Dass Rudolf Carnap eine Beziehung zu Esperanto hatte, ist seit Erscheinen seiner Autobiographie (1963) bekannt. Er beschreibt darin kurz, aber eindringlich, wie sehr ihn in seinen Jugendjahren diese internationale Plansprache angezogen hat. Die Beschäftigung damit war, wie ich erläutern werde, zeitlebens. Obwohl kein Carnap-Experte, fühle ich mich zu diesem Beitrag über den Esperantisten Carnap durch die Tatsache ermutigt, dass sein außerakademisches Wirken erst spät – lange nach seinem Tod, wenn ich es recht sehe – entdeckt und gewürdigt worden ist.Footnote 1

„Als ich etwa vierzehn war“, schreibt Carnap, „fiel mir eine kleine Broschüre mit dem Titel ‚Die Weltsprache Esperanto‘ in die Hände“ (Carnap, 1993, 107). Unter diesem Titel war 1891 in Nürnberg ein Büchlein erschienen, als dessen Autor Ludwig Lazarus Zamenhof firmierte, der Schöpfer des Esperanto.Footnote 2 Carnap könnte aber auch eine andere Publikation gemeint haben: Die Weltsprache (1908) von W.B. Mielck.Footnote 3 Etliche namhafte Personen, in deren Leben Esperanto eine Rolle spielte, haben die Sprache im Alter von vierzehn bis fünfzehn Jahren gelernt.Footnote 4 So also auch Carnap: „Ich war sofort begeistert von der Regelmäßigkeit und dem genialen Aufbau dieser Sprache, die ich begierig lernte“ (Carnap, 1993, 107). In der ungekürzten, nicht veröffentlichten Fassung seiner Autobiographie steht noch, dass er autodidaktisch gelernt und bald auf Esperanto mit Brieffreunden in anderen Ländern korrespondiert habe.Footnote 5 Am 14. Februar 1908 beginnt sein Tagebuch. Schon am 19. Februar trägt er ein, seine Schwester Agnes bringe ihm „Esperantosachen aus Berlin mit. Da freuʼ ich mich drauf“ (Carnap, 2022a, 68).

Unter dem Datum des 19. Mai 1908 bekennt er: „Ich schwärme wieder tüchtig für Esperanto“ (Carnap, 2022a, 73). In seinem Nachlass hat sich eine vom Esperanto-Weltbund ausgestellte „membrokarto“ erhaltenFootnote 6; dieser war erst am 28. April desselben Jahres gegründet worden. Carnap war bekannt, dass im Sommer in Dresden unter dem Patronat des sächsischen Königs der Vierte Esperanto-Weltkongress stattfinden werde. Die Mutter erlaubte ihm die Teilnahme. Der Siebzehnjährige machte sich Sorgen, ob er dazu die Genehmigung der Schule bekäme, ja, ob er vorher in die Esperantogruppe Barmen-Elberfeld eintreten dürfe, was er zur Einübung in die mündliche Konversation für nötig hielt. Es gab eine Liste der Wirtshäuser, in die Primaner gehen durften, und auf dieser Liste stand der Versammlungsort der Esperantogruppe nicht. Strenge Sitten: Der junge Rudi war sich nicht sicher, ob er nach der Schulordnung überhaupt Esperanto-Zeitschriften abonnieren durfte – drei bezog er schon. Am Ende dürfte Rudi, da die Mutter ihm die Reise nach Dresden erlaubt hatte, es vorgezogen zu haben, die Schulleitung nicht zu fragen. Er war da auch bereits Mitglied der Deutschen Esperantisten-Gesellschaft.Footnote 7 „Gott wolle alles zum Besten fügen!“ (Carnap, 2022a, 74), schreibt er hoffnungsvoll. Damit, am 19. Mai 1908, bricht das Tagebuch für drei Jahre ab.

Dass Carnaps Teilnahme am Dresdner Kongress zustande kam, wissen wir aus der gedruckten Teilnehmerliste (er wohnte im Hotel Reichspost) und vor allem aus seiner Autobiographie, in der er das Kongresserlebnis („wie ein Wunder“, Carnap, 1993, 107) begeistert schildert. Carnap hatte laut Tagebucheintrag vom 5. März 1908 die Nachricht beunruhigt, dass Zamenhof kränklich sei.Footnote 8 Mit umso größerer Freude war er dann im Sommer des gleichen Jahres Zeuge, wie sich Zamenhof von den 1500 Kongressteilnehmern in Dresden feiern ließ. Es war der bis dahin größte Esperantokongress. Carnap bekennt später, im nichtveröffentlichten Teil der Autobiographie, dass Zamenhofs Rede auf dem Kongress ihn besonders beeindruckt, ja fortan sein ganzes Leben bestimmt habe:

He talked in a modest, unpretentious way, but his deep feeling for the cause to which he devoted his whole life, was impressive and moving. Throughout my life the idea that our work should serve not only our own nation but the whole of humanity has remained one of my guiding ideas (Carnap, o. J.-a, N 14).Footnote 9

Weitere Quellen zu Carnaps Kongressteilnahme sind nicht überliefert – bis auf zwei Postkarten, die er im September 1908, etwa drei Wochen nach dem Kongress, von dem Philosophen und Theologen Otto Flügel (1842–1914), einem Herbartianer, bekommen hat.Footnote 10 Offenbar hatte Carnap den als Landpfarrer in Wansleben tätigen Flügel, der mit seiner Mutter und Schwester gut bekannt war, ins Esperanto eingeführt. Dieser machte nun dem jungen Mann die Freude, ihm zwei Postkarten zu schreiben, die auf Esperanto – sprachlich noch etwas ungelenk – verfasst waren. Darauf komme ich später noch zurück.

Durch den Kongress wurde Carnap zu einem richtigen Esperantisten: Rund fünf Wochen später bringt die wichtigste Zeitschrift der Esperantobewegung eine Anzeige, in der Carnap seinen Wunsch nach Brieffreundschaften kundtut – „mit Nichtdeutschen“, wie er vorsorglich präzisiert.Footnote 11 Um die gleiche Zeit oder etwas später beschäftigt er sich mit Denksportaufgaben. Für Mußestunden, die literarische Beilage der Verbandszeitschrift Germana Esperantisto, nimmt er an einem Aufsatzwettbewerb teil. Thema seines Beitrags (Carnap, 1909) ist der Nutzen von Rätseln zum Sprachenlernen; als Beispiele werden vorgestellt Scharaden, Homonyme, Logogriphen, Palindrome, Anagramme und Zahlenrätsel. Der Achtzehnjährige erzielt mit seinem Aufsatz ein gutes Ergebnis: Er kommt auf den dritten Platz (ihn übertreffen ein Dr. Kandt und ein Prof. Rohrbach). Carnap gab gleich auch selbst Rätsel auf. Sie waren, merkte die Schriftleitung an, keineswegs einfach. Fünfundzwanzig Leser sandten Lösungen ein, nur zwei bewältigten alle achtzehn Aufgaben fehlerlos.

1909 übersiedelte Carnap mit seiner Mutter und jüngeren Schwester von Barmen nach Jena. Er wurde dort örtlicher Delegierter des Esperanto-Weltbundes. Als solcher ist er in dessen Jahrbuch 1910/11 verzeichnet.Footnote 12 Der Name Rudolf Carnap („in Jena, Lindenhöhe“) findet sich auch unter den Beziehern des Volapükabled, nämlich in einer handschriftlichen, vom Volapükgründer Johann Martin Schleyer (1831–1912) angefertigten Liste der Abonnenten (März 1911).Footnote 13 Dies ist ein früher Beleg, dass sich Carnap über Esperanto hinaus für Plansprachen interessierte. Er gehörte nicht zu den Esperantisten, die zum Ido, dem 1907 von Louis Couturat (1868–1914) geschaffenen Reform-Esperanto, überliefen (vgl. Aray, 2019), aber die Diskussion über dieses und andere Sprachprojekte verfolgte er aufmerksam.Footnote 14 Carnap las in dieser Zeit auch die Schriften von Wilhelm Ostwald (1853–1932), möglicherweise auch die zu Esperanto.Footnote 15 Ergänzend zu dem Aufsatz von Hans Joachim Dahms möchte ich festhalten, dass die beiden einander auf keinem Esperantokongress begegnet sind, denn Ostwald war seit 1907 Anhänger des Ido. Dass Ostwald sich später (1915) zum Verfechter eines „Weltdeutsch“ wandelte,Footnote 16 dürfte Carnap mit Unverständnis zur Kenntnis genommen haben.

Den Weltkrieg überspringe ich, zitiere nur kurz aus einem Brief Carnaps an Bertrand Russell vom 17. November 1921. In diesem Brief, dem Carnap ein Exemplar seiner kürzlich fertiggestellten Doktorarbeit Der Raum (1922) beifügte, kommt besonders schön zum Ausdruck, in welchen Zusammenhängen Carnap dachte. Er dankt Russell nämlich dafür, dass er „schon zur Zeit des Krieges so freimütig gegen Geistesknechtung durch Völkerhass, und für menschlich-reine Gesinnung eingetreten“ (RC 102-68-34) sei.Footnote 17 Mit den gleichen Worten könnte man auch die Gründe für Carnaps Engagement für Esperanto kennzeichnen.

1922, vierzehn Jahre nach Dresden, konnte Carnap wieder an einem (dem 14.) Esperanto-Weltkongress teilnehmen. Die Reise ging nach Helsinki. Er schreibt darüber im Tagebuch und später in seiner Autobiographie.Footnote 18 Als weitere Quelle hat sich ein Brief Carnaps vom 22. September 1922 erhalten. Darin berichtet Carnap seinem in Mexiko lebenden Schwiegervater Heinrich Schöndube, der ihn finanziell unterstützt hatte, von der „langen und interessanten Reise“ (RC 102-23-02). Carnap war am 1. August in Freiburg abgereist. Die ersten Esperantisten lernt er auf der „Mira“ kennen, dem Schiff, das am 3. August von Lübeck abfährt in Richtung Helsinki. Man reist in der Dritten Klasse, dort herrscht „eine Seekrankheitsatmosphäre, die man sich kaum vorstellen kann“ (RC 102-23-02). Nach drei Tagen kommt das Schiff in Helsinki an, der Kongress beginnt am 6. August.

Auf der Eröffnungssitzung hält der Sprachwissenschaftler Eemil Nestor Setälä (1864–1935) den Festvortrag. Anschließend spricht der Schweizer Edmond Privat (1889–1962), für dessen Rede Carnap lobende Worte findet. Neun Regierungen hatten Vertreter entsandt, was Carnap im Brief an den Schwiegervater als einen Beleg dafür nimmt, „dass jetzt nach dem Kriege das Interesse für die Hilfssprache sehr erhöht ist“ (RC 102-23-02).

Um den Kontext etwas zu verdeutlichen: Der genannte Edmond Privat spielte eine wichtige Rolle bei den Bemühungen der Esperantobewegung, im 1918 gegründeten Völkerbund Gehör zu finden. Er arbeitete im Völkerbund als Übersetzer für Englisch und Französisch. Als Berater der persischen Delegation hatte er Zugang zum Völkerbund-Sekretariat in Genf, seiner Heimatstadt. Esperanto hatte im Völkerbund manche Freunde. Länder wie China und Japan bekundeten Sympathie. Aber die Hoffnungen der Esperantisten auf einen Durchbruch mit Hilfe des Völkerbundes wurden enttäuscht. Dies lag besonders an der esperantofeindlichen Haltung Frankreichs. Erziehungsminister Léon Bérard hatte im Juni 1922 angeordnet, dass öffentliche Schulen keine Räume für den Unterricht des Esperanto bereitstellen durften. Die Folgen waren in Helsinki noch nicht so recht erkennbar. Privat nährte weiter die optimistischen Erwartungen.

Carnaps Wertschätzung für Privat ist bezeichnend. Beide verband eine gemäßigte, nichtdoktrinäre Einstellung zum Sozialismus. Besonders bei Privat war diese auch religiös geprägt. Privat schrieb eine der ersten Biographien Zamenhofs und popularisierte dessen humanitäre Motivation. Mit seinem Einsatz für die Unabhängigkeit Polens machte er sich darüber hinaus einen Namen als Anwalt unterdrückter Völker.Footnote 19 Er war Romain Rolland freundschaftlich verbunden, bewunderte Rabindranath Tagore und begleitete in den dreißiger Jahren Mahatma Gandhi auf Reisen in Europa und sogar nach Indien.Footnote 20 Privat verkörperte die enge Verbindung der Esperantobewegung mit dem Kampf um eine neue Weltordnung nach dem Krieg. Wie Carnap war er zeitlebens ein Anhänger der Idee des Weltföderalismus.

Es ist unverkennbar, dass für Carnap auf dem Kongress neben Touristischem die Frage im Vordergrund steht, wie Esperanto zur Schaffung einer friedlicheren Welt beitragen könne. Er nimmt an einer Zusammenkunft esperantokundiger Pazifisten teil und erwähnt das Detail, dass der Holländer Christiaan Kamper Kritik am „bürgerlichen Pazifismus“ geübt habe. Auf einer Schiffsexkursion kommt Carnap mit zwei namhaften finnischen Pazifisten ins Gespräch, Aarne Selinheimo (1898–1939) und Felix Iversen (1887–1973).Footnote 21 Er trifft außerhalb des Kongresses den schon damals renommierten Sozialanthropologen Gunnar Landtman (1878–1940), der zwei Jahre Feldforschung auf Neuguinea betrieben hatte.Footnote 22 Erwähnt ist im Tagebuch auch ein Japaner.Footnote 23 Gemeint ist wahrscheinlich der Kunsthistoriker Shigeo Narita (1893–1982), der aus Paris, seinem Studienort, angereist war.Footnote 24 Man versteht, warum Carnap dem Schwiegervater „das Kennenlernen so vieler Menschen aus verschiedenen Völkern, und darunter mancher sehr interessanter“ (RC 102-23-02), als Hauptmerkmal der Kongresstage in Helsinki schildert.

Zum Kongress kamen rund neunhundert Teilnehmer aus einunddreißig Ländern. Die engste Verbindung hatte Carnap mit einem bulgarischen Studenten geknüpft. Es handelt sich um Atanas D. Atanassow (1897–1957). Die beiden hatten sich auf der „Mira“ kennengelernt.Footnote 25 „[V]ier Wochen lang waren wir fast ständig zusammen und wurden enge Freunde“ (Carnap, 1993, 108), berichtet Carnap später.Footnote 26 Von Atanassow ist bekannt, dass er fast ein Jahrzehnt, bis 1929, im Ausland lebte. Von Ende 1920 bis April 1923 studierte er in Halle Landwirtschaft. 1928 wurde er an der Sorbonne promoviert. Die Doktorarbeit ein Beitrag zur Weizenforschung – ist auf Französisch verfasst, hat aber ein Resümee auf Esperanto. Im Kreis der Esperantisten wurde Atanassow „doktoro Agro“ genannt. Der Esperanto-Weltbund brachte nach seinem Tod Atanassow war dessen Ehrenmitglied einen Nachruf, in dem es heißt: „Überall, wo er war, auch in Bulgarien, sprach er mit Esperantisten immer und nur Esperanto“.Footnote 27 Ähnlich hatte sich Carnap ausgedrückt. Mit Atanassow habe er sich „über alle möglichen Probleme des öffentlichen und persönlichen Lebens“ unterhalten, „immer, selbstverständlich, in Esperanto“, und er nennt dies einen Beleg dafür, dass Esperanto „einfach eine lebende Sprache“ (Carnap, 1993, 108) sei.

Manche nicht publizierte Details der Autobiographie, die sich auf Atanassow beziehen, sind hier interessant. Carnap gibt an, dass die beiden sich in ihrer Haltung zum Pazifismus etwas unterschieden hätten. Er selbst neige zu einem eher rationalen Zugang, Atanassow hingegen tendiere zu einem religiösen Pazifismus im Geiste Leo Tolstois.Footnote 28 Auch bei der Einstellung der Freunde zum Sozialismus, schreibt Carnap, habe es in der Motivation Unterschiede gegeben, aber ebenfalls nur geringfügige. Gern sprachen die beiden offenbar über Themen wie Nationalismus und die Zukunft der Menschheit. Auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern kam zur Sprache. Seinen Freund Atanas habe die Frage sehr beschäftigt, wovon sich ein Mann bei der Wahl seiner Lebenspartnerin leiten lassen solle.Footnote 29 Carnap schreibt seinem Schwiegervater, ihn und Atanassow habe auf der Reise auch die Neigung zu vegetarischer Kost miteinander verbunden.Footnote 30 „[W]ir hielten uns beide in Helsingfors und später mehr an Marktbuden und Bäckerläden [auf] als an Restaurationen“ (RC 102-23-02).

Von Finnland war Carnap sehr beeindruckt. Er berichtet: „[E]rfreulicherweise ist auch die Arbeiterschaft in den Städten nicht etwa degeneriert […] und ist gesunden und fortschrittlichen Gedanken sehr zugänglich“ (RC 102-23-02). Jeder Bauer habe neben seinem Wohnhaus eine Sauna-Hütte. Carnap genießt das heiße Bad und rühmt auch das seit zwei Jahren in Finnland bestehende Alkoholverbot; nur „die gebildeten Schichten der Städte“ (RC 102-23-02) seien dagegen.

Nach dem Kongress reisen Carnap und Atanassow per Anhalter durch Finnland und die neuen baltischen Republiken. „Wir wohnten bei gastfreundlichen Esperantisten und kamen mit vielen Leuten in Kontakt“ (Carnap, 1993, 108). Drei junge Estinnen, die Carnap in Helsinki kennengelernt hatte, die Schwestern Helmi, Hilda und Agnes Dresen, laden ihn zum Mittagessen ein und führen ihn danach durch Tallinn (Reval).Footnote 31 In der provisorischen Hauptstadt Litauens, dem jüdisch geprägten Kaunas (Kowno), erwirbt Carnap viele Esperantobücher. Er trifft den Baltendeutschen Paul Medem (1862-1925) wieder, einen führenden litauischen Esperantisten, der ebenfalls in Helsinki gewesen war und unter anderem Tolstoi ins Esperanto übersetzt hatte.

Die Freunde trennen sich erst in Halle, an Atanassows Studienort. Carnap notiert am 9. September 1922: „Mit Esp. gelebt“ (Carnap 2022b, 123), und meint damit die fünfunddreißig Tage des Zusammenseins mit Atanassow. Schon nach neun Tagen, inzwischen wurde Carnaps Sohn Johannes geborenFootnote 32, sehen sie sich wieder – in Buchenbach. Gemeinsam besuchen sie am 21. September 1922 die Freiburger Esperantogruppe. Dort stößt ein prominenter Bulgare hinzu: Iwan Dimitrow Schischmanow (1862–1928) mit seiner aus Kiew stammenden Ehefrau Lidija. Schischmanow, in Leipzig promoviert, war vor dem Krieg, von 1903 bis 1907, bulgarischer Bildungsminister. Er wurde in Freiburg der erste Professor für Slawistik.Footnote 33 Schischmanow war ein großer Freund des Esperanto, seine ukrainische Ehefrau sprach es.Footnote 34 In Bulgarien rief er 1927 eine bulgarische Sektion der Paneuropa-Bewegung des Grafen Richard Coudenhove-Kalergi ins Leben.

Carnaps Tagebuch zufolge wird die Zeit neben Ausflügen mit Atanassow zum Feldberg vor allem für Esperanto-Aktivitäten genutzt. Er berichtet auch, dass er an einer Übersetzung des Buches von Traugott Konstantin Oesterreich, Der Okkultismus im modernen Weltbild (1921), ins Esperanto arbeite,Footnote 35 sowie von häufigen Zusammentreffen mit dem Leiter der Gruppe, dem wohlhabenden Holzkaufmann Franz Döring (1889–1959); ihn berät Carnap bei dessen Esperanto-Übersetzungen.Footnote 36 Am 27. September 1922 nimmt Carnap vorläufig Abschied von Atanassow.

Am 5. Januar 1923 wird in Carnaps Tagebuch die erste Esperantostunde mit Elisabeth, seiner ersten Ehefrau, erwähnt.Footnote 37 Der Unterricht wird während des Aufenthalts der beiden in Mexiko fortgesetzt, wo Elisabeth 1895 geboren war. Ihr Interesse an Esperanto, und auch das ihrer jüngsten Schwester Octavia, auch Mädele genannt, erlahmt bald.Footnote 38 Aber dafür ist ihr dauerhaft in Mexiko lebender Vater Heinrich Schöndube, dem Carnap so begeistert vom Kongress in Helsinki berichtet hatte, Feuer und Flamme. Bis zum 25. September hat Schöndube das Lehrbuch durchgearbeitet, am 29. schon Tolstoi auf Esperanto gelesen.Footnote 39 Wegen der Mexikoreise verpasst Carnap 1923 den in Nürnberg stattfindenden Weltkongress, der mit fünftausend Teilnehmern einen Rekord markiert. Atanassow berichtet ihm über den Kongress, als Carnap ihn am 6. November 1923 in Halle besucht.Footnote 40

Anfang August 1924, als in Wien der nächste Weltkongress stattfindet, ist Carnap wieder dabei. „Auf dem Dampfer [nach Wien] viel Esperantisten“, notiert er sich. Von Edmond Privat, der auf diesem Kongress zum Präsidenten des Esperanto-Weltbundes gewählt wird, ist Carnap abermals beeindruckt: „Feierliche Eröffnungssitzung“ […], „ergreifende Rede von Privat“, vermerkt er.Footnote 41

Wir lesen: „Prof. Schlick und [Arthur Erich] Haas vergeblich zu treffen gesucht. Nachmittags mit dem spanischen Kommandanten Mangada lange gesprochen (friedlicher Charakter des spanischen Volkes; er selbst friedliebend trotz Uniform)“ (Carnap, 2022b, 215).Footnote 42 Carnap lernt auf dem Wiener Kongress Atanassows Schwester Elena kennen. Zusammen mit Lidija Schischmanowa wohnt er der Enthüllung einer Gedenktafel am Hotel Hammerand (Ecke Florianigasse/Schlösselgasse) bei, in dem Zamenhof 1886 und 1895 gewohnt hatte.Footnote 43 Mit dessen Witwe Klara Zamenhof und anderen fährt er nach Schönbrunn. Zwischendurch kommt Nicht-Esperantistisches zur Sprache, wie der Tagebucheintrag vom 8. August 1924 zeigt:

Nachmittags Lichtbildvortrag in Esperanto über Geburtenbeschränkung. Dann Radiogesellschaft; ich zeichne eine Aktie für 100 Franc für die Esperanto Radiostation. Abends mit Neuraths essen gegangen; über Großstadt gesprochen, über die Geschichte vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus, Napoleons Rolle, Molos Roman vom Befreiungskrieg. Dann bei Neuraths, auch der Physiker Levy dort, über Verbundenheit mit dem Proletariat, proletarische Weltanschauung, Anwendung von Kaffee. Bis Mitternacht diskutiert, ging sehr gut (Carnap 2022b, 215).Footnote 44

Im Wiener Bürgertheater wird ein Theaterstück auf Esperanto aufgeführt: Der Verschwender (UA 1834) von Ferdinand Raimund. Winfried Löffler meint, dass hier vielleicht eine Erklärung für Wittgensteins Ablehnung des Esperanto liege; dieser dürfte mitbekommen haben, dass die konservative Presse in Wien gegen das Sakrileg zu Felde gezogen war, das Stück eines Vertreters des Alt-Wiener Volkstheaters in eine Plansprache zu übersetzen.Footnote 45 Ähnlich war der Tenor im Deutschen Reich. Goethes Iphigenie (UA 1779, Goethe, 1908) ins Esperanto zu übersetzen – die Aufführung war für Carnap ein „Höhepunkt des [Dresdner] Kongresses“ (Carnap, 1993, 108) – wurde von deutschnationaler Seite als „ein Frevel am Heiligen“ (Streicher, 1926, Sp. 138) gebrandmarkt. Es ist allerdings wahrscheinlicher, dass Wittgenstein von Fritz Mauthner inspiriert wurde, der „die Erfindung einer brauchbaren Kunstsprache ein Ding der Unmöglichkeit“ (Mauthner, 1920, 19) genannt und seiner Abneigung speziell des Esperanto mehrmals in sehr polemischer Form Ausdruck verliehen hatte.Footnote 46 Anders ausgedrückt: Es bedurfte wohl nicht der Theateraufführung in Wien, um bei Wittgenstein Antipathie gegen Esperanto zu wecken.Footnote 47

Im Jahr darauf, 1925, findet der nächste Kongress statt – dieses Mal in Genf. Und wieder gibt es, notiert Carnap, eine „schöne Rede von Privat“ (Carnap 2022b, 252).Footnote 48 „Esperanto ist das Konkrete des Pazifismus oder Internationalismus oder Völkerbund“ (ebd.), hält er stenographisch fest. Er selbst hat Esperanto und Pazifismus publizistisch weit weniger miteinander verknüpft als Edmond Privat oder der Österreicher Alfred Hermann Fried.Footnote 49 Carnap hört in Genf mehrere Vorträge, so den eines Chinesen über Konfuzius,Footnote 50 und, im Rahmen der Kongressuniversität, einen Vortrag von John Carl Flügel von der Londoner Universität. „[S]ehr guter kurzer Überblick über Geschichte und Theorie [der Psychoanalyse]; spricht frei und interessant“ (Carnap 2022b, 253), hält Carnap im Tagebuch fest.Footnote 51

Fasst man Carnaps knappe Bemerkungen zu den drei Nachkriegskongressen zusammen, an denen er teilnahm, so spürt man, dass er mit wachem Interesse den Ablauf der Kongresse verfolgte und Gespräche mit den Teilnehmern führte. Er ist nicht unkritisch. Über eine Pazifistensitzung in Helsinki notiert er, es sei „nicht viel los“ (Carnap 2022b, 117) gewesen. Zu der Wiener Theateraufführung meint er: „gut gespielt, etwas deutsche Aussprache“ (Carnap 2022b, 216) – er verschweigt, dass es Berufsschauspieler waren, keine Esperantisten. Zu einem Vortrag des Deutschen Johannes Dietterle (1862–1942) in Genf heißt es: „über Esperantosyntax; spricht korrekt, aber umständlich, und schlechte, deutsche Aussprache“ (Carnap 2022b, 253).Footnote 52 In Helsinki notierte Carnap am 9. August 1922: „Sitzung der Wissenschaftler, langweilig, Dr. Döhler“ (Carnap 2022b, 116).Footnote 53 Der Psychologe Charles Baudouin redet in Genf „etwas zu salbungsvoll“ über Esperanto und Bahai, der Exilrusse Peter Stojan „nicht sehr gründlich“ (Carnap 2022b, 253) über Wissenschaft und Religion.Footnote 54 Manche Beobachtung bleibt unkommentiert, wie etwa der kurze Tagebucheintrag vom 3. März 1927: „Lösung des Sprachproblems der Kleinvölker durch Esperanto“ (Carnap 2022b, 320).

Nach Genf nahm Carnap an keinem Esperantokongress mehr teil. Überhaupt sind die Quellen zu seinem weiteren Esperanto-Engagement spärlich. In Wien, wo er von 1926 bis 1931 lebte und wirkte, und in den Jahrzehnten danach, also auch in den USA, widmete er sich nahezu ausschließlich wissenschaftlichen Fragen. Zwar hatte er spätestens 1922 deutlich gemacht, dass Esperanto auch in der Wissenschaft Raum haben könnte. In diesem Jahr ist er als Mitglied der Internacia Scienca Asocio Esperantista (ISAE) verzeichnet.Footnote 55 Er übernahm in der ISAE die Aufgabe eines „Fachleiters für ein Wörterbuch der Philosophie und Psychologie“ und erklärte sich bereit, eine philosophische und psychologische Terminologie in Esperanto aufzustellen.Footnote 56 Darüber und über Esperanto-Wörterbücher allgemein, auch über die Arbeiten von Eugen Wüster, dem Begründer der Wiener Schule der Terminologielehre,Footnote 57 tauschte er sich mit mehreren Gleichgesinnten aus. Flügel sagte ihm zu, „am Terminaro [i.e. dem Begriffswörterbuch, U.L.] über Psychologie“ mitzuarbeiten.Footnote 58 Aus dem Projekt wurde nichts oder nur wenig. Im Mai 1926 berichtete Carnap, er habe eine Liste der in Frage kommenden Begriffe zusammengestellt und etwa 1500 Zettel angelegt, die Arbeit aber schon vor fast einem Jahr unterbrochen.Footnote 59 Nebst Zeitmangel führte er das bevorstehende Erscheinen des Vocabulaire technique et critique de la philosophie von André Lalande an.Footnote 60 Gleichzeitig schlug er vor, seine Aufgabe an den Slowaken Stanislav Kamarýt (1883–1956) abzugeben.Footnote 61

Carnap blieb jedoch Esperantist, mit Interesse an allen Feinheiten der Sprache.Footnote 62 Gleichzeitig konnte er auch kämpferisch sein. Davon zeugt der häufig zitierte Zusammenstoß mit Ludwig Wittgenstein am 20. Mai 1927, von dem Carnap im Tagebuch und später in der Autobiographie berichtet.Footnote 63 Widerstände gegen Esperanto als eine nicht „organisch gewachsene“ Sprache hat es immer gegeben. Der emotionale Ausbruch Wittgensteins gegen Esperanto hingegen überraschte und befremdete Carnap. Wittgenstein schrieb Jahre später (1936), es mute seltsam an, „einen Ausdruck der Herzlichkeit in diese Kunstsprache übersetzt zu hören“ (zitiert nach Löffler, 2005, 211). Auf ihn mag es geradezu abstoßend gewirkt haben, dass binationale esperantistische Eltern, wie dies damals öfter vorzukommen begann, ihre Kinder mit Esperanto als erster Sprache aufzogen.Footnote 64

Carnap wirft Wittgenstein in diesem Zusammenhang in seiner Autobiographie verallgemeinernd vor, ihm seien „alle Ideen, die im Geruch der ‚Aufklärung‘ standen“ (Carnap, 1993, 41), zuwider gewesen. Ob dies so zutrifft, kann hier nicht genauer untersucht werden. Aber zweifellos hat Esperanto mit Fortschritt, Aufklärung und Sozialismus viel zu tun. Carnap schreibt seinem Schwiegervater: „[D]ie hauptsächlichen Vorkämpfer des Esperanto kommen meist von der Seite des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ (RC 102-23-02). Nicht nur Parteiführer und Zeitungsleute sollen „sich verstehen können, sondern die Arbeiter selbst“ (RC 102-23-02). Freilich blieb Carnap dem politisch neutralen Esperanto-Weltbund treu. Von der zwischen den Weltkriegen starken Arbeiter-Esperantobewegung hielt er sich fern, vielleicht auch, weil dort in den zwanziger Jahren sowjetfreundliche Kommunisten den Ton angaben. Von Kontakten Carnaps zur österreichischen Esperantobewegung ist, abgesehen von seiner Teilnahme am Wiener Kongress, nichts bekannt, auch nicht von Beziehungen zu deren sozialistischem Zweig (in dem Franz Jonas, der spätere Bundespräsident, sehr aktiv war).

In den Tagebüchern finden sich verstreut weitere Hinweise auf Esperanto. Am 28. Mai 1927 notiert Carnap nach einem Besuch der Familie Schlick erfreut: „Mit Albert [i.e. dem knapp achtzehnjährigen Sohn Schlicks, U.L.] Esperanto gesprochen, er hat ganz alleine gelernt, hat keine Übung im Sprechen, spricht aber gut“ (Carnap 2022b, 340f.). Am 22. Dezember 1930 ist vermerkt: „Metaphysik gearbeitet. Abends oft Esperanto“ (Carnap 2022b, 498).Footnote 65 An anderen Stellen der Tagebücher erwähnt er Gespräche über Esperanto, so mit dem Polen Tadeusz Kotarbiński (1886–1981) und dem Japaner Tomoharu Hirano (1897–1979).Footnote 66 Bei zwei Besuchen (am 28.04.1923 in New York und 26.12.1935 in Harvard) unterhielt sich Carnap mit dem Mathematiker Edward V. Huntington (1874–1952) auf Esperanto.Footnote 67 Gern nahm er Gelegenheiten wahr, für Esperanto zu werben. Auf eine „sehr gegen Esperanto“ eingestellte Wiener Anwaltsgattin wirkte er so lange ein, bis – „sie meint, sie muss es also doch lernen“.Footnote 68 Wann immer ein neues Plansprachenprojekt veröffentlicht wurde, reagierte Carnap mit Neugier und Unvoreingenommenheit. Esperanto stand da nicht im Wege. „Wie ich für das Toleranzprinzip auf dem Gebiet logischer Sprachen eintrat“, lesen wir in seiner Autobiographie, „so stehe ich auf dem Gebiet internationaler Sprachen auf der Seite derer, die für ein gemeinsames Ziel und die Gerechtigkeit der dafür vorgeschlagenen Mittel eintreten“ (Carnap, 1993, 109). Carnap wusste vermutlich, dass Zamenhof bereit gewesen war, auf sein Esperanto zu verzichten, wenn sich zeigen sollte, dass die Idee einer internationalen Sprache auf einem anderen Wege besser und schneller verwirklicht werden könnte. Man darf sicher sein, dass ein Wesenszug Zamenhofs Carnap besonders beeindruckt hat, nämlich dessen Verzicht auf jegliche persönliche Rechte am Esperanto.Footnote 69 Damit unterschied sich Zamenhof von Schleyer, dem Gründer des Volapük, der seine Sprache als persönliches Eigentum betrachtete. Zamenhof beharrte darauf, selbst nicht Schöpfer, sondern nur der Initiator der Sprache zu sein. Eine ähnliche Einstellung findet sich in Carnaps Vorwort zu Der logische Aufbau der Welt (1928): „Die Grundeinstellung und die Gedankengänge dieses Buches sind nicht Eigentum und Sache des Verfassers allein, sondern gehören einer bestimmten wissenschaftlichen Atmosphäre an, die ein Einzelner weder erzeugt hat, noch umfassen kann“ (Carnap, 1928, IV). Der Verzicht Zamenhofs auf Autorenrechte ist in der Geschichte der Plansprachenprojekte einzigartig. Er gilt allgemein als eine der Ursachen dafür, dass Esperanto seine Konkurrenten hinter sich gelassen hat.Footnote 70

In der Autobiographie spielt Carnap darauf an, dass zwischen den Befürwortern der verschiedenen Projekte „heftige, sektiererische Debatten“ (Carnap, 1993, 109) stattfanden. Er blieb unparteiisch. Ihn interessierten die Projekte, die dem Esperanto überlegen zu sein beanspruchten, die wenig verbreitet, aber theoretisch interessanter waren, da sie sich auf die Erfahrungen mit Esperanto stützten. Er räumte sogar ein, dass Ido besonders für die Wissenschaft geeigneter sei als Esperanto.Footnote 71 1931 wurde er von dem italienischen Mathematiker Giuseppe Peano (1858–1932) gebeten, einen Beitrag über Latino sine flexione zu schreiben und Ehrenmitglied in der Academia pro Interlingua zu werden. Er sagte ab. Peanos Projekt erschien ihm zu archaisch, für Nichteuropäer sei es zu schwer zu erlernen.Footnote 72

Carnaps einzige öffentliche Stellungnahme zum Thema blieb, abgesehen von verschiedentlichen Anmerkungen in seiner Autobiographie, ein kurzer Leserbrief, der 1944 in Books Abroad erschien.Footnote 73 Auslöser war ein dort zuvor erschienener Artikel, in dem Kritik am Basic English geübt worden war. Carnap nahm dies zum Anlass, die Notwendigkeit einer internationalen Sprache zu betonen und gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass es kein perfektes System geben werde. Angeregt von Otto Neurath (1882–1945), hatte sich Carnap Ende 1933 von C.K.Ogden (1889–1957), dem Autor des Basic English, einige Lehrbücher schicken lassen und dazu angemerkt, dass er auf Esperanto „nicht dogmatisch festgelegt“Footnote 74 sei. Carnap räumte gegenüber Ogden ein, dass Basic English mehr Chancen habe, sich durchzusetzen, denn anders als Esperanto sei es den natürlichen Sprachen nicht so fern und könne sofort in Gebrauch genommen werden. Aber ihm missfiel der Anglozentrismus des Basic English. Anders als Neurath war Carnap von Basic English, das er aufmerksam studierte, nicht überzeugt. Er hielt Esperanto für einfacher. Vergeblich drängte Ogden ihn, sich für Basic English öffentlich einzusetzen.Footnote 75

Anfang September 1939, wenige Tage nach Ausbruch des Krieges in Europa, nahm Carnap an Harvard am Fünften Kongress für die Einheit der Wissenschaft teil. Er berichtet darüber in seiner Autobiographie. Der Passus, der in der „aufregenden Weltlage“ die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ausdrückte, fiel den Kürzungen für die Publikation zum Opfer.Footnote 76 Der Kongress hatte zwei Resolutionen verabschiedet Die erste bekräftigte die Absicht, den nächsten Kongress in Warschau, der gerade von Hitlers Armee besetzten Stadt, abzuhalten.Footnote 77 Die zweite empfahl, sich auf künftigen Kongressen mit der Frage einer internationalen Hilfssprache zu befassen.

1939 und unmittelbar nach Kriegsende hatte Carnap Kontakt zur 1924 gegründeten International Auxiliary Language Association (IALA).Footnote 78 Am 27. Juli 1939 schrieb Carnap einen längeren Brief an Mary Bray, Executive Secretary der IALA, worin er unter anderem berichtete, wie sehr ihn Zamenhofs Rede (in Dresden) beeindruckt und dass die Beschäftigung mit Esperanto auch sein Interesse an den theoretischen Fragen der Schaffung einer Plansprache geweckt habe. Er habe dafür in der Nachfolge von Couturat und Peano die Methoden der logischen Analyse anwenden wollen, aber dazu werde ihm wohl auch in den nächsten Jahren die Zeit fehlen. Er bot der IALA seine Kooperation an.Footnote 79 Mary Bray versprach ihm, seinen Brief an Alice Vanderbilt Morris (1874–1950), die auch finanziell maßgebliche Förderin der IALA, weiterzuleiten.Footnote 80 Für die Arbeit der IALA fand Carnap lobende Worte, allerdings verbunden mit der Kritik, dass die IALA zu sehr auf Forschungsergebnisse setze und die Beteiligten nicht genug miteinander kommunizierten.Footnote 81

1946 beantwortete Carnap einen Fragenkatalog der IALAFootnote 82 und fügte ein langes Memorandum („Additional Comments on IALA Questionnaire“) hinzu,Footnote 83 von dem er in der Autobiographie schreibt: „[T]his is the only active contribution which I have made in the field of planning an international language“ (Carnap, o. J.-a, N 26). Carnap hatte für seinen Beitrag große Sorgfalt aufgewendet und die Fragen der IALA zum wünschenswerten Charakter einer internationalen Hilfssprache bis ins kleinste Detail beantwortet. Sehr ausführlich bewertete er das Für und Wider bestimmter Eigenschaften der verschiedenen Sprachprojekte. Was von seinen Anregungen aufgenommen worden ist, müsste von interlinguistischen Spezialisten noch untersucht werden.

Das Ergebnis der Arbeit der IALA war das hauptsächlich von dem deutschstämmigen Amerikaner Alexander Gode (1906–1970) verantwortete Projekt Interlingua, dessen Endfassung 1951 präsentiert wurde.Footnote 84 Interlingua stieß nur auf mäßiges Interesse. Die internationale Dominanz des Englischen hatte sich weiter gefestigt. Mit dem Tod von Allice Morris im August 1950 verlor die IALA ihre wichtigste Stütze, drei Jahre später löste sie sich auf. Damit endete die Zeit, in der Wissenschaftler, Publizisten und Politiker über eine internationale Plansprache diskutierten.Footnote 85

Carnap dürfte schon vor seiner Übersiedlung in die USA klar geworden sein, dass – von Wittgensteins Antipathie einmal abgesehen – die Widerstände gegen eine künstliche internationale Sprache erheblich waren. Nach einem Gespräch mit dem schwedischen Philosophen und Sozialdemokraten Malte Jacobsson (1885–1966) notierte er am 16. November 1932 dessen Skepsis: „Er glaubt nicht, dass einmal ein Esperanto kommen wird“ (Carnap 2022b, 565). Ähnlich äußerte sich Neurath ihm gegenüber offenbar wiederholt: „Esperanto wird sich nicht durchsetzen, weil für die Menschen nicht genügend Nutzen und damit Anreiz“ (Carnap 2022b, 611).Footnote 86

Angesichts des Misserfolgs der IALA wurden viele Interlinguisten von Resignation erfasst. Die Aussicht, gegen das Englische noch anzukommen, erschien zu gering.Footnote 87 Carnap jedoch bewahrte seinen Enthusiasmus. Seine Gründe hierfür werden auch aus der Korrespondenz deutlich, die er 1939 und nach Kriegsende mit dem aus Frankreich stammenden, in Stanford lehrenden Literaturwissenschaftler Albert Léon Guérard (1880–1959) führte. Guérard hatte ihm den Kontakt zur IALA vermittelt.Footnote 88 Er war Autor der 1922 erschienenen Short History of the International Language Movement, in der die Arbeit für eine internationale Zweitsprache als Bestandteil der Bestrebungen des Völkerbundes präsentiert worden war.Footnote 89 Guérard interessierte sich vor allem für die politischen Aspekte des Sprachenproblems. Obwohl kein Esperantist, argumentierte er überwiegend im Sinne der Esperantobewegung. Für Zamenhof und seine „interna ideo“ fand er Worte der Bewunderung.Footnote 90 Ende April 1945 nahm Carnap den Kontakt zu Guérard wieder auf.Footnote 91 Carnaps Einschätzung der Lage in der Welt war düster, er bekräftigte aber: „I keep my optimism for the long-range development of humanity“ (RC 102-45-02).Footnote 92 Er forderte Guérard auf, etwas über das „deprimierende Babel“ auf der Konferenz von San Francisco zu veröffentlichen.Footnote 93 Carnap ermunterte ihn auch zu einer Neuauflage seines Buches von 1922; diese „würde großes Interesse finden, auch die Ideen über Menschheit und ihre Institutionen“ (RC 102-45-05).Footnote 94 Wenn Guérard das Esperanto mit Frieden und Fortschritt identifizierte,Footnote 95 so entsprach dies sicherlich auch Carnaps Einstellung.

Ob Carnap wirklich ein aktives Mitglied der Esperantobewegung war, wie André Carus an einer Stelle hervorhebt, ist letztlich eine Frage der Interpretation.Footnote 96 Seit Mitte der zwanziger Jahre hat er wohl kaum mehr getan, als Mitgliederbeiträge zu zahlen. Er schickte dem Esperanto-Weltbund ein Autorenexemplar des Abriss der Logistik (1929).Footnote 97 Den Funktionsträgern des Weltbundes wurde erst spät, nämlich in den sechziger Jahren bewusst, welche Berühmtheit sich in ihren Reihen befand. Dies durch einen Hinweis von nichtesperantistischer Seite, dem Verlag Mouton, mit dem man damals über die Herausgabe einer Zeitschrift zum internationalen Sprachenproblem verhandelte.

Einige kalifornische Esperantisten hatten erfahren, dass in ihrer Nähe ein interessanter Gelehrter mit Esperantobezug lebte. Ab und zu korrespondierte Carnap, meist auf Esperanto, mit dem Fabrikanten Donald E. Parrish (1889–1969) in Los Angeles, dem Chefdelegierten des Esperanto-Weltbundes für die USA. Thema war unter anderem eine esperantofreundliche Resolution der UNESCO.Footnote 98 Parrish bestätigt den Zahlungseingang für Esperanto-Zeitschriften (darunter das Organ der esperantosprechenden Weltföderalisten) und dankt Carnap für seinen Beitritt zur Nordamerikanischen Esperanto-Liga.Footnote 99 Parrish berichtet von den ersten Erfolgen der Liga. Carnap nimmt das, wie seine Unterstreichungen im Brieftext zeigen, mit Interesse zur Kenntnis; ihm war vermutlich bekannt, dass die Liga beschuldigt wurde, unter dem Einfluss „marxistischer Elemente“ zu stehen.Footnote 100 Er lädt Parrish ein, ihn einmal zu besuchen.Footnote 101

Als 1963 Carnaps Autobiographie erschien, enthielt sie ein Kapitel „Sprachen planen“.Footnote 102 Bevor er begonnen habe, sich mit der Sprachplanung in der symbolischen Logik zu befassen, schreibt er, habe ihn die Frage einer internationalen Hilfssprache beschäftigt. Da er dieses Thema in seinen Veröffentlichungen bisher nicht behandelt hatte,Footnote 103 wollte er etwas ausführlicher darauf eingehen. Für die publizierte Fassung wurde auch hier gekürzt. Geblieben ist die lebendige Schilderung seines Esperanto-Engagements, dessen Einzelheiten gerade auch für die meisten Esperantisten gänzlich neu waren. Zwei Passagen sind seitdem mehrfach zitiert worden.Footnote 104 Zum einen Carnaps Erinnerung an den Dresdner Kongress von 1908:

Ein Höhepunkt des Kongresses war eine Aufführung von Goethes Iphigenie in Esperanto. Mir war es eine bewegende und erhebende Erfahrung, dieses Drama, durchzogen vom Geist der Menschlichkeit, in einem neuen Medium ausgedrückt zu hören, das es tausend Zuschauern aus vielen Ländern verständlich machte, so daß sie sich geistig zusammengehörig fühlen konnten (Carnap, 1993, 108).Footnote 105

Sowie eine Passage, die sich an die Skeptiker richtete:

Nach solchen Erfahrungen kann man die Argumente derjenigen nicht sonderlich ernst nehmen, die behaupten, eine internationale Hilfssprache könne ja für Geschäftsangelegenheiten und vielleicht noch für die Naturwissenschaft taugen, sei aber kein geeignetes Kommunikationsmittel für Persönliches, für Diskussionen in den Sozial- und Geisteswissenschaften, ganz zu schweigen von Romanen oder Dramen. Ich stellte fest, daß die meisten, die so etwas behaupten, keinerlei praktische Erfahrung mit dieser Sprache hatten (Carnap, 1993, 108).

Zusammenfassend schreibt Carnap: „Was in der Jugend mein Interesse an einer internationalen Sprache weckte, waren einmal das humanitäre Ideal einer Verbesserung des Verständnisses zwischen den Nationen, zum anderen das Vergnügen, eine Sprache zu benutzen, die erstaunliche Flexibilität der Ausdrucksmittel mit großer struktureller Einfachheit verband“ (Carnap, 1993, 108 f).Footnote 106 Im Anschluss daran führt er aus, dass sich sein Interesse im Lauf der Zeit „mehr den theoretischen Problemen“ der Sprachplanung zugewandt habe. Beispiele dafür sind seine Ratschläge an die IALA und seine Korrespondenz mit Gode und Guérard. Dies war insgesamt eine eher bescheidene Aktivität. Seine wissenschaftlichen Arbeiten scheinen ihm kein stärkeres Engagement erlaubt zu haben.

Im Februar 1968 wird Carnap vom Esperanto-Weltbund eingeladen, Mitglied im redaktionellen Beirat der von Mouton geplanten neuen Zeitschrift zu werden, was er wegen Arbeitsüberlastung und Krankheit ablehnt.Footnote 107 Gegen Ende seines Lebens erwacht sein Interesse erneut. Dass ihn nicht nur Esperanto, sondern auch neue Projekte weiterhin interessierten, zeigen entsprechende Karteikarten in seinem Nachlass, die er offenbar überwiegend in seinen letzten Lebensjahren angelegt hat.

Am 1. Juli 1970 schreibt Carnap dem Nachfolger von Donald Parrish, Armin F. Doneis (1906–2000) in Texas,Footnote 108 seine vielleicht letzten Esperanto-Zeilen. Er entschuldigt sich für die handschriftliche Form. Er habe gerade eine Augenoperation hinter sich. Jetzt könne er zwar wieder lesen und schreiben. Aber er könne nicht Schreibmaschine schreiben und seine studentische Hilfskraft sei des Esperanto nicht mächtig.Footnote 109 Ebenfalls Anfang Juli 1970 erhält Carnap einen Anruf von dem in Reseda, also in seiner Nähe lebenden Esperantisten R.C. Marble (1914–2003).Footnote 110 Der pensionierte Hauptmann berichtet Carnap, dass Pavle Mitrović (geb. 1887), ein Interlinguist in Sarajevo, gern wieder von ihm hören würde,Footnote 111 und lädt ihn für den 19. Juli zu einem Treffen mit dem schottischen Esperanto-Dichter William Auld (1924–2006) in Pasadena ein; man werde ihn abholen.Footnote 112

Das gleichbleibende Interesse an Sprachplanung weckt bei Carnap zu dieser Zeit, kurz vor seinem Tod, die Erinnerung an weit zurückliegende Jugenderlebnisse. Er meldet sich bei Mitrović sofort und nimmt dabei Bezug auf ein Buch des in Uppsala lehrenden Esten Valter Tauli (1907–1986), Introduction to a Theory of Language Planning, das er gerade gelesen hatte.Footnote 113 Carnap schreibt Tauli bald selbst und lobt das Buch.Footnote 114 Es sei das bisher beste auf diesem Gebiet. Allerdings hatte Carnap wohl einen anderen Inhalt erwartet – Tauli ging es besonders um Sprachneuerungen in ethnischen Sprachen, nur am Rande um internationale Plansprachen.Footnote 115 Mit seinem Brief an Tauli macht Carnap seinem Ruf eines „pedantischen Rationalisten“ alle Ehre.Footnote 116 Er bemängelt, dass Tauli dem Leser durch viele Abkürzungen die Lektüre erschwere. Verwirrenderweise bedeute „AL“ auf S. 25 „Applied Linguistics“, auf S. 83 und 216 „arbitrary lexeme“ und auf S. 204 „Acta Linguistica“. Gleichsam als versöhnlichen Ausgleich bringt Carnap eine historische Reminiszenz. Er erinnert an die fast fünfzig Jahre zurückliegende Reise mit seinem bulgarischen Freund nach Estland, auch nach Tartu (Dorpat), wo Tauli studiert hatte, und richtet den Blick zugleich in die Zukunft. Carnap begrüßt es, dass Tauli, anders als die meisten Interlinguisten, auch den ästhetischen Aspekten der Sprachplanung Aufmerksamkeit schenke.

Weiterhin gibt er Tauli darin recht, dass für die Bildung einer internationalen Sprache mehr Forschung vonnöten sei, deutet dann aber an, dass dies einstweilen nichts bringe, denn die Durchsetzung einer solchen Sprache sei eine Machtfrage. Schon im März 1934 hatte er nach einem Gespräch mit Neurath dessen Meinung notiert, eine „offizielle Einführung [des Esperanto] durch Staaten“ werde nicht kommen. Carnap fand an der Aussicht keinen Gefallen, „das einfachere Esperanto verlassen zu müssen“ (Carnap 2022b, 611), wenn sich Basic English verbreite. Jahrzehnte später – Basic English hatte sich nicht durchgesetzt, dafür stärkte Englisch seine Stellung als Verkehrssprache – übermittelt Carnap Tauli seine Einschätzung, dass die Kosten für Dolmetschen und Übersetzen in naher Zukunft auf ein unerträgliches Maß steigen würden. Dann könnten die Vereinten Nationen (beziehungsweise Europa) gezwungen sein, sich mit einer Lösung durch eine internationale Hilfssprache zu befassen und dafür Forschungen in Auftrag zu geben.Footnote 117

Abschließend bietet Carnap Tauli an, ihm seine Bücher zu schicken, wobei er ihn gleichzeitig warnt, es gehe in diesen nicht um „word languages, either natural or constructed“, sondern ausschließlich um „languages of symbolic logic“.Footnote 118 Vermutlich ist dies einer der letzten Briefe Carnaps mit Bezug auf Plansprachen. Am 14. September 1970, knapp einen Monat nach Absendung des Briefes an Tauli, stirbt Rudolf Carnap im kalifornischen Santa Monica.

Für eine Einschätzung der Lebensleistung Rudolf Carnaps ist hier nicht der Ort. Mein Anliegen war lediglich, den Esperantisten Carnap vorzustellen. Was Esperanto im Kontext seines Lebens und Werkes bedeutete, ist weiterer Untersuchungen wert. Auch wenn von ihm außer dem frühen Aufsatz über Rätselspiele (Carnap, 1909) keine auf Esperanto verfassten Publikationen überliefert sind, hat er sich die Begeisterung, die ihn in seinen Jugendjahren zum Erlernen des Esperanto geführt hatte, bis an sein Lebensende bewahrt. Sie überdauerte auch das Schwinden der Hoffnungen auf politische Rückendeckung für die Ziele der Esperantobewegung. In seiner Autobiographie hinterließ er der Nachwelt und auch den Esperantisten ein sehr prägnantes Resümee des geistigen Wertes und praktischen Nutzens des Esperanto. Bevor er sich der Wissenschaft zuwandte, war das Vergnügen, Esperanto zu benutzen, persönlichkeitsbildend für ihn. Esperanto war für Carnap mehr als nur eine Sprache, wie sein Einvernehmen mit Guérard in Bezug auf die „interna ideo“ zeigt: es gehörte zu seiner Hoffnung auf eine bessere Welt.Footnote 119 Esperanto war für ihn, losgelöst von theoretischen Betrachtungen, Ausdruck jener „menschlich-reine[n] Gesinnung“, die ihm 1921 an Bertrand Russell so zugesagt hatte (vgl. oben S. 58). Im Juni 1934 hatte er in einem Gespräch mit Susan Stebbing (1885–1943) die Ansicht geäußert, Pazifismus sei für ihn „Teil eines größeren Zieles“ (Carnap 2022b, 659);Footnote 120 auch Esperanto war davon offensichtlich ein Teil. Carnap erhoffte „eine allmähliche Entwicklung auf eine Weltregierung“ (Carnap, 1993, 131). Aber er betonte zugleich, dass Sozialismus und Weltregierung – und eben wohl auch Esperanto – für ihn keine absoluten Ziele seien, sondern „lediglich organisatorische Mittel“ (Carnap, 1993, 131) zum Erreichen des vorrangigen Ziels, die bürgerlichen Freiheiten und demokratischen Institutionen weiter auszubauen und zu verbessern.

Abschließend möchte ich noch einmal auf Otto Flügel zurückkommen, den väterlichen Freund, der dem jungen Rudi zuliebe Esperanto gelernt und ihm 1908 zwei Postkarten geschrieben hatte (vgl. oben S. 57). In einer der beiden Postkarten (derjenigen vom 15.09.1908) steht in einem etwas holprigen Esperanto (ich übersetze):

Ich lese mit großer Freude die Märchen der Brüder Grimm [in Esperanto-Übers.Footnote 121]. Solche Studien sind beruhigend.

Mein Wunsch ist, dass Deine esperantistischen Studien ohne Verlust für die anderen, viel wichtigeren Studien sein mögen. Esperanto möge für Dich immer nur das zweite sein. Tausend Grüße an Deine Mutter und an Deine Schwester.

Wahrscheinlich war Flügel nicht entgangen, was Rudi im gleichen Jahr seinem Tagebuch anvertraut hatte, nämlich dass er für Esperanto „tüchtig“ schwärme, und gab ihm deswegen vorsorglich eine Mahnung mit auf den Weg, anderes darüber nicht zu vernachlässigen. Daran hat sich Carnap, vermutlich zur Genugtuung aller, die über ihn forschen, dann auch gehalten.