The following correspondenceFootnote 1 originated following Gustav Wyneken’s controversial public lecture Der Krieg und die Jugend, which he delivered to the Munich Free Students (Freie Studentenschaft) on 25 November 1914.Footnote 2 In the lecture, Wyneken defended a contentious position in support of war that many interpreted as contradicting views expressed in previous writings. Wyneken’s position was based on the idea that a war, however cruel, still represented an opportunity for a positive societal transformation through the “emancipation” of youth that would necessarily result from it; this was an idea that several Freistudenten, who admired his earlier view that the essence of youth was meaningful in and of itself, would never subscribe to.

The extensive debate that arose from Wyneken’s provocative stance was initiated by Hans Reichenbach on 18 February 1915 and involved several members of Wyneken’s circle. Copies of the first letter of this correspondence were in fact sent to other Freistudenten, including Walter Benjamin, Hermann Kranold, Carl Landauer, Walter Meyer, and Bernhard Reichenbach, and through them to Alexander Schwab, Immanuel Birnbaum, Herbert Weil, Walter Heine, Ernst Joël, and Heinrich Molkenthin. This open letter led to a larger discussion among its recipients, which occurred during the first few months of 1915. A number of participants exchanged letters directly with Wyneken separately, but most of the letters circulated among several recipients of the first letter.Footnote 3

Hermann Kranold, who at the time was a member of the editorial staff of the Münchner Akademische Rundschau, agreed to publish part of this correspondence, namely, four letters between Reichenbach and Wyneken as well as five letters between Joël and Wyneken.Footnote 4 The letters presented below are those that Reichenbach and Wyneken exchanged in February and March 1915 and that were in fact intended for publication in the Rundschau:

  1. I.

    Hans Reichenbach to Gustav Wyneken, 18 February 1915 (HR-044-06-15)

  2. II.

    Gustav Wyneken to Hans Reichenbach, 27 February 1915 (HR-044-06-16)

  3. III.

    Hans Reichenbach to Gustav Wyneken, 14 March 1915 (HR-044-06-18)

  4. IV.

    Gustav Wyneken to Hans Reichenbach, 18 March 1915 (HR-044-06-20)

The plan to publish these letters did not materialise. However, most of the documents, including copies of several exchanges among the Freistudenten involved in the debate, were meticulously preserved by Hans Reichenbach, which clearly indicates how meaningful these discussions must have been for him and the effect that the contrast between the reality of war as embraced by Wyneken and his own “ethical ideal”Footnote 5 must have had.Footnote 6

1 I. Hans Reichenbach to Gustav Wyneken, 18 February 1915 (HR-044-06-15)

  • Göttingen, d. 18. II. 15.

  • Nikolausbergerweg 19.

Dieses Schreiben ist öffentlich in Bezug auf den Kreis der Freistudenten um Wyneken. Nach dem Erscheinen von Wynekens BroschüreFootnote 7 ist es unerlässlich geworden, sich in diesem Kreise über das Problem des Krieges auszusprechen. Ich beginne diese Aussprache mit einem an Wyneken gerichteten Brief. Es sind Exemplare gesandt worden an: Wyneken, Benjamin (mit für Schwab), Kranold (mit für Birnbaum), Landauer (mit für Weil), Walter Meyer (mit für Walter Heine), Bernhard Reichenbach (mit für Joël und Molkenthin).Footnote 8

  • Hans Reichenbach.

  • Lieber Herr Doktor,

ich habe Ihnen lange nicht geschrieben, weil ich glaubte, dass in dieser Zeit das Schweigen ein besserer Ausdruck der Meinung sei als alles Unterreden; aber als ich gestern Ihre Broschüre “Der Krieg und die Jugend” las, sah ich, dass Sie den Krieg anders auffassen als ich, und darum schreibe ich Ihnen jetzt.

Glauben Sie wirklich, dass diese Zeit einen Übergang bedeutet zu dem Gesellschaftszustand, den wir erstreben? Sie nennen als Fortschritte die Einigkeit des Volkes und die Eingliederung der Jugend in das öffentliche Leben.Footnote 9 Ich muss sagen, dass ich in diesen beiden Erscheinungen gerade das Gegenteil von einem Schritt zur “inneren Erneuerung“ [Wyneken, 1915a, 57] sehe.

Dass die politische Einigkeit der Parteien nur ein recht äußerlicher Kitt ist, der gesunde und aufwärtsführende Gegensätze nur verschleiert, anstatt ausgleicht, dass insbesondere die Parteien des Großgrundbesitzes und des Kapitalismus den nächsten Vorteil von dieser Einigkeit haben, indem die gegenwärtige politische Konstellation nur eine Bestärkung der herrschenden Staatsverfassung bedeutet – dies werden Sie mir vielleicht zugeben. Sie meinen auch wohl etwas anderes, wenn Sie von dem großen gemeinsamen Willen sprechen, den wir in diesen Monaten erlebt haben. Ich denke, Sie meinen das in jedem einzelnen lebende unbedingte Interesse am Kriege,Footnote 10 das seine Augen wie gebannt an dem großen Geschehen festhält und sich selbst vor seine eigenen persönlichen Wünsche vordrängt; und Sie meinen das in allen diesen Menschen wie selbstverständlich herrschende Gefühl: Wir müssen siegen. Aber meinen Sie, dass dies ein Wille ist, solch ein Wille, wie wir ihn stets als den unbedingten Willen zum Guten gefordert haben? Glauben Sie nicht, dass das gespannte Interesse der Einzelnen am Kriege eher dem ängstlich staunenden Blick auf ein übermächtiges und unbegriffenes NaturereignisFootnote 11 vergleichbar ist? Und dass der Wille zum Sieg mehr der blinde Wille zum Leben ist, der das bedrohte Dasein gerettet glaubt, wenn mühselig die nächstbeste Klippe als Haltepunkt gewonnen ist? Wo sind denn die großen Kräfte, die unser Volk in diesen Tagen gezeigt hat? Viel stumpfe Unterordnung unter militärisches Kommando, viel Stoizismus im Leiden. Sie bekämpfen in Ihrer Schrift ein paar hässliche Auswüchse dieser ZeitFootnote 12 – aber glauben Sie, dass die sog. guten Eigenschaften des Volkes in diesen Tagen aus einem anderen Geiste geboren sind, als dem, der Franzosen und Engländer hasst wie den Nachbarn, mit dem er sich um ein Stück Geld streitet? Am deutlichsten scheint sich mir dieser Geist in der Liebestätigkeit zu verraten. Das ganze Volk fühlt sich wie eine große Familie und schenkt seinen Söhnen Wollstrümpfe und Zigarren; ich glaube so große Triumphe hat der Geist der bürgerlichen Familie mit allen seinen Begleitern, als da sind: Spießbürgerlichkeit, Überbetonung des materiellen Wohlergehens, Fürsorge für körperlichen Kleinkram, gleichmäßig auf schlechte und gute Eigenschaften ausgedehnte, d.h. kritiklose Liebe, Blickrichtung auf äußerliche Erfolge, Ehre (beim einzelnen heißt es Eisernes Kreuz und beim ganzen heißt es Sieg) –, ich glaube so allmächtig hat der Geist der Familie das Volk noch nie ergriffen wie in diesen Tagen. Wo ist der freie Glaube an den Menschen, der mehr ist als bloßes Instrument, der in jedem Augenblick Erfüllung ist, wo ist das freie Wirken in der Gemeinschaft unter selbstgewählten Führern? Wer sind denn die Führer aller dieser vaterländischen Menschenmassen? Die Alten sind es, die Geschichte und bürgerliche Entwicklung an diese Stelle gesetzt haben; ihnen folgt man, wie das Kind dem Vater, aber nicht wie der Jüngling dem freigewählten Führer. Ist dies ein Wille? Haben alle jene Menschen, die da erfüllt sind von dem Gedanken der Notwendigkeit des Sieges, haben diese auch nur ein Fünkchen von dem erlebt, was wirkliche Hingabe ist, Hingabe an die Idee, Kampf mit dem Gedanken in sich selbst, rücksichtslose Härte gegen das eigene Denken, Zähigkeit gegenüber dem natürlichen Widerstand der Sache? Erkenntnis der Wahrheit ist der Lohn einer solchen Hingabe. Und der reine Wille fließt aus der Erkenntnis. Aber kann der Blinde einen Willen haben?

Das ist das niederschmetternde Erlebnis unserer Zeit, dass die Menschen wertblind geworden sind, dass sie glauben, in jenem abscheulichen Schauspiel des Krieges die letzte Erfüllung zu sehen. Ich meine jetzt nicht einmal jene Glorifizierung, die der Krieg in der Literaturflut unserer Zeit findet. Wie die sogenannten Führer des Volkes, insbesondere auch in akademischen Kreisen, versagt haben, ist noch ein besonderes Kapitel. Ich meine das Empfinden der einfachen Menschen. Sie glauben, durch die Not des Krieges erst zu starken Menschen geworden zu sein; dass sie an den wirtschaftlichen oder militärischen Aufgaben, die ihnen der Krieg stellt, erst ihre besten Eigenschaften entwickeln, die der Frieden in ihnen unausgebildet ließ. Das geht mit einer Verachtung der Friedensarbeit parallel, die sich sogar bis ins Gebiet der Wissenschaft hinein erstreckt. Ein Göttinger Professor eröffnete dieses Semester sein Kolleg mit den Worten: Es ist ja auch Kulturarbeit, was wir hier treiben. Und so wie dieser glauben viele, dass man sich noch entschuldigen muss, wenn man, anstatt wie die im Felde Stehenden “Taten” zu tun, sich mit “papierenen Theorien” oder “weichlichem Kunstempfinden” beschäftigt. Sie wissen ja alle gar nicht, was ein werterfülltes Leben ist, und glauben sich deshalb durch das bisschen Anstrengung im wirtschaftlichen Existenzkampf gehoben. Aber das edelste, was sie zur Zeit werden können, ist doch nur ein angesehener Staatsbürger. Wir sind wieder bei dem patriarchalischen Staatsbegriff gelandet, und darin sehen die Menschen die Größe unserer Zeit. Das ist unsere Einigkeit: einig sind sich alle in der Blindheit und in der Begeisterung für die Blindheit; aber die wahren Werte sind nicht die Führer des Lebens.

Sie nennen in Ihrer Schrift als zweiten Fortschritt die Eingliederung der Jugend in das öffentliche Leben.Footnote 13 Ich frage: ist es denn wirklich wahr, dass man die Jugend als selbständigen Faktor in das öffentliche Leben eingegliedert hat? Was hat man denn getan? Weil man gesunde Knochen nötig hatte, hat man die jungen Menschen auf die Schlachtfelder hinausgeschickt und ihnen die Aufgabe gestellt, andere junge Menschen nach Möglichkeit zu töten. Das ist die “wirkliche Pflicht” und der “wirkliche Befehl”,Footnote 14 von denen sie sprechen. Glauben Sie denn wirklich, dass nach solchen Pflichten sich die Jugend gesehnt hat? Man hat die jungen Menschen eingespannt in das unfreieste System der Gemeinschaft, in das Heer, das noch tausendmal schlimmer ist als die Staatsschule, dessen Geist noch ganz in der Zeit des preußischen Absolutismus wurzelt und in dem der freie Wille des einzelnen sogar prinzipiell mit eigens ausgedachten Methoden abgetötet wird. Selbst wenn es ein wertvolles Erlebnis der Schlacht gäbe – in dieser Gemeinschaft wird es unmöglich gemacht, weil ihr Grundton die Stumpfheit ist und nicht das freie freudige Wollen, und weil in ihr nicht die geistige Überlegenheit herrscht, sondern die äußere Gewalt, und weil sie ihre Lebensformen nicht aus dem eigenen Bedürfnis heraus schafft, sondern aus einer Tradition gedankenlos übernimmt. Und da schreiben Sie: “Nicht einer darf unter euch sein, den nur die Staatsgewalt zum Kriegsdienst zwingt, nicht einer, der nur mit geteiltem Herzen beim Kriegsdienst wäre!” [Wyneken, 1915a, 12]. Wie wollen Sie denn die Jugend zur Freiwilligkeit zwingen, wenn die Sache ihrer innersten Natur zuwider ist? Ich selbst bin einer von denen, die nur die Staatsgewalt zum Kriegsdienst zwingt. Man hat mich als Rekrut ausgemustert, und ich werde in allernächster Zeit eingezogen. Aber ich spüre nicht die geringste innere Verpflichtung zu diesem Kriege. Und Sie nennen es “billiges Vernünfteln”, wenn die gesunde Vernunft ganz sonnenklar den ungeheuren Unsinn einsieht, den dieser Krieg darstellt? Es soll die “Stimme unseres jungen Blutes” [Wyneken, 1915a, 12] sein, wenn sich einer getrieben fühlt, sein Leben in einer Lotterie mit 4 prozentiger Todeswahrscheinlichkeit einzusetzen? Was hat Fatalismus mit Mut zu tun? Ein FreundFootnote 15 schrieb mir aus dem Felde: “Dieser Krieg ist so grausam, dass keiner, der ihn mitgemacht hat, je wieder einen Krieg wünschen wird.” Und Sie nennen diesen Krieg eine “Weihe” [Wyneken, 1915a, 12] für uns?

Ich verstehe Sie in diesen Dingen nicht mehr. Die alte Kultur bietet uns das Schauspiel eines wahnsinnigen Europas, und der Jugend soll es eine Eingliederung in das Volksleben bedeuten, wenn man sie zum Opfer dieses Wahnsinns erwählt? Die Welt der alten Kultur hat bewiesen, dass sie den ethischen Standpunkt des Neandertalmenschen noch nicht wesentlich überschritten hat, indem ihr die Idee eines Rechtszustandes zwischen vernünftigen Wesen noch unbekannt ist – und nun soll die Jugend sich für den “Sinn und Ernst“ [Wyneken, 1915a, 37] bedanken, den ihr Leben dadurch empfängt, dass man ihrer physiologischen Widerstandskraft gegen nasse Füße die Entscheidung einer Rechtsfrage überlässt? Glauben Sie wirklich, dass die Jugend keine bessere Antwort hat als die: weil ihr uns diese große Aufgabe zumutet, müsst ihr uns auch eine bessere Schule geben? Ich wüsste etwas ganz anderes zu sagen. Ich würde sagen: Ihr Alten, die ihr uns diese erbärmliche Katastrophe eingebrockt habt, ihr wagt es überhaupt noch, uns von Ethik zu sprechen und unserem Leben Ziele zu geben? Ihr, die ihr noch nicht einmal jedem in eurer Kulturgemeinschaft Lebenden das Recht auf persönliche Sicherheit vor den Raubtieranwandlungen seiner Mitmenschen sichergestellt habt, ihr habt das Recht verwirkt, unsere Führer zu sein. Wir verachten euch und eure große Zeit. Ihr habt zu uns zu kommen und uns zu fragen; wir sind die Träger des neuen Auges und schauen das Bild der neuen Welt, “das vor dem wirklichen Sein desselben dem Geiste vorherschweben muss“ [Fichte, 1808, 58].Footnote 16 Glauben Sie nicht, dass dies der Sinn von Fichtes Reden ist? Wieder einmal hat die “Selbstsucht durch die vollständige Entwicklung sich selbst vernichtet” [Fichte, 1808, 16].Footnote 17 Glauben Sie nicht, dass Fichte jetzt für die Jugend den Alten antworten würde: “Wenn eure Weisheit retten könnte, würde sie uns ja früher gerettet haben, denn ihr seid es ja, die uns bisher beraten haben... Lernt nur endlich einmal euch selbst erkennen und schweiget“ [Fichte, 1808, 472f.].Footnote 18

Das ist es, was ich in Ihrer Schrift vermisse, die große Verachtung, die die einzige rechte Antwort auf das Geschehen dieser Zeit ist. Nur von diesem Standpunkt lässt sich die Forderung der neuen Erziehung erheben, und nicht in – verzeihen Sie – etwas oberflächlicher Weise daran anknüpfen, dass künftig Ritter des Eisernen Kreuzes auf der Schulbank sitzen werden.Footnote 19 Nur insofern bedeutet der Krieg einen Schritt zu dem neuen Gesellschaftszustand, als er die alte Gesellschaft ad absurdum geführt hat. Aber in sich selbst, als Geschehen und als Erlebnis, ist er nichts als die Dumpfheit und der Wahnsinn. Und das ist es, was die Jugend von ihren Führern fordert: dass sie diese Wahrheit nicht einer ungeschickten Politik opfern.

Ich schreibe Ihnen diese meine Meinung, weil ich niemand weiß, dem sie mitzuteilen mir ernster am Herzen läge; und weil ich niemand gegenüber die Pflicht zur Wahrheit so unbedingt empfinde wie gegen Sie. Ich bin

  • Ihr

  • gez. Hans Reichenbach

2 II. Gustav Wyneken to Hans Reichenbach, 27 February 1915 (HR-044-06-16)

  • München, Clemensstr. 5, d. 27. II. 1915.

  • Lieber Herr Reichenbach,

vieles von dem, was Sie mir in Ihrem Brief entgegenhalten, scheint mir nichts zu sein als die negative Kehrseite meiner positiven Rede. Es ist Ihnen ohne weiteres gewiss, dass ich das, was Ihre Kritik und Verachtung hervorruft, auch sehe. Aber in meinem Vortrag habe ich es bewusst zurückgestellt, höchstens durchscheinen lassen, da ich (und glauben Sie mir, das ist die schwerere Arbeit jetzt) aus dem Schicksal, das unsere Jugend betroffen hat, eben nur das vielleicht wenige Positive herausholen wollte, das aber doch das Einzige ist, auf das es jetzt für sie ankommt. Dass ein unbefangener Leser, der unserer Bewegung ganz fern steht, von der Kritik doch einiges heraushört, beweist mir eine Karte Spittelers,Footnote 20 der mir schreibt: “Dank. Sofort mit Freude und Interesse gelesen. In der Tat, es liegt ein Widerspruch und eine bittere Ironie darin, dass die Jugend zwar berechtigt sein soll, ihr Leben dahinzugeben, nicht aber, ihr Wort zu sprechen.“

Das ist also das, was ihm in dem Vortrag den nachhaltigsten Eindruck gemacht hat.

  • A.

Ich gehe nun gleich auf Ihren positiven Vorschlag ein. Sie vermissen in meinem Vortrag den Ausdruck der Verachtung gegen die alte Generation, weil sie uns diesen Krieg eingebrockt habe. Ich gestehe, hier hört für mich jedes Nachempfinden auf.

  1. 1.

    Mir würde nichts ferner liegen als in der Stunde der allgemeinen Not eine Verachtungsdemonstration; sie würde lächerlich und fanatisch wirken, sie wäre eine leere Gehässigkeit und zugleich eine Bankrotterklärung, als wüssten wir mit einer so laufenden Zeit nichts mehr anzufangen. Diese Verachtungskundgebung wäre nur ein verhülltes Jammern und ein hilfloser Racheakt. Wenn Abrechnung sein muss, dann hinterher; jetzt gilt es einfach, mit Hand anzulegen zur Rettung, ohne Schimpfen.

  2. 2.

    Die alte Generation hat den Krieg eingebrockt. Ihr steht die Jugend gegenüber, die den Krieg nicht will. Das ist eine leere Fiktion. Sehr viele aus der alten Generation haben sich gegen den Krieg gestemmt, und noch mehr aus der Jugend bejahen ihn. Die soziologisch richtige Ansicht ist: Die Herrschenden, Ausbeutenden pflegen den Krieg zu machen, die Ausgebeuteten wollen ihn nicht. Jugend ist in beiden Heerlagern. Jener von Ihnen geforderte Fluch ist nicht der der Jugend, sondern der des Proletariats. Dieser Fluch, von der Jugend dem Alter zugerufen, würde also lächerlich wirken, denn er hätte keinen Empfänger und wäre obendrein eine Ungerechtigkeit.

  3. 3.

    Die Jugend als solche hat kein politisches Programm. Woher wissen Sie, dass in einem “Gesellschaftszustand, den die Jugend erstrebt”, kein Krieg mehr vorkommt? Ich weiß davon nichts. Ich weiß nur, dass die Jugend einen Gesellschaftszustand will, in dem eine höhergeartete Generation heranwachsen kann. Und dass dann diese höhergeartete Generation natürlich auch in der Politik ein höheres ethisches Wollen einführen soll. Ich sehe aber keinen Maßstab, nach dem die Jugend als solche das Recht hätte, jeden Krieg oder auch nur eo ipso diesen Krieg zu verabscheuen.

  4. 4.

    Denn es wäre doch nicht jugendlich, sondern kindisch, einfach die Tatsächlichkeiten der Welt zu ignorieren und zu vergessen, dass jeder Fortschritt langsam geht und das Ergebnis generationenlanger Kämpfe und Aufopferung ist. “Der Krieg ist Wahnsinn.” “Raubtieranwandlungen.” “Entscheidung einer Rechtsfrage.” Das ist vielleicht in einigen Jahrhunderten Wahrheit, gegenwärtig Fiktion. Noch handelt es sich auf der Welt um Machtfragen. Und der Fall ist doch sehr wohl möglich, dass die alte Generation (oder sagen wir: die Herrschenden) unseres Volkes am Krieg ganz unschuldig sind – weil eben z.B. Russland auf dem Machtkampf besteht. Ich halte es auch für wahrscheinlich, dass dieser Krieg noch nicht der letzte ist und dass man nach ihm äußerste militärische Anspannung und eventuell einen neuen Krieg durchaus bejahen muss, nämlich um Englands Seeherrschaft zu brechen. Diese Seeherrschaft ist latenter Krieg gegen alle, ist eine ewige Bedrohung unserer Existenz und eine nie als Rechtsfrage zu frisierende Machtfrage; wenigstens ist diese Auffassung doch wohl denkbar. Ich erkläre aber offen, dass ich mir eine edle Jugendkultur ganz gut in einem kriegerisch orientierten Gemeinwesen denken kann und dass militärische Vorschulung in eine neue Erziehung durchaus eingegliedert werden kann. (Ich selbst habe damit 1901–3 im Landeserziehungsheim IlsenburgFootnote 21 begonnen). Der Krieg als solcher ist gar nicht die tiefste Blamage unserer Generation. Die Schande unserer sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse oder der kirchlichen und politischen Geistesknebelung im Frieden ist viel größer.

  • B.

  1. 1.

    Sie kritisieren nun meine Ansicht von unserer Zeit. Aber Sie vergessen, dass ich nicht zu sagen hatte, was in unserem Bürgertum noch immer so ethisch minderwertig geblieben ist, wie es war, sondern welche neuen, mehr jugendlichen Erkenntnisse ihm die Not, wenn auch nur in Ansätzen, gebracht hat. Es scheint mir einfach tendenziös, diese Ansätze zu verkennen. Dass weite Kreise, auch regierende, dem Volk nunmehr einen Anspruch auf höheren Anteil am Ertrag der Volkswirtschaft und an der Selbstbestimmung der Nation zubilligen, ist eine einfache Tatsache, und man braucht nicht vor lauter Wert-Scharfblick tatsachenblind zu werden. Und ebenso ist es eine Tatsache, dass der Krieg bei vielen die ersten Ahnungen von der Relativität des Rechtes auf Privateigentum, Wohlstand und individuelles Sichausleben geweckt hat und sie zum ersten Mal ein wenig der Rausch der Hingebung an irgend etwas (natürlich ihnen gemäßes) hat schmecken lassen. Mag dies auch nur formal wertvoll sein – es ist immer schon mehr, als den meisten bisher beschieden war.

Ich habe ja nicht behauptet, dass der Krieg einen Gesellschaftszustand geschaffen habe, in dem sich die Jugend restlos wohl fühlen könne. Ich habe es doch deutlich genug gemacht, dass der Krieg als bloße Tatsache überhaupt noch nichts ist, was bejaht werden kann; sondern, dass es darauf ankommt, wie wir ihn erleben und fruchtbar machen. Es ist ja sehr wohl möglich, dass der Idealismus der Jugend nach dem Krieg auf einem verlorenen Posten stehen wird. Das geht ihn nichts an; suchen wir nur das Beste aus dem Erleben dieser Tage zu erhalten und zu stärken, das ist unsere Aufgabe.

Mir scheint, dass Sie diesmal nicht im Stande gewesen sind, das reine “neue Auge” zu sein, mit dem die Jugend die Dinge sehen will. Mir scheint, dass Sie sich die Dinge künstlich verekeln, die Schwächen übertreiben, die Ansätze zum Guten übersehen, und indem Sie ein Strafgericht halten, Güte, Liebe und Natürlichkeit völlig vergessen. Als Beispiel führe ich an, was Sie über die Sendungen von Strümpfen und Zigarren im sonderbaren Gegensatz zu dem freien Glauben an den Menschen sagen. Ja, was hätte denn das Volk nun eigentlich tun sollen? Ich für meine Person habe gezittert bei dem Gedanken, dass vielleicht nicht jeder Soldat sein Weihnachtspaket bekäme. Und ich meine auch, wenn sich das ganze Volk als eine Familie fühlt, so ist das kein Triumph des Familiengeistes, sondern im Gegenteil eine erste Überwindung des familiären Egoismus.

Dass unendlich viel Dummheiten gesagt werden, dass die engen Gehirne das Erlebnis dieser Zeit nicht zu verarbeiten vermögen und es unverdaut von sich geben, dass die schwachen Nervensysteme vom Anprall der Ereignisse über den Haufen gerannt werden – nun ja, das wissen wir. Mehr als es anzudeuten, hatte in diesem Vortrag keinen Sinn. Dadurch wollen wir uns eben unsere Art des Erlebens nicht vorschreiben lassen. Ich möchte die Jugend gerade über die billige Opposition und Quengelei, d.h. die Abhängigkeit von den Zeitdummheiten hinüber und zu autonomem Erleben führen; wenigstens solange rechtschaffener Kampf gegen diese Dummheiten noch nicht möglich und anderes vorerst wichtiger ist.

Aber wenn Sie jetzt fragen: Wo ist der freie Glaube an den Menschen, wo sind die Führer usw., so tun Sie, als solle der Krieg einen Idealzustand heraufgeführt haben. Davon ist doch nicht die Rede. Der Krieg ist eine schwere Not, die als solche die Menschen zu ein wenig mehr Ernst, Kameradschaftlichkeit und Hingebung an Größeres führt. Diese Hingabe enthält fast für alle etwas Ideales, einen Einschlag von Hingabe an eine Idee, nämlich die des deutschen Volkes (d.i. eines ewigen Lebens: “Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen.” Ist das ein Zitat?). Gewiss nur eine sozusagen relative Idee, vergessen wir aber nicht, dass in der Praxis alle Ideen nur relative sind.

  1. 2.

    Sie bestreiten, dass durch den Krieg die Jugend ins öffentliche Leben eingegliedert worden sei. Was Sie mir scheinbar ironisch vorhalten als den Inhalt der “wirklichen Pflicht” und des “wirklichen Befehls”, meine ich eben. Der Jugend ist die Möglichkeit einer eigenen, für das Volk unendlich wichtigen Leistung gegeben, während ihr vorher nur Scheinleistungen und fiktive öffentliche Pflichten (vor allem in der Schule) zukamen.

Und nun stellen Sie sich scheinbar im Ernst auf den Standpunkt: Ich habe den Krieg nicht gewollt, also mache ich ungezwungen nicht mit. Den Krieg hat vielleicht niemand wirklich gewollt; er ist für den größten Teil des Volkes, vielleicht für alle, und gewiss für die Jugend lediglich Schicksal, an dem sie nichts ändern kann. Dass es so ist, mag (politisch und ethisch) ihren Widerspruch erregen und in ihr den Willen entflammen, dafür zu sorgen, dass es einmal anders wird: An dem gegebenen Krieg (den sie verfluchen mag) ändert das nichts. Ihr Los in diesem ist dann gewiss nicht rational, sondern tragisch; wie das eines großen Teils des Volkes. Ihre Bewährung aber besteht dann nicht in Liebknechtelei,Footnote 22 sondern in der Kraft, auch dem ungeliebten Krieg treu zu dienen.

Hier aber glaube ich einen Punkt zu treffen, wo Ihr und mein Empfinden ganz auseinandergehen. Zunächst einmal: Wie sehen Sie denn eigentlich die Situation? Ich sehe sie so, wie sie Wolfgang Heine in seiner Broschüre “Gegen die Quertreiber” [Heine, 1915]Footnote 23 darstellt, auf die ich mich hiermit einfach beziehe. Gekämpft werden also muss jetzt. Oder was sollte sonst geschehen? Sollen nun alle kämpfen, nur Sie nicht? Ich halte Ihre Gesinnung in dieser Frage einfach für einen Defekt, der zwar weit häufiger ist, als er eingestanden wird, der aber durch Aussprechen noch keine Berechtigung erhält. (Konsequent würde sie übrigens wohl zu der Verpflichtung der Verweigerung des Kriegsdienstes führen.) Die Jugend ist ein Teil des Volkes, und wie sie als solcher an seinem Wachstum und Leben teilgenommen hat, so muss sie jetzt auch an seiner Not und an seinem Daseinskampf teilnehmen. Und ich möchte, dass die Jugend auch über das von ihr gesetzlich Geforderte hinaus mit zugreife (wie bei einer Feuersbrunst) und sich so gut halte, wie sie nur irgend kann.

Aber die Sache ist “der innersten Natur der Jugend zuwider”. Gewiss. Auch Erdbeben, Pest, Feuersbrunst sind der innersten Natur jedes Menschen zuwider. Aber in Erdbeben, Pest, Feuersbrunst bis zum Äußersten hilfreich und sich aufopfernd auszuhalten, ist hoffentlich der innersten Natur der Jugend gemäß. – Sie hat im Krieg keinen selbst gewählten Führer. Wieso nicht? Sind Kompaniechefs und Generalobersten Führer? Wieso hat sie ihre Führer im Krieg weniger? – Man hat die Jugend eingespannt in das unfreieste System. Das ist doch nur eine technische Frage und Notwendigkeit. Die Unfreiheit der Schule ist sinnlos, die des Heeres nicht; und jedenfalls im Augenblick nicht zu ändern. Dass die Jugend diese äußere Unfreiheit (so gut wie Frost und Hunger) ungebrochen überdauert, ist ein Teil ihrer Bewährung. Sie tun auf einmal so, als könne sich die Jugend nur in ihr gemäßen Lebensformen bewähren (also nie). Gewiss ist der Krieg grausig. Kann man sich deshalb in ihm nicht bewähren, kann man sich deshalb in ihm nicht eine Weihe für sein Leben holen?

Und nun zum Schluss noch ein Wort, und das ernsteste. Es ist das Los des Gebildeten, durch sein Wissen, seine Sprache, seine Freizügigkeit usw. seinem Volk entfremdet zu werden. Er betrachtet es schließlich wie irgend eine beliebige Völkerschaft bei Hagenbeck.Footnote 24 So möchten auch Sie jetzt das Volk seinem Schicksal überlassen, indem sie sich rein übervölkischen, ja überzeitlichen Ideen verpflichtet fühlen.

Das ist Schwarmgeisterei. Unser Volk ist uns Natur und Leib. Unsere Aufgabe ist nicht Betrachtung, sondern Verwirklichung der Idee, der Logos soll Fleisch werden. Ästheten-, Literaten-, Akademikertum ist nicht Kultur, sondern Impotenz und Parasitismus.

Es ist uns nicht gegeben, nur in “unserer” Welt zu leben; so gut wie wir auch Vegetatives, auch Animalisches in uns haben, so gut auch Nationales, Volksmäßiges, Staatsbürgerliches.

Die Welt ist irrational, sie ist “Anankes böse Mörderwelt”Footnote 25 und wird es ewig bleiben, sie ist es wesentlich. Alles Rationalisieren ist nur Kampf, das Rationale nur richtunggebende Idee. Ihrer Haltung scheint die Gesinnung zugrunde zu liegen: Solange die Welt noch nicht vernünftig ist, mache ich nicht mit. Als ob Sie es nicht doch, mit jedem Atemzug, täten. Verstrickt in dies Dasein, müssen wir seine Schuld mit abbüßen, gehorsam unserem Karma. Und vielleicht ist das Höchste, was der Mensch erlangen kann, dass er am Ende sein Schicksal liebt.

Beweisen lässt sich das nicht; aber mir erscheint es als ein wesentlicher Bestandteil einer adligen und heroischen Gesinnung, dass man seinem Schicksal weder flucht noch entläuft, sondern es erfüllt; mit dem Bewusstsein: Jeder lebt in der Zeit und in dem Volk, die er verdient. Wer im Frieden die Institution des Privateigentums, des Erbrechts, des Kapitals genießt, darf nicht, wenn Krieg wird, also wenn die unangenehmen Konsequenzen kommen, plötzlich absolut werden. Wenn Sie, lieber Herr Reichenbach, schon in Ihren Idealen lebten (statt dass sie Ihnen nur erst Wunschträume sind), so brauchten Sie jetzt nicht in den Krieg, und überhaupt hätten wir, Ihre Zeitgenossen, nicht das Vergnügen, es zu sein. Goethe Zitat aus dem Werk? und Schopenhauer Zitat aus dem Werk? sagen, dass wir erst aus unseren Taten erfahren, wer wir sind; noch richtiger und allgemeiner dürfen wir sagen: aus unserem Schicksal.

Ich möchte Ihnen in meiner Weise alles sagen, was Krischna in der Bhagavadgita dem ArgunaFootnote 26 sagt, der auch aus Idealismus nicht in den Krieg wollte; oder denken Sie sich es selbst. Ich gebe Ihnen anheim, diesen Brief den Lesern des Ihrigen mitzuteilen und bin mit bestem Gruß

  • Ihr

  • gez. G. Wyneken

3 III. Hans Reichenbach to Gustav Wyneken, 14 March 1915 (HR-044-06-18)

Geht an die Empfänger des ersten Schreibens.

  • Göttingen, d. 14. III. 15.

  • Gosslerstr. 9, bei LingenerFootnote 27

  • Lieber Herr Doktor,

Ihr Brief ist keine Antwort auf mein Schreiben, denn Sie sind überhaupt nicht auf die Problemstellung eingegangen, die ich eingenommen habe.

Ich habe mit keinem Worte abgelehnt, für das Volk und für die Menschheit zu wirken. Ich habe in keinem meiner Gedanken auch nur im geringsten angedeutet, dass ich auf den Kampf um Fortschritt in dieser, unserer Zeit verzichte. Auch kennen Sie mich genug, um zu wissen, dass Begriffe wie “Ästheten-, Literaten-, Akademikertum“ auf meine Philosophie nicht anwendbar sind.

Ich habe nur ganz einfach den Gedanken vertreten, dass durch die Bejahung des Krieges als einer wertrichtenden Instanz dieser Fortschritt nicht geht.

  • 1.

Dies scheint mir der entscheidende Fehler sowohl Ihrer Broschüre als Ihrer Antwort an mich zu sein. Sie nennen es eine Fiktion, wenn ich in den gegenwärtigen Umständen von Rechtsfragen rede; noch handelte es sich, sagen Sie, um Machtfragen. Wenn diese Meinung ein Vertreter des Liberalismus gesagt hätte, hätte ich mich nicht gewundert; aber wie Sie, der Sie stets die objektive WerttheorieFootnote 28 als ersten Grundsatz jeder Weltanschauung vertreten haben, dies sagen können, ist mir unverständlich. Soll denn deshalb, weil die heutige Menschheit noch nicht fähig ist, den Rechtszustand zu verwirklichen, die Idee des Rechtes aufgegeben werden? Sie führen diesen Gedanken sogar weiter aus und nennen die Frage der englischen Seeherrschaft eine nie als Rechtsfrage zu frisierende Machtfrage. In all diesem liegt Ihnen die Auffassung zum Grunde, dass die Weltgeschichte das Weltgericht sei; ja mehr als das, dass sogar dieser einzelne Krieg schon in seinem Resultat als Sieg oder Niederlage ein Urteil Gottes wäre.

Ich kann natürlich hier nicht in eine Diskussion über die objektive Werttheorie eintreten; ich kann nur sagen, dass ich an der Auffassung festhalte, dass es eine objektive Erkenntnis des Guten (nicht eine logische, sondern eine ethische) gibt.Footnote 29 Wenn ich aber überhaupt diese Diskussion noch weiter führen will, so kann ich dies nicht anders, als dass ich eben diese Auffassung auch bei Ihnen voraussetze; und da ich nicht glauben kann, dass Sie diesen Gedanken – den ich zum erstenmal in seiner reinen Form bei Ihnen kennenlernte – aufgegeben haben, setze ich die Diskussion auf dieser Grundlage fort.

Ich behaupte also, dass sich im militärischen Kampf nicht die wahren Werte des Menschen gegenüberstehen und dass nicht notwendig die wertvolle Menschengruppe die militärisch siegreiche ist. Dass diese Behauptung richtig ist, zeigen viele historische Beispiele, es folgt aber ebenso klar auch daraus, dass im Kriege die wertvollsten Eigenschaften des Menschen gar nicht zum Ausdruck kommen, gar nicht wirkende Ursachen des Erfolges werden.

Eben darum behaupte ich, dass es unsere Aufgabe jetzt nicht ist, einer der Parteien zum Siege zu verhelfen, sondern vielmehr, die Idee des Krieges als einer wertrichtenden Instanz zu bekämpfen.

Dies ist meiner Ansicht nach ein wesentlicher Teil in der Erziehungsaufgabe der Jugend. Denn die Jugend sieht am ehesten ein, dass technische Gewandtheit und körperliches Geschick zwar nützliche und angenehme Eigenschaften sind, aber keine sittlichen Werte, und dass es Unrecht ist, den Menschen an seiner Leistung zu messen, wenn nicht vorher von dieser der empirische Faktor – Glück oder Unglück – abgezogen ist. Darum behaupte ich, dass die Jugend – natürlich ihrer Idee nach, unabhängig davon, wie viele aus ihr heute den Krieg bejahen – einen Gesellschaftszustand erstrebt, in dem es keinen Krieg gibt, in dem also die Entscheidung über die Organisationsform nicht dem Zufall überlassen ist; und wenn auch die nähere Ausführung dieses Gedankens nicht mehr Aufgabe der Jugend ist, so bleibt es doch ihre Pflicht, für die Idee des Rechtes einzutreten, weil ihr der Glaube an das objektive Gute notwendig ist.

  • 2.

Ich behaupte ferner, dass es unsere Pflicht ist, die Kulturentwicklung aufwärts zu ihrem Ideal zu führen; und dass dies nur möglich ist durch die vorhergehende Erkenntnis des Ideals. In diesem Sinne habe ich – wie auch Fichte den Ausdruck anwendet – von dem neuen Auge der Jugend gesprochen. Ich habe mir nicht angemaßt, dies neue Auge zu sein, denn dieses ist gerade so wie die Jugend eine Idee, niemals Wirklichkeit – aber ich habe behauptet, dass ich in diesem besonderen Falle die Kulturentwicklung so betrachte, wie sie durch das Auge der Jugend aussieht. Dazu habe ich meine Ansicht entwickelt und sogar zur Diskussion hingestellt, und es war Ihre Aufgabe, wenn Sie anderer Meinung sind, mich zu widerlegen; statt dessen haben Sie mir das Recht zu meiner Ansicht bestritten, weil ich nicht in meinen Ideen als Wirklichkeit lebte. Dass mir dies nicht möglich ist – wie es noch nie einem Menschen möglich war – rechne ich mir nicht zur Schande an, und ich halte es trotzdem für mein gutes Recht und meine erste Pflicht, die Welt an meinen Ideen zu messen und aus meinen Ideen das Urteil über das gegenwärtige Geschehen zu gewinnen.

Hier muss ich etwas Prinzipielles zu der Frage bemerken, wie man Tatsachen an Ideen messen kann. Sie stellen es so hin, als ob ich die Welt ablehnte, wenn sie nicht den Idealzustand repräsentierte. Natürlich wäre dies Unsinn. Natürlich ist die relativ beste Zeit immer noch himmelweit vom absoluten Ideal entfernt. Aber darum braucht man doch nicht auf ein relativ Bestes zu verzichten, im Gegenteil ist dies der einzige Weg zum Absoluten. Wenn ich der heutigen Zeit vorwerfe, dass sie nicht ihre wahren Führer an die Spitze gestellt hat, so heißt dies doch nicht, dass es keine solchen Führer gäbe. Natürlich sind die alten Führer der Jugend auch jetzt noch vorhanden. Aber das ist doch gerade die Aufgabe der ganzen kulturellen Arbeit, sie an mit Macht ausgestattete Stellen der Gemeinschaft zu bringen. Diese Führer sollten eben jetzt zu Generalobersten werden. Wenn man sich damit begnügt, dass die wahren Führer irgendwo in der Masse verstreut sind, und es ihrem zufälligen Einfluss überlässt, wie viel sie erreichen – ja, dann kann man überhaupt von vornherein auf jede soziale Arbeit verzichten und mit der Gegenwart zufrieden sein. Dann gibt es überhaupt keinen Vergleich der Wirklichkeit mit der Idee, wenn man gerade nur das Absolute sieht, das in ihr der Natur nach stets enthalten ist. Es kommt vielmehr darauf an, das empirisch Wirkliche seiner Intensität nach zu vergleichen mit dem Einfluss, der ihm seinem Werte nach zukommt; und dies heißt, die wirklichen Machtverhältnisse an der Idee des Rechten zu messen.

  • 3.

In diesem Sinne messe ich die gegenwärtige Zeit an meiner Idee und ließe mich von meinem Urteil nur abbringen, wenn man mir Gründe dagegen anführen könnte. Auch war in meinem ersten Schreiben meine Ansicht deutlich genug ausgesprochen, so dass meine Problemstellung gar nicht missverstanden werden konnte. Dass Verachtung einer Zeit nicht Ablehnung der Arbeit am kulturellen Fortschritt bedeutet, sondern nur Ablehnung der gerade von dieser Zeit eingeschlagenen Wege, das scheint mir sonnenklar zu sein; auch dass diese Verachtung nicht die Aufforderung zu einer “Verachtungsdemonstration” bedeuten sollte. Sie haben in Ihrem Antwortschreiben an JoëlFootnote 30 es abgelehnt, die Tragik des Schicksals der heutigen Jugend öffentlich zum Ausdruck zu bringen, die “bittere Ironie” (Spittelers Worte scheinen mir besser auf meine und Joëls Auffassung zu passen als auf die Ihre). Sie nennen eine solche Darstellung der Zeit “feuilletonistisch”. Ja, ist es denn unmöglich, dass wir uns von der Herrschaft des Feuilletons befreien? Können wir denn nicht endlich einmal wieder lernen, Dinge des tiefsten Empfindens ernst zu sagen? Gerade Ihre Aufgabe war es, diese Sprache in diesem Augenblick zu finden. Gerade von ihrem Führer erwartete die Jugend, dass er in dieser Stunde ihrer wirklichen Not die Worte fand, nach denen sie vergeblich sucht. Das ist die große Aufgabe der Führerschaft, Form zu finden für die Empfindungen, die noch ungeordnet und triebhaft die Jugend bewegen. Denn der Weg zur Form ist der Weg zur Kultur. Aber wenn es unmöglich ist, jetzt schon die Form zu finden, darf man dann diese Zeit kritisieren, ohne das Wichtigste gesagt zu haben – die bittere Ironie? Sie nennen es eine Anforderung des heldenhaften Daseins, sein Schicksal zu lieben. Ich muss antworten, dass mir mein Schicksal zu gleichgültig ist, um es zu hassen oder zu lieben. Hassen oder lieben aber kann ich Menschen, weil sie denkende Wesen sind, und verachten kann ich ein Stück Menschengeschichte, weil es abgewichen ist von dem Pfad, der allein aufwärts führt. Diese Verachtung erscheint mir nicht nur adlig, sondern vor allem aus einem Menschentum fließend, das sich seiner Pflicht und seines Rechtes zur Idee bewusst ist. Als Diener eines solchen Menschentums hatte ich an Sie die Forderung gestellt, dieser Verachtung Ausdruck zu geben; ich habe nicht die Empfindung, von Ihnen eine Antwort erhalten zu haben.

  • Ich bin Ihr

  • Hans Reichenbach.

4 IV. Gustav Wyneken to Hans Reichenbach, 18 March 1915 (HR-044-06-20)

  • [Handwritten note added by Reichenbach:] Geht an die Empfänger des ersten Schreibens.

  • München, Clemensstr. 5. d. 18. III. 15.

  • Lieber Herr Dr. Reichenbach,

ich habe nach wie vor das Bewusstsein, Ihnen sehr gründlich und sogar über den Umkreis der von Ihnen gestellten Probleme hinaus geantwortet zu haben, und ich will dies auch heute wieder tun, so überflüssig mir Ihre Replik auch vorkommt.

Denn was Sie mir da zum Vorwurf machen und glaubten bekämpfen zu müssen, “die Bejahung des Krieges als einer wertrichtenden Instanz“, findet sich in meinem Vortrag nicht, und es geniert mich ein wenig, dass Sie mir den dümmsten Zeitungsquatsch – “Weltgeschichte - Weltgericht“” – “die wertvolle Menschengruppe die militärisch siegreiche“ – zutrauen. Ich muss auch sagen: Ehe Sie so etwas von mir glaubten, hätten Sie es doch genauer nachprüfen und sich dreimal überlegen sollen, das glaube ich tatsächlich verdient zu haben.

Ich habe es doch deutlich genug gesagt, dass ich die gegenwärtige Weltgeschichte für ein Chaos und diesen Krieg für ein Erdbeben oder so etwas halte. Mein Vortrag aber geht aus von der schrecklichen Wirklichkeit des Krieges, an der wir so wenig noch etwas ändern können wie an einem Erdbeben. (Dass er kein Erdbeben, sondern eine Folge unserer menschlich gesellschaftlichen Zustände ist und also eine politische und kulturelle Schuld darstellt, ist eindringlich genug gesagt worden, S. 16).Footnote 31 Der Vortrag will (er ist ethisch, nicht politisch orientiert) der Jugend zeigen, was wir aus dieser Wirklichkeit für uns machen sollen.

Ihre Ablehnung, “einer der Parteien zum Siege zu verhelfen”, kommt mir ebenso komisch vor wie Bismarck die Proklamation des Magdeburger Oberpräsidenten in der Revolution 1848, er wolle eine Stellung über den Parteien einnehmen. Sie ist nicht viel anders, als wenn ein Mensch sich weigern wollte, lebendige Wesen zu töten und zu essen. Der Krieg ist an sich nichts anderes als eine Form des allgemeinen biologischen Daseinskampfes; wir sind mitten drin, und uns durchzukämpfen, ist einfach Selbstverständlichkeit. Und für das eigene Volk dabei das Leben einzusetzen, ist nur eine Bestätigung jenes Kollektivismus, auf dem alles Menschentum beruht. Ich habe ihn nie mit eigentlichem Idealismus, der nach vorwärts drängt, verwechselt. Was Sie mir da vorhalten vom absoluten Maßstab und der richtunggebenden Idee, ist mir weder unbekannt noch verloren gegangen. Aber wie oberflächlich fassen Sie selbst es auf! So billig denke ich es mir nun doch nicht. Sie sagen, es gelte, dem Krieg gegenüber die Idee des Rechts zu vertreten. Als wenn das sich einander ausschließende Gegensätze wären! Kann es nicht z.B. auch einen Rechtskrieg geben? Z.B. wenn Garanten eines internationalen Schiedsgerichts einen sich auflehnenden Staat zwingen müssten? Also Krieg und Recht sind an sich keine unbedingten Gegensätze. Vor allem aber: Was nennen Sie die Idee des Rechts? Sie fassen es offenbar ganz formal, ganz juristisch. Wenn das der neue Idealismus der Jugend sein soll –! Also dass sie dafür eintritt, dass ein internationales Schiedsgericht den Status quo des Rechtsbesitzes aller Völker aufrecht erhält! Das kommt mir gerade so vor, als wenn gegenüber der sozialen Emanzipation der Diebstahlsparagraph geltend gemacht wird, oder die Heiligkeit des gegenwärtigen Privateigentums. Wer sagt Ihnen denn, dass das gegenwärtig geltende Recht richtig ist? Z.B. dass auf dem gleichen Areal in Frankreich 39, in Deutschland 70 Millionen leben müssen? Dass das kleine Belgien den großen Kongostaat hat? Dass Deutschland nur den Abfall vom Kolonialbesitz erschnappt hat? Dass England in der Lage ist, jedes Volk der Welt wirtschaftlich zu ruinieren oder auszuhungern? Usw. Usw. Mir scheint es eine direkte Forderung des Idealismus zu sein, die Welt im Ganzen zu rationalisieren und zu organisieren. Könnte ein solcher für material richtiges Recht kämpfender Rechtsidealismus (jedem das Seine – erst mal geben, sagt Fichte)Footnote 32 nicht direkt zu Eroberungskriegen führen?

Es liegt mir ganz fern, den gegenwärtigen Krieg Deutschlands als einen solchen idealistischen anzusehen; er hat davon nur ein Tröpfchen beigemischt bekommen; wie ja z.B. auch die Kriege Napoleons,Footnote 33 der u.a. auch Ordnung in der Welt schaffen wollte. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass der pazifistische Liberalismus noch lange kein Idealismus, ja, noch nicht einmal ein völkerrechtlicher Sozialismus ist. Wer in diesem Krieg, wie die Pangermanisten, den Kampf der wertvollsten Rasse um die Weltherrschaft sieht und bejaht – kann damit ethisch weit idealistischer eingestellt sein als der Rechtspazifist, da er für ein richtiges Recht eintreten will, nicht bloß überhaupt für ein Recht; das auch ein verkehrtes sein könnte (so intellektuell unsinnig seine Überzeugung auch sein mag). Aber dies alles sind Überlegungen, die durchaus jenseits des Problemkreises meines Vortrags liegen. Für ihn ist der Krieg eben einfach Daseins- und Machtkampf; wir sind nun einmal Bürger eines Zeitalters, in dem es das noch gibt, und haben es auszubaden. Wir, unser Kreis, unser ganzes Volk sind daran möglicherweise ganz unschuldig. Machtkriege gibt es, solange ein Volk einen solchen führen will. Also z.B. solange England seine Seegewalt, die eine latente und potentielle Vergewaltigung ist, nicht aufgibt. Wir sollen nun selbstverständlich dafür eintreten, dass unter den Völkern auch einmal Recht gelte; aber dass der heutige Zustand der Weltverteilung einfach als Rechtszustand sanktioniert werde, ist eine sehr zweischneidige Forderung: die Legalisierung der Ausbeutung. Intranational wird neues Recht durch Klassenkämpfe geschaffen, durch Revolutionen (verschiedener Art) oder Revolutionsdrohungen, kurz, durch soziale Machtentwicklung; wie denken Sie sich die Schaffung eines einigermaßen richtigen internationalen Rechtes?

Wenn ich Herrn Joël idealistischen Mechanismus vorwarf,Footnote 34 so Ihnen außerdem idealistischen Materialismus. Sie tun so, als ob die bloße äußere Tatsache des Krieges an sich schon etwas Antiidealistisches wäre. Überhaupt überschätzen Sie ja sozus[agen] den Krieg. Er bedeutet, als Krieg, keinen prinzipiell anderen Weltzustand als vorher schon war. Jetzt auf einmal durch ihn zum Protestieren und Fluchen sich aufrütteln zu lassen, scheint mir wirklich etwas blamabel, gerade für die Jugend, d.h. den idealistischen Menschen. Konkret gesprochen: Fühlen Sie nicht, dass es der Scham widerstreitet, jetzt, wo die bürgerliche Jugend von der Elendigkeit unserer europäischen staatlichen Verhältnisse einmal gründlich mitbetroffen wird, ein Zetergeschrei zu erheben, ein wesentlich größeres Pathos einzuhängen, als man vorher, wo wesentlich die Proletarier litten, verwendete? Überhaupt finde ich, dass es Ihren Gedanken ein wenig an Instinkt und gutem Geschmack fehlt. Sie sehen ja, dass Spitteler aus meinen Ausführungen herauslas, was ich in den gebotenen Grenzen und Formen über Tragik des Schicksals der Jugend gesagt habe.Footnote 35 Was Sie von mir verlangen, würde ihm wahrscheinlich weniger Eindruck gemacht haben. Laut im Namen der Jugend deren Tragik verkünden wäre sentimental und geschmacklos.

Also nochmals: Ich sehe die Probe, der jetzt die Jugend ausgesetzt ist, darin, dass sie sich trotz ihres Idealismus, d.h. obgleich sie eine ganz anders geartete Welt wollen muss, doch im Krieg einfach menschlich und staatsbürgerlich zu bewähren im Stande ist – wie Sokrates als athenischer LandwehrmannFootnote 36 oder wie Arguna in der Bhagavadgita.Footnote 37 Ihnen und den Ihrigen liegt Ihr Idealismus noch unverdaut im Magen und macht Ihnen böse Träume. Die Jugend führt diesen Krieg nicht, sie erleidet ihn, so wie das ganze Volk und mit dem Volk. Sie kämpft in ihm nicht unmittelbar für sich und ihre Welt. Ihre Eingliederung ins deutsche Heer ist selbstverständlich nicht die ins Heer des Geistes; aber sie gibt ihr doch einen anderen “spielerische nichtige Geselligkeit”. Und sie diesen Ernst nicht bloß erleiden zu lassen, sie aus dem Passiven zu seelischer Aktivität wieder herauszuführen und ihr zu zeigen, wie sie mittelbar diesen Krieg doch auch in den Dienst ihres eigenen Wollens einordnen kann, war der Zweck meines Vortrags.

Hier und da ist er auch erreicht worden; die Jugend steht ja tatsächlich nicht so ganz hinter Ihnen. Um von Führern zu sprechen: Für Reiner,Footnote 38 der freiwillig im Felde steht (sicher doch ein “Unbefriedigter”) war er ein “Seelenbad”, BernfeldFootnote 39 schrieb: “das Beste, was ich über den Krieg gelesen, das Einzige – und dies ganz – was zu sagen war”. Ich will Ihnen aber auch noch das sagen, dass meine Auffassung von meinem Führeramt der Jugend durchaus anders ist als Ihre: “Form zu finden für die Empfindungen, die noch ungeordnet und triebhaft die Jugend bewegen”, darin habe ich nie meine Aufgabe gesehen. Ich habe sie nie analytisch (sozus[agen] psychoanalytisch) aufgefasst, sondern stets synthetisch: schöpferisch; Neues zu geben. Ich will die Jugend an meinem Leben teilnehmen lassen und überlasse es ihr und dem Schicksal, wieweit sie dies als ihrer Natur gemäß erkennt oder fühlt.

Ich stelle es Ihnen anheim, diesen Brief die Empfänger des IhrigenFootnote 40 lesen zu lassen. Ich will – und möchte damit unserer Kameradschaft und Ihrer Person gern eine Ehre erweisen – zum Schluss ganz offen aussprechen, dass ich nunmehr erwarte, dass Sie mir rückhaltlos recht geben und mit fliegenden Fahnen in mein Lager zurückkehren. (Möchten wir auch so etwas mal erleben!) Ich glaube die Dinge jetzt so gesagt zu haben, dass ich das hoffen darf; und jedenfalls habe ich sie für mich abschließend gesagt.

  • Ihr

  • G. Wyneken.