Friedrich Jodl war – nach seinem relativ frühen Tod 1914 – schon Ende der 1920er-Jahre fast vergessen, obwohl seine Frau, Margarete Jodl, mit einer Biographie und Freunde und Schüler mit der Edition seiner Werke dafür sorgten, dass er in Erinnerung bleibe. Mit seinem mutigen Auftreten gegen den Klerikalismus in Österreich, mit seinen Veröffentlichungen, die ihn als engagierten Verfechter der Aufklärung und Anhänger von Ludwig Feuerbach ausweisen, galt er schon zu Lebzeiten als „unbequem“. Soweit ich weiß, gab es im deutschsprachigen Gebiet keinen Philosophieprofessor, der sich so freimütig und öffentlich zu Ludwig Feuerbach bekannte wie Jodl. Der Widerstand blieb nicht aus. Als Jodl während des österreichischen Hochschulkampfes 1908 in Wien für die streikenden Studenten Partei ergriff, habe Prälat Dr. Ernst Commer in einer Sitzung der theologischen Fakultät ausgerufen: „Maledictus iste Jodl, diabolicus atheista!“ („Verflucht sei dieser Jodl, dieser teuflische Atheist!“, zitiert nach Jodl M., 1920, 231). Vielleicht hat man ihn ganz bewusst vergessen und verdrängt – bis auf eine Ausnahme, den Historiker Albert Fuchs, der in seinen Geistigen Strömungen in Österreich (1949) auch ein kenntnisreiches Portrait von Jodl entwarf. In fast allen größeren Darstellungen des Wiener Kreises wird Jodl als engagiertes Mitglied der Wiener Reformbewegung wenigstens genannt – im Unterschied zu dem Physiker und Philosophen Ernst Mach, dessen Leben und Werk bis heute in vielen Monographien, Aufsätzen und Ausstellungen gewürdigt wird. Ich möchte deshalb im Folgenden Friedrich Jodl in einigen Schwerpunkten vorstellen.

Friedrich Jodl war 1849 als ältestes Kind – von acht Geschwistern – einer angesehenen Beamtenfamilie in München geboren. Schon den jungen lernbegierigen Gymnasiasten zeichneten rhetorisches Talent, ein gutes Gedächtnis und die Fähigkeit aus, Erfahrungen und Probleme in einem angemessenen und flüssigen Stil darzustellen. Seine exzellenten Englisch- und Französisch-Kenntnisse verdankte er der Schwester seines Vaters, die als Erzieherin im Hause von Herzog Maximilian gewirkt hatte. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Humanistischen Gymnasiums begann er in München – abgeneigt gegen jede Spezialisierung – ein vielseitiges Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie. Die Unsicherheit angesichts seines zukünftigen Berufsziels wurde intensiviert durch eine religiöse Krise. Die religiöse Erziehung in Familie und Schule hatte in dem Zwölf- bis Fünfzehnjährigen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Unter dem Einfluss seines Studiums jedoch vollzog sich schon 1868 der Übergang von den beschränkten Anschauungen der katholischen Dogmatik zu einer freien Vernunftreligion. „Wie bei Fichte“, so vertraute der Neunzehnjährige seinem Tagebuch an, „ging es auch bei mir mit dem Theologismus erst langsam, dann rasch und rascher bergab“ (zitiert nach Jodl M., 1920, 32). Diese Wende sollte auch für seine wissenschaftliche Zukunft so entscheidend werden wie der Rat seines Universitätslehrers Johannes Huber, er möge sich um die von der philosophischen Abteilung der Fakultät gestellte Preisfrage bewerben. Ihr Thema war die „Kritische Darstellung der philosophischen Lehren David Humes“. Das ermöglichte Jodl, sich intensiv mit einem der bedeutendsten und einflussreichsten Vertreter der schottisch-englischen Aufklärung zu beschäftigen. David Hume hatte mit fünfundzwanzig Jahren sein erstes und reifstes Werk A Treatise of Human Nature (Abhandlung über die menschliche Natur) geschrieben, das „alle wesentlichen Gedanken seiner Psychologie, Erkenntnistheorie und Ethik“ (Jodl, 1916c, 16 f.) enthielt. Es begründete seinen Ruf als Atheist; folglich scheiterte 1746 seine Bewerbung auf den Lehrstuhl für Ethik in Edinburgh. Jodl war beeindruckt von den Erkenntnissen des schottischen Empirikers, der, etwa fünfundzwanzig Jahre später, gern gesehener Gast des französischen Philosophen Paul Henri Thiry d’Holbach war, in dessen Haus sich damals regelmäßig die radikalsten Philosophen der französischen Aufklärung trafen.

Jodl gewann die Preisfrage und promovierte mit der Arbeit 1871. Sie erschien in erweiterter Fassung 1872. Es war sein erstes Buch, und es war der Ausgangspunkt, der seiner Philosophie die Richtung gab – hin auf die ethisch-religiöse Frage, die ihn bewegte. Er selbst hat 1911 in der auch von ihm bevorzugten kleinen Form, in dem Vortrag „Aus der Werkstätte der Philosophie“, im Wiener Volksbildungsverein von der Entstehung seines Hauptwerks über die Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft Zeugnis abgelegt. Dank dieser Dissertation wurde Jodl 1873 Dozent für Universalgeschichte an der Königlich Bayerischen Kriegsakademie, wo er bis 1885 Vorlesungen für ältere Offiziere hielt, die sich auf die Generalstabskarriere vorbereiteten. Die Stelle sicherte sein Einkommen, eine Entwicklung seiner Ideen konnte er jedoch nur an der Universität verfolgen.

Die Universität München sei damals „einer der interessantesten Kriegsschauplätze“ (Jodl 16c, 12) der Wissenschaft gegen den Ultramontanismus gewesen, erinnerte sich Jodl. Der schon genannte Johannes Huber, einst Anhänger Friedrich Wilhelm Joseph Schellings, kämpfte damals an der Seite des mutigen Kirchenhistorikers Ignaz Döllinger als Altkatholik gegen die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit. Er hatte dann auch Jodl gedrängt, sich mit einer kulturgeschichtlichen Arbeit an der Technischen Hochschule zu habilitieren. Als dieser Plan fehlschlug, wandte sich Jodl an seinen Universitätslehrer Carl Prantl, der mit der Losung „Unerkennbarkeit des Absoluten“ zu positivistischem Denken aufrief. (Jodl, 1916c, 13) Das sei damals noch selten von deutschen Kathedern zu hören gewesen. Jodl habilitierte sich 1880 erfolgreich bei ihm mit der Arbeit Studien zur Geschichte und Kritik über den Ursprung des Sittlichen: Hobbes und seine Gegner im 17. Jahrhundert. Ein Teil der Arbeit wurde in die Geschichte der Ethik eingebaut, an der Jodl intensiv fortarbeitete, mit dem Ziel, „den Ausgleich der Philosophie mit der Naturwissenschaft“ zu leisten und die Philosophie zu einer „positiven Wissenschaft“ (Jodl, 1916c, 15) auszubauen.

Ursprünglich wollte Jodl nur die Geschichte der Ethik darstellen, wie sie sich in den drei europäischen Ländern England, Frankreich und Deutschland entwickelt hat. Doch dann veranlassten ihn zwei Entdeckungen, schon mit der Antike zu beginnen: 1. dass schon die frühen Naturphilosophen, wie Thales von Milet (etwa 625–545), sich mit vorhandenen Kenntnissen und Denkweisen auseinandergesetzt hatten, und 2. dass es seit den Anfängen des griechischen Geisteslebens zwei große Ströme gegeben habe, die auch die spätere Fortbildung der wissenschaftlichen Ethik kennzeichneten. Die „religiöse oder metaphysische Strömung“ beginnt bei der orphisch-pythagoreischen Überlieferung und findet sich in neuer Gestalt bei Platon und den Neuplatonikern. In ihr dominiert die Vorstellung von einer sittlichen Ordnung, die in göttlichen Händen liegt und zu welcher der Unsterblichkeitsgedanke und die feindliche Gegenüberstellung von Sinnlichem und Geistigem im Menschen gehören. Die „antitheologische oder antimetaphysische“ Richtung dagegen, verbreitet vor allem in Ionien, war früh verbunden mit bestimmten rationalistischen und aufklärerischen Tendenzen, auch mit naturwissenschaftlicher Forschung; sie kennt keine göttliche Strafgerechtigkeit und vertritt eine Ethik des zweckmäßigen, sinnvollen Handelns und einer individuellen und staatlichen Gerechtigkeit. Sie wird vertreten von Sokrates, von den Sophisten und später von Epikur und den Epikureern, die eine neue, weitverbreitete Lebensform ausbildeten, mit dem Doppelbegriff von Lust und Schmerz als dem Fundament der ethischen Lebensführung. Sie war die einzige Lebensform, die der religiösen Umbildung der Spätantike durch das Christentum widerstand.

Die Entdeckung dieser zwei Richtungen in der Antike erinnert an das Manifest Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis von 1929: „Alles ist dem Menschen zugänglich; und der Mensch ist das Maß aller Dinge. Hier zeigt sich Verwandtschaft mit den Sophisten, nicht mit den Platonikern; mit den Epikureern, nicht mit den Pythagoreern; mit allen, die irdisches Wesen und Diesseitigkeit vertreten“ (Carnap et al., 2012, 25). Hier stehen die Epikureer im gleichen Zusammenhang wie vierzig Jahrzehnte vorher in Jodls Geschichte der Ethik, in der dieser eine Kontinuität der Fortbildung von Erkenntnistheorie und Ethik ohne Zuhilfenahme von Metaphysik oder kirchlicher Dogmatik aufzeigt, wenn auch mit Rückschritten und Zwischenstufen.

Obwohl jahrhundertelang verschüttet, tauchte der Epikureismus im italienischen Humanismus wieder auf und erfuhr in der umfangreichen Darstellung Epikurs durch den Franzosen Pierre Gassendi eine Wiederbelebung in den Zirkeln französischer Aufklärer, wie bei Claude Adrien Helvétius und d’Holbach. Bei den englisch-schottischen Utilitariern erhielten die dezidiert individualistischen Theorien der Epikureer eine soziale Ergänzung.

Angelpunkt von Jodls Geschichte der Ethik ist die Frage nach dem Verhältnis der Sittlichkeit zur Religion. In seiner Darstellung der neueren Ethik neigte sich die Mehrheit der Stimmen immer entschiedener auf die Seite der Unabhängigkeit des Ethischen vom Religiösen, wobei die Unabhängigkeit selbst jeweils verschiedene Nuancen haben konnte. Giordano Brunos Pantheismus ist von theistischen Anklängen nicht frei; und selbst Baruch de Spinoza, der große Häretiker des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, hatte seinem Naturalismus eine pantheistische Färbung gegeben und trotz der Gleichsetzung von Gott und Natur in den späteren Büchern seiner Ethik den Gottes-Begriff bevorzugt. David Hume hatte die Identität der wahren Religion mit der Sittlichkeit proklamiert und daraus die Überflüssigkeit der Religion gefolgert. In der französischen Aufklärung fällt die Vielfalt der Antworten noch größer aus. Kein Autor hat übrigens auf diesem Gebiet den systematischen Aufbau einer neuen Ethik versucht, galten doch ihre Veröffentlichungen mit ihrer scharfen und zugespitzten Polemik der praktischen Anwendung. Während Pierre Bayle bereits im siebzehnten Jahrhundert ausgesprochen hatte, dass Atheismus nicht notwendig mit Sittenlosigkeit verbunden sei, hob schon Helvétius die ethisch bedenklichen Wirkungen der Religion hervor. Denis Diderot war allein durch die Rücksicht auf die Enzyklopädie (1751–1772) gezwungen, nach außen hin einen Deismus zu vertreten. D’Holbach schnitt dagegen in seinem Système de la Nature (1770) sehr kühn alle Assoziationsverbindungen ab, die bisher im Denken der Menschheit zwischen Welt und Gott bestanden hatten. Er verkündete erstmals eine rein mechanistische Weltanschauung. Allen Schriften, die bisher zumindest von einem rationalisierten Gottesbegriff ausgegangen waren, stellte er in seinem Système de la Nature ein entschiedenes Nein entgegen. Mit ihm lebte der alte Kampfgeist der epikureischen Schule wieder auf, der in der Religion die Feindin der menschlichen Gemütsruhe und des Friedens sah.

Jodl vermisste bei den Aufklärern den konstruktiven Zusammenhang mit der Welt, mit dem Staat. Ihre ethischen Vorstellungen waren ihm zu individualistisch, da sie sich mit ihrer ganzen polemischen Vehemenz gegen den damaligen absoluten Staat richteten, der in ihren Augen eine mit dem „Schimmer des Gottesgnadentums umkleidete Rauborganisation“ (Jodl, 1906, 470) war. Eine Ausnahme bildete da der französische Geschichtsphilosoph Marquis de Condorcet, den Jodl mit spürbarer Sympathie schilderte. Diese Sympathie spiegelt sich auch in seiner Darstellung. Während sein Stil sonst in ruhigen, langen ciceronischen Perioden dahinfließt, werden nun die Sätze kürzer, die Worte verraten die Empathie, und am Ende folgt der Einspruch Jodls an die Leser. Hatte doch der mutige und so warmherzige Condorcet noch kurz vor seinem Kerkertod den Zusammenhang der Generationen betont und begeistert von der ursprünglichen Güte des Menschen gesprochen und von dessen unbegrenzter Fähigkeit, sich zu vervollkommnen und einen intellektuellen und technischen Fortschritt herbeizuführen. Und da der Einspruch Jodls aus der Gegenwart:

Ob freilich die Individuen als solche mit dem gewaltigen Gang der Zeit Schritt halten? Sind sie größer geworden oder kleiner mit den verbesserten Hilfsmitteln? Oder stehen sie zu allen Zeitaltern im gleichen Verhältnisse: sie überragend und vorauseilend, angepasst und repräsentierend oder hinter ihnen zurückbleibend? Ist der Durchschnitt der Menschen heute klüger als ehedem, weil er mehr weiß? Ist er besser, weil die sozialen Schutzwehren vollkommener geworden sind? Wer kann diese Fragen beantworten? (Jodl, 1906, 485).Footnote 1

Mit der deutschen Aufklärung, die ihm zeitlebens als zu „zaghaft“ erschien, schloss Jodl den ersten Band seiner Geschichte der Ethik. Sie erschien 1882 im Cotta Verlag und brachte ihm viel positive Resonanz ein, auch im Ausland, und endlich, nach vielen Intrigen, 1885 auch eine ordentliche Professur für Philosophie an der deutschen Universität in Prag, die er bis 1896 innehatte.

Jodl folgte diesem Ruf zunächst mit Freude und Bewunderung für das schöne Prag, die „Goldene Stadt der hundert Türme“. Die Enttäuschung setzte rasch ein: Prag hatte seine seit dem achtzehnten Jahrhundert bestehende deutsche Bevölkerungsmehrheit verloren. Tschechische Politiker forderten eine konsequente Zweisprachigkeit, die 1880 formell eingeführt wurde. 1882 war nach leidenschaftlichen Auseinandersetzungen die ehrwürdige alte Karl-Ferdinands-Universität in eine tschechische und eine deutsche Hochschule aufgeteilt worden.

Jodl, der bisher nur die Auseinandersetzungen des zaghaften bayerischen Liberalismus mit der klerikalen Opposition gewohnt war, geriet damals in den Nationalitätenstreit, der die Politik des Wiener Parlaments bestimmte. Er verstand kaum die heftigen nationalen Konflikte, schon gar nicht deren soziale Ursachen. Die deutschsprachige Philosophische Fakultät war in dem alten, von den Jesuiten gegründeten Clementinum mit düsteren kleinen Hörsälen untergebracht. Die Universitätsbibliothek erwies sich für seine Interessen als schlecht ausgestattet. Das Gros der deutschen Studentenschaften bildeten Mediziner und vor allem Juristen, die alternierend bei den zwei Professoren der Philosophie ein Kolleg absolvieren mussten. Infolge der scharfen Trennung zwischen Deutschen und Tschechen und der aufgeheizten Politik, die ihm völlig fremd war, erschienen Jodl die deutschen Kollegen als die „Deutschesten der Deutschen“ (zitiert nach Jodl M., 1920, 117). Er verbrachte daher die Prager Jahre von 1885 bis 1896 zunächst sehr zurückgezogen und mit intensiver Arbeit.

Die dringendste Aufgabe war der zweite Band der Geschichte der Ethik, zu deren Fertigstellung er sich bei Cotta verpflichtet hatte. Die ersten und schwierigsten Kapitel sollten Immanuel Kant, den Gegnern und Fortbildnern Kants und anschließend dem spekulativen Idealismus gewidmet werden. Kants Philosophie ist nach Jodl als „ein geistiger Knotenpunkt“ (Jodl, 1916a, 112) zu verstehen. Mit seiner Entwicklung treffen alle Hauptrichtungen des europäischen Denkens zusammen: die Leibniz–Wolffʼsche Schulphilosophie, der englische Empirismus, die damalige Naturwissenschaft und auch der Einfluss Jean-Jacques Rousseaus. So sehr Jodl in den frühen Schriften Kants den „kühnen Vorkämpfer einer kritischen Vernunftwissenschaft“ (Jodl, 1916a, 118) verehrt hatte, so dringlich erschien es ihm, nach dem Einbruch des Entwicklungsgedanken in die Geisteswissenschaften, Kant kritisch zu lesen. Die Beschäftigung Kants mit ethischen Ideen in den Träumen eines Geistersehers sei noch von David Humes sozialem Eudämonismus beeinflusst, der auf das Prinzip der Sympathie gegründet ist. Nachdem ihn Hume „aus dem dogmatischen Schlummer geweckt“ (Jodl, 1916a, 113) habe, wollte Kant – so Jodl – auch mit der empirisch-psychologischen Methode in der Ethik brechen und ihr in der Aktivität der Vernunft als „Erstem“ und „Ursprünglichstem“ ein Fundament geben. (Vgl. Jodl, 1912, 7) Erst in der Vorrede zur Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) hat er das Sittliche definiert: als den guten Willen, das eigentliche Objekt sittlicher Wertschätzung. Mehrfach betonte er, „dass alle Moralität der Handlungen in die Notwendigkeit derselben aus Pflicht und aus Achtung fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen, gesetzt werden müsse“ (Jodl, 1912, 12). Hier setzte die Kritik ein. Da sittlich gut oder pflichtmäßig nur das genannt wird, was dem Sittengesetz entspricht, da alle anderen Antriebe wegfallen, bleibt nur die Forderung übrig: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte!“ (Jodl, 1912, 13 f.) Diese Forderung nennt Kant den Kategorischen Imperativ, kategorisch, weil er unmittelbar gebietet, ohne irgendeine Absicht. Jodl erinnert daran, dass der große Kritiker Kant, von einer frommen Mutter großgezogen, einmal gestanden habe, er „sei in die Metaphysik verliebt.“ (Jodl, 1916a, 114). „Die wesentlichen Bestandsstücke der theologischen Weltansicht“ seien bei Kant „niemals ganz abgestorben“ und eine Einbruchstelle in das System der kritischen Vernunft sei das Sittengesetz, das von „der höheren Abkunft des Menschen“ (Jodl, 1916a, 115) zeuge. So viel zu KANT.

Im November 1887 endlich schrieb Jodl an seine Frau: „In der nächsten Zeit steht mir eine mich innerlich sehr aufregende Darstellung bevor: die Schilderung des modernen ethischen Atheismus bei J. St. Mill […], parallel Proudhon und Feuerbach. Das soll ein ‚capitales Kapitel‘ werden“ (zitiert nach Jodl M., 1920, 122). Es sollten mehrere Kapitel werden, denn dazwischen sollte auch noch der französische Positivist Auguste Comte abgehandelt werden. Jodl betrachtete sich als Nachfahre der empirischen Positivisten Auguste Comte, John Stuart Mill und Ludwig Feuerbach, später bezeichnete er seine Philosophie als „empirische Wirklichkeitsphilosophie“. Es sind die Kapitel, in denen Jodl am meisten von sich selbst verrät. Er beginnt mit dem französischen Sozialphilosophen Pierre-Joseph Proudhon und dem Werk De la Justice dans la Révolution et dans l’Église, in dem dieser 1858–1859 seine ethischen und rechtsphilosophischen Grundanschauungen entwickelte. Das Nebeneinander von Revolution und Kirche im Titel ist als schärfste Antithese zu fassen. Ähnlich wie Comte sieht Proudhon nur einen Weg, aus der geschilderten sittlich-sozialen Auflösung der Gegenwart herauszukommen: die Wissenschaft. Comtes Losung „Wissen ist Vorauswissen“ lautet bei Proudhon: Man muss Geschichte a priori schreiben, noch bevor die Ereignisse da sind, d. h. den Gang der Menschheit durch Wissenschaft bestimmen. Dabei, so betont Jodl, ist Proudhon „vielleicht der erste neuere Denker, welcher auf die eminente praktische Bedeutung der Phantasie für die Entwicklung von Wertmaßstäben und Normen, wie für die Fortbildung von Zuständen aufmerksam gemacht hat“ (Jodl, 1912, 323), also für den Fortschritt. Mir scheint, da spricht Jodl auch von eigenen Erfahrungen. Jodl hat sich ja damals mehrfach Gedanken über eine adäquate Methode der Geisteswissenschaften gemacht, unter anderem brieflich an den Historiker Felix Stieve in München:

Ein Empirismus, der ganz im Sammeln einer möglichst großen Zahl von Tatsachen aufgeht, hat gar keine Ähnlichkeit mit jener Methode, durch welche die Naturwissenschaft groß geworden ist. Denn die Methode der Naturwissenschaft ist eine Verbindung von Induktion und Deduktion oder die Verbindung jenes Empirismus mit einem hypothetisch-konstruierenden Verfahren. Nicht Tatsachen als solche haben Wert, sondern bedeutungsvolle Tatsachen, aus denen etwas folgt, aus denen man andere Tatsachen ableiten kann. Nicht das Einzelne, sondern nur das Allgemeine ist bedeutungsvoll (zitiert nach Jodl M., 1920, 122 f.).

Erkenntnisgewinn schafft zum Beispiel der historische Vergleich. Voraussetzung dafür ist natürlich die souveräne Beherrschung der Materie. So hat Jodl dem Kapitel über Comte ein umfangreiches Kapitel über den Spiritualismus in Frankreich und seinem bedeutendsten und erfolgreichen Vertreter Victor Cousin vorangestellt. Gegen Cousin stellte Jodl – als Kontrast – den äußerlich erfolglosen Comte und dessen Fähigkeit der Abstraktion, des phantasielosen, aber exakten und mathematischen Denkens. Comtes Philosophie habe ihre Wurzeln in der Mathematik und in den Naturwissenschaften, bei denen die großen französischen Astronomen Pate gestanden hätten. Mit der Gegenüberstellung von Spiritualismus und Positivismus in Frankreich charakterisiert er nicht nur zwei verschiedene Zeitströmungen, sondern, indirekt – wie am Beispiel der Antike – auch seine eigene Sicht und methodische Herangehensweise. (Vgl. Jodl, 1912, 327) Religiöser Glaube und metaphysische Spekulation haben ihren vollen notwendigen Anteil an der Entwicklung unseres Menschengeschlechtes; sie haben die Stufen gebaut, auf denen sich der Tempel des heutigen Wissens erhebt. Aus dem Gefühl der Dankbarkeit dürfe man jedoch nicht, wie der Spiritualismus und Cousin, geistige Verpflichtungen für die Gegenwart ableiten. Cousin suche eklektisch Bruchstücke der ganzen und vollen Wahrheit in den Gedanken der Vergangenheit. Der Positivist strebt dagegen

aus einem Gesetz der geistigen Entwicklung zu verstehen, weshalb vergangene Zeiten so denken mussten, wie sie taten; aber er stellt sich auch, ausgerüstet mit neuen Kriterien und neuer Methode, über die Vergangenheit, deren Studium uns zwar belehren kann, was geschichtlich notwendig gewesen, aber nicht, was an sich wahr ist (Jodl, 1912, 329).

Abgelehnt wurde schon damals die als willkürlich empfundene Systemisierung der Wissenschaften bei Comte, deren oberste Stelle die Biologie und die Soziologie einnehmen, d. h. die Wissenschaften vom einzelnen und kollektiven Menschen. Jodl dagegen hebt als „das viel zu wenig gewürdigte und noch viel zu wenig angewandte Verdienst“ den methodologischen Gedanken Comtes hervor, „dass es keine fruchtbringende Erkenntnis des individuellen menschlichen Geistes geben könne ohne Studium der menschlichen Gesellschaft und der geschichtlichen Entwicklung“ (Jodl, 1912, 334). Im Gegensatz zu einer Methode, die alles, Welt und Ideen, in einsamer Beobachtung aus dem isolierten, zufälligen Ich herausspinnt – für welche in Frankreich die Spiritualisten repräsentativ sind, in Deutschland Kant, Johann Gottlieb Fichte und Johann Friedrich Herbart – lege Comte das Hauptgewicht auf das, was als ein objektives Faktum der allgemeinen Prüfung zugänglich ist: die Gesamterscheinungen menschlichen Zusammenlebens, die Tatsachen der Geschichte. Das gelte sowohl für die geistige wie für die sittliche Geschichte der Menschheit. (Vgl. Jodl, 1912, 335)

Auch im Kapitel über John Stuart Mill berichtet Jodl, ähnlich wie bei Comte, mehr über biographische Details und Einzelheiten, die ihn anrühren, wie zum Beispiel sein Eintreten für die Emanzipation der Frauen. Und auch in diesem Kapitel teilt Jodl – direkt an den Leser gewandt – mit, was ihm theoretisch wichtig ist, was ihn dazu bewogen hat, den Utilitaristen darin zuzustimmen, dass sich das Sittliche oder die ethischen Normen allmählich aus der Wechselwirkung zwischen der psychischen Organisation des Individuums und der Gesellschaft entwickelt haben:

Jeder Mensch weiß im ganzen recht wohl, wie er den andern haben möchte, was ihm an diesem gefällt und von diesem wehetut; und es müßte wahrlich sonderbar zugehen, wenn daraus nicht für jede Zeit und jedes Volk ein Inbegriff dessen, was jeder von den andern begehrt, also ein Maßstab der Beurteilung nach dem ‚allgemeinen Wohl‘, entstände (Jodl, 1912, 445).

Mehrfach hat Jodl in seiner Geschichte der Ethik und so auch zu Beginn des Kapitels über den Eudämonismus und Ludwig Feuerbach beklagt, dass die Systeme der Ethik in Deutschland „formalistisch und metaphysisch“ (Jodl, 1912, 236) seien. Immer wieder bezog er sich dabei kritisch auf Kant. Mit großer Zustimmung hob er deshalb „die ungemein große Bedeutung Feuerbachs für die philosophierende Gegenwart“ (Jodl, 1912, 255) hervor. Feuerbachs Hauptargument sei darauf gerichtet

die Grundlinien einer neuen, realistischen Weltansicht zu verzeichnen. Den kühnen Konstruktionen und abstrakten Begriffsgebilden der idealistischen Metaphysik tritt er mit der durchgreifenden Forderung entgegen: „Begnüge Dich mit der gegebenen Welt!“ Er wird damit der geistige Vater des Positivismus in Deutschland, […] und das zu einer Zeit, wo man in der deutschen Literatur weder von Auguste Comte noch von John Stuart Mill irgend welche Kenntnis genommen hatte (Jodl, 1912, 256).

Feuerbach betont

dass die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit und auch der Ethik sei. Zwei Menschen gehörten zur Erzeugung des Menschen, sowohl des physischen wie des denkenden. Fundament seiner Ethik ist der Glückseligkeitstrieb: „Ich will“, sagt der eigene Glückseligkeitstrieb, „Du sollst“, der des Anderen (Jodl, 1912, 260).

Leider fehle, so Jodl mit Recht, der Hinweis darauf, dass der Gegensatz von Ich und Du, der als die treibende Kraft der ethischen Entwicklung in der Geschichte bezeichnet werde, nicht nur der Gegensatz zweier Individuen, sondern in Wahrheit der Gegensatz des Individuums und der Gesellschaft sei. Wichtig war ihm die Religionskritik. Die Götter sind nach Feuerbach Phantasiegeschöpfe, die mit dem Abhängigkeitsgefühl und Glückseligkeitstrieb des Menschen in Verbindung stehen. Gott sei der Spiegel des Menschen; das Geheimnis der Theologie ist die Anthropologie: „Aller geschichtliche Fortschritt in den Religionen besteht darin, dass das, was der früheren Religion für etwas Objektives, als Göttliches oder Gott galt, jetzt als etwas Subjektives, als Menschliches erkannt wird“ (Jodl, 1912, 276). Das ist die Erkenntnis Feuerbachs – und die Jodls, der das Kapitel mit der Überzeugung schließt, „dass das Schicksal der Menschheit nicht von einem Wesen außer oder über ihr, sondern von ihr selbst abhängt, dass der einzige Teufel des Menschen, der Mensch, der rohe, abergläubische, selbstsüchtige, böse Mensch, aber auch der einzige Gott des Menschen der Mensch selbst ist“ (Jodl, 1912, 280).

Im Frühjahr 1889 endlich – nach sechs Jahren intensiver Arbeit – erschien der zweite Band der Geschichte der Ethik, der Jodl viel Zustimmung und Lob einbrachte, und den persönlichen Kontakt mit Wilhelm Wundt in Leipzig, Harald Höffding in Kopenhagen und Georg von Gizycki in Berlin, den er fortan beim Aufbau der Ethischen Gesellschaft in Deutschland unterstützte. Kein Kontakt war aber so folgenreich wie der mit dem jüngeren Dozenten und Bibliotheksdirektor der finnischen Universität Helsingfors, Wilhelm Bolin, der mütterlicherseits deutscher Herkunft und daher deutschsprachig war und seit 1857 in freundschaftlicher Beziehung zu Ludwig Feuerbach gestanden hatte. Bei der Arbeit an seinem Buch Ludwig Feuerbach. Sein Wirken und seine Zeitgenossen (1891) war er auf Jodls Geschichte der Ethik gestoßen und hatte daraufhin voller Anerkennung an Jodl geschrieben, besonders entzückt von dessen Würdigung Ludwig Feuerbachs. Jodl hatte darauf mit einem warmherzigen Brief geantwortet und Bolin reagierte auf die begonnene Korrespondenz mit einem persönlichen Besuch im Sommer 1890 in Prag, über den Jodl anschließend in seinem Tagebuch schrieb:

Von der Grundvoraussetzung unseres Einverständnisses über die wichtigsten Lebensfragen aus, machte dieser Mann einfach einen Sturmlauf auf mein Herz, sichtlich entschlossen, es zu gewinnen. […] Es ist ein Mensch von größter persönlicher Warmherzigkeit, der Vertrauen erzwingt, indem er es voll und ganz gibt (zitiert nach Jodl M., 1920, 136).

Das war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft, die eine gemeinsame zehnbändige Werkausgabe von Ludwig Feuerbach zur Folge hatte, deren erster Band 1904 und deren letzter Band 1911 erschien. Die zunehmende Vertrautheit mit dem Leben und Werk Feuerbachs veranlasste Jodl, eine eigene Monographie zum hundertsten Geburtstag von Feuerbach zu schreiben, die, ebenfalls unterstützt von Bolin, pünktlich 1904 erschien. Erst beim systematischen Lesen und Gruppieren von Feuerbachs Werken entdeckte Jodl, wie vieles er sich im Laufe der Jahre zu eigen gemacht hatte. 1903 schrieb er an Bolin:

Es ist ja ein ganzes System, was der Alte im Kopfe herumgetragen hat; ein wahres Programm alles dessen, was sich heute wissenschaftliche Philosophie nennt. Mir ist, als schriebe ich mein eigenes testament philosophique: ein unendlich beruhigender Gedanke. Denn wenn ich auch niemals dazu kommen sollte, meine eigene Weltanschauung zu skizzieren; in ihren Grundzügen läge sie in Feuerbach vollständig vor (zitiert nach Jodl M., 1920, 205).

In diesen Jahren lehrte Jodl bereits als ordentlicher Professor der Philosophie an der Universität in Wien und brauchte nicht mehr zu fürchten, dass ihm das offene Bekenntnis zu Feuerbach existentiell schaden könnte. Nach Erscheinen des zweiten Ethik-Bandes hatte ihn allerdings ein sehr angesehener Kollege in Prag gewarnt, dass er sich mit diesem Buch „zum exponiertesten unter allen Professoren der Philosophie gemacht“ habe (zitiert nach Jodl M., 1920, 134). Die Tatsache, dass Jodl sich, trotz öffentlicher Anerkennung, zweimal vergeblich auf den vakanten Lehrstuhl für Philosophie in München (Nachfolge Prantl) beworben hatte, sprach für die Berechtigung dieser Sorge.

Obwohl Jodl für jedes Semester ein neues großes Kolleg ausarbeitete, entwarf er im Sommer 1890 den Grundriss eines systematischen Lehrbuchs der Psychologie, das er von vornherein als den Versuch einer „offenen Forschung“ konzipierte, offen für Neues, Selbst-Entdecktes ebenso wie für die Forschungsergebnisse anderer. Er hat daher auch umfangreiche Quellenforschungen in Berlin, London und München auf sich genommen und zu seinem Schrecken festgestellt, dass sich das Buch – ebenso wie die neue, damals explodierende Disziplin selbst – zu einem „gefräßigen Ungeheuer“ (zitiert nach Jodl M., 1920, 159) entwickelte und erst 1896 erscheinen konnte. Schon nach der dritten Auflage (2 Bände, 1908) erkannte Jodl, dass diese Arbeit nur im Teamwork weitergeführt werden könne. So ist es auch für die fünfte und sechste Auflage (2 Bände, 1924) geschehen, unter anderem mit Beteiligung seines Schülers Viktor Kraft – als ein Vorläufer des Wissenschaftsparadigmas des Wiener Kreises. Da Georg Gimpl (2015) über den architektonischen Aufbau und die Themen dieses interessanten „Lehrbuchs“ publiziert hat, kann ich mich hier auf diesen Hinweis beschränken.

Ich bin der Zeit vorausgeeilt: Die intensive Beschäftigung mit Feuerbach begann Jodl erst, nachdem er, schon gar nicht mehr erhofft, im Frühjahr 1896 zum ordentlichen Professor für Philosophie in Wien ernannt worden war. Ein politischer Zufall – Freiherr von Gautsch wurde zum zweiten Mal Minister für Kultus und Unterricht – bewirkte diese Beförderung. Erfreut über den größeren Wirkungskreis, wollte sich Jodl zunächst ganz auf seine akademische Tätigkeit konzentrieren, auf die Vorlesungen und Seminare, die in steigender Anzahl von den Studenten besucht wurden. Für die fortgeschrittenen Studenten richtete er sogar Privatsprechstunden in seiner Wohnung ein. Angenehm war auch das Verhältnis zu seinen unmittelbaren Fachkollegen: Ernst Mach, der nur über philosophische Grenzgebiete zu seinem Hauptfach Physik las, Theodor Gomperz – als Vertreter antiker Philosophie und Übersetzer von John Stuart Mills Werken, der Jodl besonders nahestand – der Theologe Laurenz Müllner und der Herbartianer Theodor Vogt.

Bereits im Oktober 1896 wird unter den Mitgliedern des Wahlkomitees der Sozialpolitischen Partei Friedrich Jodl genannt. Die kleine, aber dank ihrer bekannten und sozial engagierten Mitglieder nicht unbedeutende Partei setzte sich für das allgemeine und gleiche Wahlrecht ein, für tiefergreifende Sozialreformen, gegen den Antisemitismus und Klerikalismus. In ihren Forderungen stand sie den Sozialdemokraten näher als den altliberalen Parteien. Eugen von Philippovich, ordentlicher Professor für politische Ökonomie, von dem Jodl sehr beeindruckt war, gehörte zu den führenden Figuren. Eine Kandidatur 1899 für den Gemeinderat Wien und die Reichsratswahlen 1901 lehnte Jodl jedoch nach reiflicher Überlegung ab. Waren doch seit der Jahrhundertwende seine öffentlichen Verpflichtungen sprunghaft angestiegen. 1898 übernahm er die Leitung des Wiener Volksbildungsvereins. Zwölf Jahre blieb er an der Spitze der weitverzweigten Organisation und war von 1910 bis 1914 deren Ehrenpräsident. In dieser Funktion lernte er erstmals das Elend der Arbeiter und deren waches geistiges Interesse kennen. 1903 übernahm er die Obmannschaft der Philosophischen Gesellschaft, etwas später den Vorsitz im Verein Kunstschule für Frauen und Mädchen und in der Gesellschaft für Kinderforschung; außerdem unterstützte er die Ziele des Bundes der österreichischen Frauenvereine.

Auf besonderen Wunsch von Wilhelm Wundt wurde Jodl 1903 Mitherausgeber des Archivs für die gesamte Psychologie. Das Ausmaß der Ergänzungen für die zweite Auflage seiner Geschichte der Ethik hatte er völlig unterschätzt. Für den ersten Band, der 1906 erschien, hatte er nicht nur den Anmerkungsteil aktualisiert, sondern mehrere Kapitel völlig neu geschrieben, und für den zweiten Band, der 1912 erschien, hatte er neben den notwendigen Ergänzungen und Neufassungen die Ethik im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in einem „vierten Buch“ nachgetragen. Die vielen Vorträge und politischen Reden, zum Beispiel zum vierzigjährigen österreichischen Reichsvolksschulgesetz, die Aufsätze, die er für wissenschaftliche Tagungen, auch für die Ethische Gesellschaft, schrieb, sie können hier nur summarisch genannt werden.Footnote 2

Auch die Universität forderte ihren Tribut. Neben den vielen Prüfungen und der Betreuung von Doktoranden hatte Jodl im Studienjahr 1906/1907 noch die Geschäfte des Dekanats zu führen. Mit großer Hoffnung sah er den Sommerferien 1908 entgegen, in denen er endlich – statt der früher geplanten „Wirklichkeitsphilosophie“ – mit der Niederschrift seiner Kritik des Idealismus begann. Die ersten zwei Kapitel hatte er kontinuierlich und mit ungewöhnlichem Schwung niedergeschrieben; er schien den Inhalt, mehrfach bedacht, nur abrufen zu müssen. Im Winter und in den Osterferien 1909 setzte er die Arbeit fort. Es sollte sein „philosophisches Testament“ (Jodl, 1920, 189) werden. Das Buch, das eine umfassende Kritik des theoretischen Idealismus darstellt, war auch als ein Bekenntnis zum Realismus gedacht. (Vgl. Jodl, 1920, 3) Jodl begann mit einer historischen Einführung, charakterisierte anschließend, geübt als Autor ideengeschichtlicher Darstellungen, mit wenigen knappen Strichen die Grundlehren des Idealismus und setzte dann seine kritische Analyse dagegen, wobei es ihm auch um das historisch gewandelte Verhältnis zwischen Philosophie und Naturwissenschaften ging. In diesem Zusammenhang äußerte sich Jodl mehrmals kritisch über zwei Bücher seines ehemaligen Kollegen Ernst Mach, wenn auch mit ausdrücklicher Anerkennung für dessen große Verdienste auf verschiedenen Gebieten der Physik. (Vgl. Jodl, 1916b, 473 f.) Dabei ging es um Die Analyse der Empfindungen (1886) und Erkenntnis und Irrtum (1905), das Jodl schon 1905 in der Neuen Freien Presse kritisch besprochen hatte. (Vgl. Jodl, 1916b, 469–478) Jodl kritisierte unter anderem Machs Begriff der Empfindungen, aus der die Welt bestehe; er bezeichnete den Begriff als zweideutig, da die „Empfindungen“ zugleich den Inhalt, den Gegenstand der Empfindungen bedeuten, als auch die Tätigkeit des Empfindens, welche ohne einen Empfindenden nicht denkbar sei. (Vgl. Jodl, 1920, 121 f.) „Empfindungen“, so Jodl, „die niemand hat, die als bloße Tatsachen existieren, sind ein Widersinn. […] Nicht alles, was existiert, muss wahrgenommen werden; und nicht alles, was wahrgenommen wird, muß existieren“ (Jodl, 1916b, 473 f.). Mach hatte die Differenz der beiden Darstellungen anerkannt, indem er in Erkenntnis und Irrtum von „einer früheren, mehr idealistischen Phase seines Denkens spricht“ (Jodl, 1916b, 474). Auf Jodls ausführliche Kritik am Phänomenalismus des Zeitgenossen Franz von Brentano und seiner Anhänger, die nicht mit Namen genannt werden, kann hier nur hingewiesen werden.

Am 12. Juni 1909 erlitt Jodl einen schweren lebensbedrohenden stenokardischen Anfall, und nur der Fürsorge und Güte seines „langjährigen wissenschaftlichen Freundes und ärztlichen Beraters, Dr. Josef Breuer“ (Jodl M., 1920, 236), war es zu verdanken, dass er dem Tode entrissen wurde. Nach langem Urlaub in Bad Aussee und anschließend Meran kehrte er Ende Dezember, äußerlich gestärkt, nach Wien zurück und nahm zu Beginn des Jahres 1910 seine Tätigkeit an der Universität wieder auf, mit Beschränkung der Kollegien und der Examenslast sowie Abgabe aller Vereinspräsidien. Im Frühjahr 1910 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt. Die einstimmige Wahl zum Rektor der Universität für das Studienjahr 1911/1912 musste er mit Dank ablehnen. Zu spät. Zu spät ging die Regierung damals auch auf den von Jodl lange urgierten Wunsch ein, ein psychophysisches und philosophisches Institut zu errichten. Er hat die Eröffnung nicht mehr erlebt.

Mit großem Glücksgefühl erfüllte ihn, dass er in den Osterferien 1910 den zehnten und letzten Band der Feuerbach-Ausgabe druckfertig machen konnte. Die zweite Auflage des zweiten Bandes der Geschichte der Ethik konnte er – mit der Hilfe seines Schülers Wilhelm Börner – erst Anfang des Jahres 1912 zum Druck befördern. Gegen den Rat seines Arztes hielt er in Hamburg auf dem ersten internationalen Monistenkongress am 11. September 1911 seine Rede „Der Monismus und die Kulturprobleme der Gegenwart“, in der er sich zum evolutionistischen Sozialismus bekannte. Der Beifall von Tausenden zeigte, dass er dem Monistenbund, der sich in einer Krise befand, die Richtung aufgezeigt hatte. Mit Trauer musste er erkennen, dass er seine Kritik des Idealismus nicht mehr vollenden konnte. Sie erschien posthum 1920, herausgegeben von seinen Schülern Carl Siegel und Walther Schmied-Kowarzik, die – bezeichnenderweise – die Widmung des Originalmanuskripts, „Dem Andenken Ludwig Feuerbachs gewidmet“, in die Anmerkungen verbannten. Friedrich Jodl starb am 26. Januar 1914 in Wien. In seinen letztwilligen Bestimmungen wünschte er, dass er ohne „Zuziehung eines Priesters der katholischen Kirche, überhaupt ohne eine wie immer geartete religiöse Zeremonie“ (zitiert nach Jodl M., 1920, 255) bestattet werde. Ich schließe mit einem Zitat aus den letzten Seiten seiner Kritik des Idealismus, in der er forderte, dass alle echte Kultur für alle da sein müsse: „Sich der Natur gegenüber zu stellen als ganzer Mensch, ohne jeden Mittler außer dem eigenen mutigen Willen: im Erkennen Realist, im Handeln Idealist, das soll der Lebensgrundsatz des modernen Menschen sein“ (Jodl, 1920, 186).