer Kritiker des preußischen Militarismus). Nicht sprechen werde ich über die beiden Wissenschaftsphilosophen Heinrich Scholz, damals noch evangelischer Theologe und einer der übelsten Kriegspropagandisten, sowie über Hugo Dingler, der ganz mit sich selbst und seiner Karriere beschäftigt war. Beide gehören nicht zum Logischen Empirismus. – Eine bedrückender Bezug der Weltkrieg I-Situation zur Gegenwart kommt in den Blick: Das unter deutschen Gelehrten verbreitete und aggressionslegitimierende Gefühl der kollektiven Demütigung durch den Rest der Welt weist beängstigende Parallelen zu Positionen von Gelehrten im heutigen Russland und in weiten Teilen der islamischen Welt auf.

1 Einleitung

Seit Platons Theorie des idealen Staats fühlen sich Philosophen und Intellektuelle zu Deutern, Sinnstiftern und Wegweisern berufen. Das kann man für Anmaßung halten, sollte es aber nicht. Denn Philosophie ist nach der glücklichen Definition Kants die universalisierbare, argumentative Analyse der Möglichkeiten und Grenzen unseres Wissens, unseres moralisch relevanten Handelns und unserer Wertungen – wenn sie denn gelingt!Footnote 1

Die Forderung der Universalisierbarkeit von Argumenten besteht in der Unterstellung, ein Argument oder eine Prämisse müsse idealiter für alle akzeptabel sein. Die Unterstellung der Universalisierbarkeit geht leicht fehl. Zeitgenössische deutsche Philosophen liefern in ihren Äußerungen zum Ersten Weltkrieg zahlreiche Beispiele dafür. Noch mehr Beispiele aber finden wir für die gänzlich unphilosophische Haltung, die Universalisierbarkeit der eigenen Konzeptionen nicht nur zu verfehlen, sondern sie nicht einmal zu reflektieren: Fakten werden durch Emotionen ersetzt, ausgewogene Urteile durch spontane Vorurteile, Argumente durch Assoziationen. Deutsche Philosophen sehen sich ebenso im Kriegseinsatz wie fast die gesamte gelehrte bürgerliche Welt.Footnote 2 Der Erste Weltkrieg war in dieser Perspektive nicht nur ein Krieg zwischen Staaten, sondern auch ein Krieg der Kulturen, ein „heiliger Krieg“:Footnote 3 hier die idealistische, selbstlose, bildungsorientierte deutsche Pflichtkultur, dort die hedonistische civilisation der Franzosen und die völlig dem Mammon und Weltherrschaftsphantasien verfallenen Engländer. So tönen die Lautsprecher der deutschen Philosophie.

Nie fehlen Philosophen bei den Initiatoren und Unterzeichnern von öffentlichen Aufrufen und Erklärungen. Der Neukantianer Alois Riehl beispielsweise war einer der vier Verfasser des berüchtigten Aufrufs der 93 „An die Kulturwelt!“ vom 4. Oktober 1914.Footnote 4 Zu den 58 unterzeichnenden Professoren dieses in hohem moralischem Ton gehaltenen Manifests gehörten die Groß-Philosophen Rudolf Eucken, Wilhelm Windelband und Wilhelm Wundt. Wegen der völlig naiven und selbstgerechten Fehleinschätzung seiner Rezeption entwickelte sich der „Aufruf“ zu einem kommunikativen Desaster.Footnote 5 Dass knapp zwei Wochen später, am 16. Oktober 1914, zu den über 3000 Unterzeichnern der von dem klassischen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff initiierten, ebenso hochtonigen, aber kürzeren „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ auch viele Philosophen gehörten, liegt schon quantitativ sehr nahe: die Anzahl der Professoren, Dozenten und Lehrbeauftragten an deutschen Hochschulen soll etwa 4500 betragen haben.Footnote 6 Von expliziten und öffentlichen Unterschriftsverweigern der „Erklärung“ ist mir nichts bekannt.

Ich möchte im Folgenden kurze Präsentationen derjenigen Gelehrten vortragen, die Wissenschaftsphilosophen waren oder es später wurden und – um im kriegerischen Jargon zu bleiben – die Kerntruppe des Logischen Empirismus bildeten.Footnote 7 Ich tue dies aus zweierlei philosophischem Interesse. Erstens, von Philosophen, die sich am Vorbild der Mathematik und Naturwissenschaft schulten, dürfte man am ehesten universalisierbare, um nicht zu sagen objektive Argumente erwarten sowie Respekt vor methodologischen Grundkategorien wie der Unterscheidung von Individuum und Kollektiv oder von Tatsachen und Normen. Sehen wissenschaftsnahe Philosophen in dieser Hinsicht anders aus als „gelehrte Kulturkrieger“Footnote 8 wie Eucken, Riehl, Wundt oder Scheler?Footnote 9

Das zweite, mich bewegende, philosophische Interesse ist ein selbstkritisches, das ich übrigens auch in Arbeiten zur Naziphilosophie nicht aus dem Auge verliere: Es besteht in der kontrafaktischen Frage, wie wir selber wohl unter den damaligen Randbedingungen gehandelt hätten und zugleich in der Mahnung, bei unseren eigenen Deutungs- und Sinnstiftungsversuchen hinreichende methodische Umsicht walten zu lassen. Dabei ist insbesondere zu beachten, dass es Unfehlbarkeit weder in der Wissenschaft, noch in der Wissenschaftsphilosophie und schon gar nicht in sinndeutender philosophischer Reflexion gibt.Footnote 10

Die moderne Wissenschaftsphilosophie, das letzte große europäische Aufklärungsprojekt, beginnt, von gewissen Randentwicklungen abgesehen,Footnote 11 mit dem Logischen Empirismus, der sich anfangs der Zwanziger Jahre in Wien um den aus Berlin gebürtigen Planck-Schüler und Philosophie-Ordinarius Moritz Schlick bildete.Footnote 12 Die Begründer des Logischen Empirismus, über die ich berichten will, waren bei Kriegsausbruch in ihren Zwanziger- bis Dreißigerjahren. Schlick und Otto Neurath, der unermüdliche Organisator des Kreises, waren beide zweiunddreißig; Rudolf Carnap, der vielleicht schärfste Kopf des Kreises, war – ebenso wie Hans Reichenbach – erst dreiundzwanzig. Zuerst zu Moritz Schlick, dem Spiritus Rector des Wiener Kreises, der allerdings, anders als Carnap und Reichenbach, mit der deutschen Jugendbewegung meines Wissens nichts zu tun hatte.

2 Moritz Schlick

Schlick, Jahrgang 1882, wurde 1904 in Physik bei Max Planck promoviert. Er lehrte ab 1911 als Privatdozent für Philosophie an der Universität Rostock. Schlick war 1906 und 1907 als „dauernd untauglich zum Dienst im Heere und in der Marine“ (Iven, 2008, 59) gemustert worden. Dennoch: auch der junge Privatdozent schien etwas von jenem Zusammengehörigkeitsgefühl zu spüren, das insbesondere das bürgerliche Deutschland in den Augusttagen 1914 ergriffen hatte.Footnote 13 Jedenfalls glaubte auch der für den Militärdienst untaugliche Philosoph nationale Pflichten zu haben. Dem Vater, einem Berliner Unternehmer, schrieb er am 3. August, er wolle sich „für das Vaterland nützlich machen“ (zitiert nach Iven, 2008, 62), am liebsten beim meteorologischen Dienst. Er brachte es aber nur zu einer Ausbildung als Krankenträger und kehrte bald an die Universität zurück. Im Oktober 1915 wurde er bei einer Musterung als „garnisonsdienstfähig“ eingestuft und konnte trotz dieses gesundheitlichen upgradings seiner amerikanischen Frau – offensichtlich erleichtert – mitteilen: „So we have a good breathing space and won’t worry about the future“ (zitiert nach Iven, 2008, 63). Ein knappes Jahr später musste Schlick sich einer Nachmusterung für den Landsturm unterziehen und befürchtete, als tauglich befunden zu werden, wobei er sich in einem Brief an den Vater vom 5. August 1916 Hoffnung machte, „noch durchzuschlüpfen, als bei meiner letzten Untersuchung […] außer meiner kleinen Herzmuskelschwäche ein chronischer Lungenspitzenkatarrh“ (a.a.O., 64) festgestellt worden sei. Es ging aber noch mal gut für ihn aus, und erst von März 1917 bis Kriegsende wurde Schlick zum Leiter eines physikalischen Labors am Flugplatz Adlershof bei Berlin dienstverpflichtet. Generell ist in den Briefen Schlicks aus der Kriegszeit auffallend geringe Begeisterung spürbar.Footnote 14

Dennoch: der Rostocker Privatdozent Schlick ist einer von den über 3000 Unterzeichnern der „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ vom 16. Oktober 1914, in der vor allem die Einheit von deutschem Volk und deutschem Heer betont wird.Footnote 15 Leider sind mir keine Dokumente über die Umstände der Unterzeichnung durch Schlick bekannt. Ein gewisser Gruppenzwang ist wohl nicht auszuschließen, denn einen Monat zuvor hatte er eine persönliche, öffentliche Stellungnahme publiziert, die in eine etwas andere Richtung als die „Erklärung“ weist. Am 5. September 1914 veröffentlichte der Rostocker Anzeiger unter dem Titel „Lieb Vaterland!“ einen Leserbrief Schlicks, in dem dieser äußerst scharf – political correctness war noch kein Thema! – auf den Leserbrief einer (namentlich nicht genannten) Frau antwortet:Footnote 16

Wir lasen mit Entrüstung Sätze, wie wir sie vielleicht aus dem Munde einer wilden Suffragette erwarten, die wir aber in einer gesitteten deutschen Stadt nicht öffentlich zu hören gewohnt sind. […] Nicht deutsch, nicht weiblich ist jener Gefühlserguss. Es ist geschmacklos und nicht anständig, in der erhabenen Gegenwart des großen Krieges witzlos vom „Speckbauch“ Edwards VII., von den Hängebacken der Königin Viktoria zu reden; und es ist törichte Phrase, zu sagen: „Jeder deutsche Straßenkehrer ist zu schade dazu, um einen englischen Gentleman auch nur mit dem Fuß anzustoßen“, denn auch Charles Darwin und John Ruskin, Lord Lister und Lord Avebury waren englische Gentlemen! […] Wer sich zu maßlosem Schimpfen hinreißen lässt, der erweist dem Vaterlande einen üblen Dienst, denn der reizt niedrige Gefühle auf und setzt unser Ansehen im Auslande herab – und dass es auch in allen fremden Nationen edle und tüchtige Menschen gibt, an deren Meinung uns gelegen sein muss, wer wollte das leugnen? […] Es ist unserer würdig, den Feind durch die Tat zu besiegen, unwürdig, ihn durch bloße Worte zu schmähen. Seien wir dessen eingedenk und bewahren wir auch in Wort und Schrift die Höhe der deutschen Bildung und Gesittung, die wir in diesem großen Kampfe verteidigen.

Hier wird Schlicks frühe, ambivalente Position sehr gut deutlich: der Krieg ist zwar ein Kampf der Kulturen, aber Schmähung der Gegner darf keine Waffe sein. Schlick mahnt also bereits in der bürgerlichen Siegeseuphorie der ersten Kriegswochen öffentlich so etwas wie Objektivität oder doch wenigstens Anstand an.

Ganz im Einklang mit dieser öffentlichen Äußerung stehen die Aufzeichnungen zu seiner für das Wintersemester 1914 geplanten, aber dann wegen des Kriegsausbruchs erst im Sommersemester 1916 gehaltenen Nietzschevorlesung.Footnote 17 Schlick wehrt sich in diesen zu Kriegsbeginn entstandenen Aufzeichnungen energisch gegen den, vor allem in England und Frankreich behaupteten, Zusammenhang der Philosophie Nietzsches mit dem deutschen Militarismus und dem Krieg:

Nicht daraus kann der Krieg (und) die Kriegführung erklärt werden, dass die einzelnen Nationen sich mit irgendeiner Philosophie den Geist erfüllt hätten, sondern höchstens könnte man dem Mangel an Philosophie die Schuld geben. Alle Kriege, aller Streit überhaupt, entstehen aus viel niederen, aber viel mächtigeren Instinkten als der philosophische Trieb es ist. […] Echte Philosophie ist immer friedbringend; der phil(osophische) Geist […] geht mit dem Geiste des Friedens Hand in Hand (Schlick, 2013, 85 f.).

Was nun den konkreten Fall Nietzsche betrifft, so macht Schlick erstens darauf aufmerksam, dass „unsere politischen und militärischen Führer […] sich keineswegs sehr eifrig mit dieser Philosophie beschäftigt“ hätten, und „soweit die sie überhaupt kenn(t)en […] keineswegs begeisterte Anhänger davon“ seien. Zweitens sei „der behauptete Zusammenhang zwischen dem kriegerischen Wollen des Volkes (und) der Gedankenwelt Nietzsches auch gar nicht möglich, denn wer die glänzenden Ideen unseres dichtenden Denkers so deutet [,] der hat ihn gar nicht verstanden“ (Schlick, 2013, 79 f.). „Nietzsche“, so notiert Schlick an anderer Stelle, „das ist die Begeisterung, das ist der Feind der Biergemütlichkeit, aus der aufzuschrecken es eines Weltkriegs bedurfte. Von ihm können wir lernen, auch ohne Krieg begeistert zu sein und noch für höhere Dinge als selbst das Schicksal des Volks“ (Schlick, 2013, 343). Gleichzeitig wendet sich Schlick wieder gegen eine Diffamierung der Feinde, diesmal mit Bezug auf deren Philosophie:

Man hat z. B. darauf aufmerksam gemacht, dass die Denker Frankreichs sich eigentümlich wenig mit Moralphilosophie beschäftigt hätten – aber daraus folgt nicht, dass die Franzosen unmoralisch wären, oder dass sie allzu kriegslustig sind. […] Man wirft den Engländern gewöhnlich einen kühlen rechnenden Krämergeist vor (und) glaubt, diesen auch in ihrer Philosophie nachweisen zu können. Aber bei den größten englischen Philosophen, wie Berkeley (und) Hume werden Sie vergeblich nach Zügen suchen, die diese Ansicht bestätigen könnten (a.a.O., 84).

Deutschen Schlaumeiern, die den angeblichen englischen Krämergeist als Standard der englischen Ethik aus dem Utilitarismus ableiten wollen, erteilt Schlick philosophischen Sprachunterricht: „Gut ist [im englischen Utilitarismus] das, was möglichst vielen Menschen möglichst viel Glück schafft. Dieser Gedanke hat durchaus Hand (und) Fuß, von irgend einer Nützlichkeit niederer Art ist sicher nichts in ihm zu entdecken“ (Schlick, 2013, 84).

Wir wissen nicht, ob Schlick diese für das Wintersemester 2014 konzipierte Einleitung dann im Sommer 1916 vorgetragen hat, als er die Vorlesung tatsächlich halten konnte. Wir wissen deshalb auch nicht, wie die Studenten eventuell darauf reagiert haben. Klar ist jedoch an der Position Schlicks, dass er trotz seines anfänglichen vaterländischen Pflichtgefühls stets zu Fairness aufgerufen hat. Unübersehbar ist freilich die Widersprüchlichkeit, mit der er einerseits in seinem Leserbrief „Lieb Vaterland!“ vom September 1914 von einem Krieg der Kulturen redet – „deutsche Bildung und Gesittung“ werden angeblich verteidigt – und andererseits hellsichtig in „niederen Instinkten“ die Ursache für dieses erste große Morden des Jahrhunderts identifiziert. Kurzum, der Wissenschaftsphilosoph Schlick steht dem Krieg von Anfang an reserviert gegenüber, mahnt Universalisierung von Argumenten und Anstand an, und ist froh als er endlich zu Ende ist.

Nach dem Krieg erwies sich Schlick als tadelloser Demokrat, der stets Philosophie von Parteipolitik trennte. 1936 wurde er auf den Stufen der Wiener Universität von einem psychisch kranken ehemaligen Studenten und Doktor der Philosophie erschossen. Die rechtskatholischen Teile des antidemokratisch-autoritären österreichischen „Ständestaats“ machten keinen Hehl aus ihrer Zufriedenheit mit diesem Vorfall.Footnote 18

3 Rudolf Carnap

Rudolf Carnap (1891–1970) ist der vielleicht bedeutendste Wissenschaftsphilosoph des vorigen Jahrhunderts. Bei Kriegsausbruch hatte der damals Dreiundzwanzigjährige gerade einmal vier Jahre Mathematik, Physik und Philosophie studiert. Er kommt damit als öffentlicher Sinndeuter und Kanzelphilosoph kaum in Frage. Allerdings zog er begeistert in den Krieg und brauchte fast vier Jahre, diesen als „eine unfassbare Katastrophe“ (Carnap, 1993, 15) zu erkennen. Wenn er in seinen Erinnerungen schreibt, dass der Militärdienst seiner „ganzen Einstellung widersprach“, und er ihn „als notwendige Pflicht zum Schutz des Vaterlandes“ (ebd.) angenommen habe, scheint das – wie wir gleich sehen werden – eher ein späteres Wunschnarrativ zu sein. Carnap teilte mit seinen Freunden aus dem von dem Verleger Eugen Diederichs 1908 in Jena initiierten, jugendbewegten Serakreis den Glauben, Deutschland führe einen Verteidigungskrieg. „Am Ende meldeten sich alle kriegstauglichen Freunde noch im August 1914 freiwillig“ (Werner, 2014, 19). Grundsätzlich war es so, dass die Jugendbewegung romantisch inspiriert war. Gleichzeitig aber gab es, vor allem im Serakreis, eine starke antibürgerliche, wenig preußisch-staatsfromme Komponente.Footnote 19

In Carnaps zahlreichen Karten und Briefen vor allem an seine Mutter fehlt jede Kriegsreflexion.Footnote 20 So lesen wir auf einer Ansichtskarte mit der Kathedrale von Metz vom 29.11.1914: „Wir kommen gerade aus den Schützengräben, übernachten hier in Metz-Longeville und harren jetzt unserer Verladung nach einem unbekannten Ziel“ (Quelle). Dann geht es weiter mit Familienangelegenheiten. Auf einer Karte vom 23.12.1914 an seine Schwester freut er sich über seine Zuteilung zu einem „Schneeschuhbataillon“:

Dann wird’s interessant; u. dann da oben in den Bergen, das ist doch ein herrliches Sylvester. Ich hoffe, die Mutter hat sich über den Gefreiten [Carnap war kurz vorher befördert worden, GW] genügend gefreut; sie soll doch merken, dass sie sich auch bei den Soldaten ihres Sohnes nicht zu schämen braucht. – Die Seifenblätter sind sehr praktisch, davon wünsch ich mir noch welche zu Neujahr.

So ähnlich geht es in Carnaps Kriegskorrespondenz weiter. Nur wenig anders sind die Tagebücher. Hier ein Eintrag, wie es viele gibt:

30 [Januar 1915] Sa[mstag] Weiter, leider nicht nach Budapest hinein; durch Ungarn. 31 [Januar 1915] So[nntag] Wir haben einen halben Tag Verspätung; Mittag lange Pause in Debrecin. Schon viele deutsche Soldaten sind durchgefahren. Viele ungarische Soldaten (Lieder mit Klarinette). Reis und Konservenfleisch. Apfelsinen gekauft. Kalte Nacht, nicht geschlafen, ohne Heizung. ½ 4–5 Uhr nachts auf der Lokomotive (RC 025-71-07).Footnote 21

Auch Militärisches wird zumeist unkommentiert notiert. So zum Beispiel in den Karpaten:

12 [März 1915] Fr[eitag] Die Infanterie hat einige Gräben genommen, aber viele Verluste. Viele haben erfrorene Gliedmaßen; manche sind gefangen genommen, weil sie mit den steifen Fingern nicht abdrücken konnten. Es sind aber auch Russen gefangen genommen. Ein Kriegsfreiw[illiger] der Infanterie hat gesagt, dass er wahrscheinlich auch zum Kursus nach Hause gerufen wird; am 20. III. Ob das auch für uns Artilleristen [?] gilt?! Prachtvolles klares, kaltes Winterwetter. (RC 025-71-07, Kriegstagebuch 1915)

Je länger der Krieg dauert, umso konzentrierter, ja manchmal begeisterter ist Carnap dabei:

  • „Ich bekomme große Lust zum MG Kursus“ (RC 025-71-08, Kriegstagebuch 1915, 1. September 1915).

  • „Abends im Braunen Hirsch wieder alle Leutnants; fühle mich sehr wohl unter ihnen, gönne ihnen das Glück herzlich, sind nett zu mir. Ich kann aber den ständigen Nebengedanken nicht loswerden: so weit könnte ich jetzt auch sein“ (RC 025-71-08, Kriegstagebuch 1915, 5. September 1915).Footnote 22

  • „Die Missstimmung über die anderen Leutnants bin ich los, aber fühle mich doch sehr unbefriedigt. […] Es wird höchste Zeit, dass ich bald ins Feld komme“ (a.a.O., 12. September 1915).

Im Oktober 1916 vor Verdun – Carnap ist inzwischen ein mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichneter Leutnant – schreibt er:

Di[enstag] 24. [Oktober 1916]. Ich soll auf Regimentsbefehl mit 4 MG in Kasemattenschlucht: dazu vier Gruppen Gefreite zur Begleitung und als Träger. 1030 Abmarsch. Die Gefreiten überlastet, kommen nur schwer vorwärts. Einige Granaten. Bringe die Gefreiten nur mit größter Mühe vorwärts; warum trifft mich kein Splitter? 1230 Bruleschlucht. Wir riechen Gasbeschießung. Rast. Über den Rücken zur Bezonvauxschlucht. Wir kommen ins Gas. Alles wird zersprengt. Masken aufgesetzt 1240-115; oben mit Tuchmantel gesessen. Dann wir beide ruhig hinüber, mit Masken, Gepäck. Im Granatloch verschnauft (RC 025-71-12:14, Kriegstagebuch 1916).

An nur ganz wenigen Stellen wird Carnaps von der gesellschaftskritischen Jugendbewegung geprägte, politische Position greifbar. Am 18. März 1915 notiert er:

Abends lang mit Thilo und Middeldorff aufgeblieben und Gespräch. Wir sind einig, dass die Anforderungen an geistige Fähigkeiten beim aktiven Offizier recht gering sind. […] Middeldorff und ich sprechen recht scharf, Thilo verteidigt. Wir sind aber einig in gewissen Vorwürfen gegen die Gesellschaft, und dass mehr verlangt werden müsste an gesellschaftlicher Kultur. [I]ch spreche vom Diederichsschen Kreise [d. h. dem Serakreis, GW]. […] (Thilo) meint übrigens, er würde an meiner Stelle, wenn er so überzeugt von der besseren Idee und der Verwerflichkeit des jetzigen Zustands wäre, mit aller Kraft für Verbesserung eintreten. Ich sage, ich bin kein Propagandist (siehe Abstinenz); glaube auch, der Allgemeinheit zu dienen […] indem ich meiner Befähigung entsprechend nicht Menschenbeeinflussung, sondern wissenschaftliche Arbeit leiste. Um 3h schlafen gelegt (RC 025-71-07, Kriegstagebuch 1915).

Wie sehr aber der junge Carnap ebenfalls von dem in Deutschland verbreiteten sozialdarwinistischen Kriegsimpuls erfasst war, zeigt der folgende Eintrag vom 22. September 1916 aus Frankreich:

Exerzieren südlich des Dorfes, getrennt nach Kompanien. […] Schönes Wetter. Morgen Umquartierung nach Arrancy. [D]och können wir heute nicht fliegen. Etwas Mathematik. Fichte gelesen. Abends im Dunkeln mit Leutnant Seidel und Gurleit noch spazieren gegangen, die Allee auf Constantin Ferme zu. Seidel spricht sich offen aus, sein naiver Gottesglaube; seine Gedanken: „Du sollst nicht töten“ und wir müssen jetzt töten, ist es nicht trotzdem Sünde. Ich weise ihn auf Gesinnungs- statt Gebot(s)ethik hin. Dann seine Gedanken über die Sinnlosigkeit des Krieges. […] Ich versuche klar zu machen, dass der Sinn des Krieges nicht Verminderung der Menschenzahl ist, sondern naturnotwendiges Kräfteausmessen der sich ins Gehege kommenden wachsenden Völker. Und zwar (?) sind wir das wachsende Volk, können nicht stehenbleiben, sondern müssen um uns greifen (Analogie: Baum, Industrieunternehmen). Die Mittel dieses Kampfes (im Gegensatz zum Kampf zweier Geschäftskonkurrenten) (sind) noch grausam. Vielleicht später mal zwischen den Staaten ähnlicher Rechtszustand, wie jetzt zwischen den Individuen. Entwicklungsstufe: Vereinigte Staaten von Europa; sehr große Schwierigkeiten, vielleicht zu überwinden in der gemeinsamen Gefährdung durch Ostasien (RC 025-71-12:14, Kriegstagebuch 1916).

Die Idee eines gesicherten Rechtszustandes zwischen den Völkern wird dann schließlich das Thema von Carnaps erster Publikation. In der ersten Nummer (20.10.1918) von Karl Bittels Politischen Rundbriefen, die explizit dem Übergang von der Jugendbewegung in die Politik gewidmet sind, veröffentlich Carnap unter dem Pseudonym „Kernberger“ den ersten Teil eines kurzen, zweiteiligen Artikels „Völkerbund-Staatenbund“. Er mahnt seine jugendbewegten Freunde zu einer „mehr als dilettantische(n) Diskussion [der institutionellen Details eines Völkerbundes] aus Augenblicksgefühlen heraus“ (Carnap, 2019, 8). Zu diesem Zeitpunkt war er bereits seit über zwei Monaten Mitglied der ein Jahr zuvor gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD). Spätere Führungsmitglieder der USPD hatten 1915 im Reichstag erstmals gegen Kriegskredite votiert. Eben die Antikriegshaltung der USPD machte sie für Carnap attraktiv, aber nicht schon 1915, sondern erst 1917/1918:

Im Sommer 1917 wurde ich nach Berlin verlegt. […] (Dort hatte) ich Gelegenheit, durch Lektüre oder Gespräche mit Freunden politische Probleme zu erörtern. […] Ich stellte fest, dass in verschiedenen Ländern die Arbeiterparteien die einzigen großen Gruppierungen waren, die wenigstens einen Rest der Ziele des Internationalismus und der Kriegsgegnerschaft bewahrt hatten (Carnap, 1999, 15).

In den frühen 20er-Jahren verließ Carnap, enttäuscht über die russische Revolution und die Politik der deutschen Kommunisten die USPD wieder.

Carnap selbst scheint übrigens – wenn auch mit einiger Verzögerung – explizit die von mir eingangs geäußerte Erwartung zu unterstützen, dass bei wissenschaftsnahen Philosophen eine höhere methodologische Distanz zum Kriegspredigen bestehen sollte als bei anderen. Carnap hatte Russell am 17. November 1921 seine Dissertation (Der Raum, Carnap, 1922) geschickt und schrieb im Begleitbrief:

Es ist mir eine besondere Freude, dass gerade Sie es sind, dem ich als erstem Engländer jetzt aus wissenschaftlichem Gebiete die Hand reichen darf, da Sie schon zur Zeit des Krieges so freimütig gegen Geistesknechtung durch Völkerhass, und für menschlich-reine Gesinnung eingetreten sind. Wenn ich an die gleiche Gesinnung des leider zu früh verstorbenen Couturat denke, so frage ich mich, ob es etwa bloßer Zufall sein könne, dass diejenigen Männer, die auf dem abstraktesten Gebiete der mathematischen Logik zu größter Schärfe vordringen, dann auch auf dem Gebiete der menschlichen Beziehungen klar und stark gegen Einengung des Geistes durch Affekte und Vorurteile ankämpfen (Carnap, Briefwechsel, Philosophisches Archiv).

4 Hans Reichenbach und Otto Neurath

Wir können diese beiden Wissenschaftsphilosophen hier relativ summarisch behandeln, da wir über ihre Haltung zum Ersten Weltkrieg durch ausgezeichnete Publikationen gut informiert sind. Während der gegen Ende wenig kriegsbegeisterte Carnap noch im Jahre 1916 eine sozialdarwinistische Erklärung und wohl auch Rechtfertigung des Krieges lieferte, finden wir beim gleichaltrigen und gleichfalls jugendbewegten Hans Reichenbach schon vor Kriegsbeginn in zwei Aufsätzen – aus der Perspektive der Jugendbewegung beziehungsweise der Freistudentenschaft – eine überaus scharfe Kritik am deutschen Militarismus.Footnote 23

Die Freistudenten verstanden sich in dezidierter Gegnerschaft zu konservativ-nationalistischen Korpsstudenten als eine demokratische Vertretung aller Nichtkorporierten. „Reichenbach gehörte zum linken Flügel der Freistudenten, man könnte sagen zu den Ideologen, und war […] einer der führenden Köpfe dieser Studentenbewegung“ (Gerner, 1997, 13). Zahlreiche Schriften zu aktuellen Jugend- und Studentenfragen bezeugen dies. Unter diesen ragen zwei heraus, in denen er im Juli 1913 und März 1914 die Militarisierung der Jugendbewegung und die Züchtung von „Nationalbewusstsein“ ins Visier nimmt. Hier eine Kostprobe aus der Feder des Dreiundzwanzigjährigen:

Ist es da ein Wunder, wenn die Jungen ganz in eine Gedankenwelt hineinwachsen, die nur noch Krieg gegen Deutschlands zahllose „Feinde“ als höchstes Lebensideal kennt? Was den gesund Empfindenden an der Wirkung dieses Erziehungssystems abschrecken muss, das ist die innere Unwahrhaftigkeit, die hier in der Jugend großgezogen wird, die Unehrlichkeit des Urteils über die Probleme der modernen Politik und des sozialen Lebens, die Verblendung des wahren Nationalgefühls, das nicht in Hurrageschrei und Verherrlichung des Militarismus besteht, sondern in der Ergründung und Vertiefung der dem Volke eigenartigen Kultur seinen Ausdruck sucht. […] Arme Jugend! Die das schönste Recht der Jugend, ganz Mensch sein zu dürfen, hergibt, um Soldat zu spielen! (Reichenbach, 1914, 1237 f.).

Dass Reichenbach sich bei Kriegsbeginn erstaunlicherweise als Kriegsfreiwilliger bei der Marine meldete, ist wohl am plausibelsten so zu verstehen, dass er sicher war, dort als „klein, dicklich und kurzsichtig“ (Gerner, 1997, 19) abgelehnt zu werden. Gegen Ende 1933 übersiedelte Reichenbach, inzwischen als „Marxist und Halbjude“ von seiner Stelle als außerordentlicher Professor in Berlin entlassen, an die Universität Istanbul und von dort 1938 an die University of California.Footnote 24

Der damals zweiunddreißigjährige österreichische Ökonom Otto Neurath (1882–1945) wirkte im Jahr 1914 als Lehrer an der Wiener Neuen Handelsakademie.Footnote 25 Als einziger der hier vorgestellten Wissenschaftsphilosophen hatte Neurath 1906/1907 den obligatorischen einjährigen Militärdienst geleistet. Er hatte allerdings gehofft, aus gesundheitlichen Gründen „als dienstuntauglich qualifiziert zu werden“ (Sandner, 2014, 60). Dennoch war ihm das Glück dann doch noch hold, insofern er nach „einer achtwöchigen Ausbildung beim k.u.k. Festungsartillerieregiment ‚Kaiser‘ No. 1 in Wien“ seiner fachlichen Qualifikation entsprechend „zum Militärverpflegungsbeamten in der Reserve“ (Sandner, 2014, 61) ausgebildet wurde, was ihm den Besuch von ökonomischen Seminaren an der Universität erlaubte. Von Begeisterung fürs Militär kann jedoch keine Rede sein. An dem Kieler Soziologieprofessor Ferdinand Tönnies schreibt Neurath über eine der regelmäßigen Militärübungen, an denen er später teilzunehmen hatte, dass „auch diesmal dem Militarismus eine nationalökonomische Gehirnpartie zum Opfer gebracht werden“ (Sandner, 2014, 62) müsse.

Neurath ist die wohl farbigste und vielseitigste Figur der neueren Philosophiegeschichte. Kurioserweise ist er, ungeachtet seines geringen Enthusiasmus fürs Militär, der einzige der hier vorgestellten Denker, der sich wissenschaftlich mit dem Thema Krieg, genauer: mit Kriegsökonomie, befasst hat – und das schon seit etwa 1910. Die Kriegsökonomie ist bei Neurath eingebettet in philosophische Konzeptionen des guten Lebens. Unter anderem gestützt auf Feldstudien während der Balkankriege (1912/1913) war er zur Überzeugung gelangt, dass eine Planökonomie wie zu Kriegszeiten der ungesteuerten kapitalistischen Ökonomie überlegen sei. Diese Nähe zur Planökonomie machte ihn 1919 zu einem geeigneten Kandidaten für die Präsidentschaft des von ihm selbst vorgeschlagenen Zentralwirtschaftsamtes der Münchener Räterepublik. Wegen Beihilfe zum Hochverrat landete er nach deren frühem Scheitern im Gefängnis. Seine weitere Biographie ist kaum weniger aufregend. 1934 musste er den klerikal-faschistischen österreichischen Ständestaat Richtung Holland verlassen, von wo ihm, der jüdischer Abstammung war, 1940 im letzten Augenblick die Flucht nach England gelang.

5 Schluss

Die Untersuchung erster Vertreter der jungen Disziplin der logisch-empiristischen Wissenschaftsphilosophie brachte das Ergebnis, dass wir unter diesen Wissenschaftsphilosophen – bei allen persönlichen Unterschieden – auch im Privaten keinen eigentlichen Kriegspropagandisten finden. Man wird allerdings noch nicht behaupten können, dass es die strenge methodologische Observanz der Wissenschaftsphilosophie gewesen sei, die gegen Hass und Propaganda immunisiert habe. Dazu ist unsere Stichprobe zu klein. Ferner ist zu bedenken, dass die betrachteten Wissenschaftsphilosophen sich noch ganz am Anfang ihrer Karriere befanden, mithin noch nicht jene akademischen Positionen erreicht hatten, die eine eher hohe Sinndeuterdichte aufweisen. Dennoch ist es bemerkenswert, wie sich die Vertreter der jungen Disziplin von ihren übrigen philosophischen Kollegen unterscheiden: vier Philosophen und keiner von ihnen ein Kriegspropagandist!

Der „gelehrte Chauvinismus“ der deutschen Intellektuellen insgesamt hat ein merkwürdiges Doppelgesicht. Einerseits ist für sie der deutsche Geist der ganzen Welt intellektuell und moralisch überlegen; andererseits fühlen sie, dass der Rest der Welt das anders sieht. Dieses Missverhältnis zwischen Anspruch und Realität wird vom bürgerlichen Deutschland weithin als einen Krieg rechtfertigende kulturelle Demütigung empfunden.

Im Blick auf das Stichwort „Demütigung“ kommen Parallelen von 1914 mit 2014 in den Sinn. Die erste sind die „russischen Werte“ in Putins Russland. Mutatis mutandis arbeitet das am 16. Mai 2014 im Auftrag der russischen Regierung als Gesetzgebungsgrundlage veröffentlichte Projekt „Grundlagen der staatlichen Kulturpolitik“ von Vladimir Tolstoi, Ururenkel von Lew Tolstoi, einen Sonder- und Exzellenzstatus der russischen Kultur heraus, der auf weite Strecken in entsprechenden Schriften über den „deutschen Geist“ hätte stehen können.Footnote 26 Die „Grundlagen“ sind, so versichern mir russische Freunde, repräsentativ für das Denken von großen Teilen der russischen Intelligentsija.

Die zweite mögliche Parallele bieten weite Teile der islamischen Welt. Auch hier scheinen die Eliten die Überzeugung zu propagieren, kulturell und moralisch besser zu sein als der „ungläubige“ Rest. Das islamische Überlegenheitsgefühl wird offenbar umso stärker und aggressiver, je offensichtlicher es mit der Realität kollidiert. Ein sehr schönes Beispiel dafür liefert die von 45 der 57 Mitgliedstaaten der Organisation of Islamic Cooperation unterzeichnete „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ vom 5. August 1990, die im Wesentlichen nichts anderes als eine schariabestimmte Einschränkung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 darstellt.Footnote 27 Sie beginnt so:

[D]ie zivilisatorische und historische Rolle der islamischen Umma bekräftigend, die Gott zur besten (Form der) Nation machte, die der Menschheit eine universelle und ausgewogene Zivilisation gegeben hat, in der Harmonie zwischen diesem Leben und dem Leben danach herrscht und Wissen mit Glauben einhergeht; und die Rolle bekräftigend, die diese Umma spielen sollte, um eine von konkurrierenden Strömungen und Ideologien verwirrte Menschheit zu leiten und Lösungen für die chronischen Probleme dieser materialistischen Zivilisation zu bieten […]. (Kairoer Erklärung).

Alles scheint dafür zu sprechen, dass die Kairoer Erklärung auch das gegenwärtige Selbstbild islamischer Eliten zum Ausdruck bringt. Die Parallelen zu den deutschen Eliten im Jahre 1914 sind offensichtlich. Vielleicht ist eben dieses Selbstbild islamischer Eliten, das außerhalb der Umma wohl kaum vorbehaltlos geteilt wird, eine der Ursachen vieler internationaler Probleme, brutaler kriegerischer Auseinandersetzungen, Terror gegen Andersdenkende und gewaltiger Flüchtlingsbewegungen in unseren Tagen.