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Am 22. August 1929 berichtet Carnap in einem Brief an Auguste Dorothea Gramm: „Heute schrieb mir Hannes Meyer [der Bauhausdirektor, P.B.], ich möchte eine Woche zu Vorträgen ans Bauhaus kommen! Vielleicht tu ichs Ende Sept. od. Anf. Okt., weiss aber noch nicht bestimmt“ (RC 024-31-03).Footnote 1 Diese Unentschlossenheit mag verwundern angesichts der Tatsache, dass Carnap seit einem dreiviertel Jahr zweiter Schriftführer des Vereins Ernst Mach war, dessen Gründungsaufruf konstatierte, die „wissenschaftliche Weltauffassung fördern und verbreiten“ (zitiert nach Stadler, 2015, 153) zu wollen und in dessen von ihm mitverfasster Programmschrift die Absicht erklärt wurde, „mit den lebendigen Bewegungen der Gegenwart Fühlung zu nehmen“ (Neurath et al., 1929, 304).Footnote 2 Man erfährt den Grund in einem kurz darauf, am 25. August verfassten Brief Carnaps an Otto Neurath, wo er schreibt:

[S]oll für eine Woche zu Vorträgen über wiss. Weltauff. ans Bauhaus kommen. Feigls Tätigkeit scheint sie noch nicht gesättigt, sondern gerade ihren Appetit erfreulich angeregt zu haben. Habe grundsätzlich zugesagt, aber Zeit und Themen noch offen gelassen (viell. Okt.). Soll ichs machen? Mir ist klar, dass ich mich zum Popularisieren vor Nichtwissenschaftlern nicht so eigne wie Feigl. Fraglich ist mir, ob ich von meinen Gesichtspunkten aus den Bauhäuslern überhaupt etwas bringen kann. (RC 029-15-02)

Nachdem Neurath bereits am 27. Mai am Bauhaus gesprochen und Herbert Feigl im Juli an sieben aufeinanderfolgenden Tagen dort referiert hatte,Footnote 3 wäre Carnap nun das dritte Wiener-Kreis-Mitglied gewesen, das in diesem Jahr Gastvorträge an der Dessauer Avantgarde-Schule gehalten hätte. Initiiert wurde diese markante Präsenz durch Neurath, der sich nicht zuletzt durch seine Aktivitäten im Österreichischen Siedlungsverband und dem von ihm geleiteten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum dieser kulturrevolutionären Schule ideell und kollegial verbunden fühlte,Footnote 4 und mit der Gründung des Vereins Ernst Mach außerdem nun die „neue Philosophie ‚managen‘“ (Feigl, 1929, 23) wollte.

Carnap hatte wohl schon eine Absage erwogen, denn am 10. September findet sich in seinem Tagebuch der Eintrag, dass Neurath, Feigl, Hans Hahn und Josef Frank ihm zuredeten, „doch zum Bauhaus zu gehen“ (Carnap, o. J.). Daraufhin fiel schließlich die Entscheidung – schon am nächsten Tag heißt es im Tagebuch: „Feigl kommt, bleibt bis Abend. […] Er gibt mir Ratschläge für Themen in Dessau, erzählt von dort“ (Carnap, o. J.). Wie ein Manuskript Carnaps zeigt, hatte er sich an diesem Abend eine erste Skizze seiner geplanten Bauhausvorträge gemacht.Footnote 5 An den folgenden Tagen kümmerte er sich allerdings zunächst um sein Referat für die „1. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften“, die vom 15. bis 18. September in Prag stattfand.Footnote 6 Von dort zurückgekehrt scheint er dann ab 1. Oktober täglich an den Bauhausvorlesungen gearbeitet zu haben.Footnote 7 So traf er wohlpräpariert am 15. dieses Monats, dem ersten Vortragstag, in Dessau ein. Von den Bauhäuslern kannte er wohl nur den Schriftleiter der Bauhauszeitschrift Ernst Kállai und den Studenten Willy Zierath, der ihm am Nachmittag eine Führung durch das Bauhausgebäude und die Werkstätten gab.Footnote 8 Am Abend musste sich Carnap – Meyer war noch verreist – selbst einführen. Worüber er dann sprach, lässt sich anhand der erhaltenen Vortragsmanuskripte grob rekonstruieren.Footnote 9 Die Vorlesungsreihe begann mit dem Thema „Wissenschaft und Leben“. Carnap stellt hier die Frage, welche Rolle die Wissenschaft im alltäglichen Leben spielen kann. Mit seiner Antwort trägt er – zum ersten Mal überhaupt – seine nonkognitivistische Position vor,Footnote 10 indem er feststellt: „Wir müssen unterscheiden zwischen Tatsachen und Werten: das, was ist, und das, was ich möchte, wünsche, fordere (Wollen und Sollen)“ (RC 110-07-49). Während er Tatsachen schlicht anhand der zuständigen Disziplinen Physik und Psychologie einteilt, fächert Carnap das Spektrum der Werte weit auf. Grundsätzlich unterscheidet er zwischen ästhetischen („Geschmack“) und ethischen („Gewissen“) Wertungen, wobei beide letztendlich auf einem „Streben nach Lust“ (RC 110-07-49) beruhen sollten.

Im Folgenden geht Carnap nicht – was man bei diesem Publikum hätte erwarten können – auf die ästhetischen Werte ein, sondern vertieft die Betrachtung des ethischen Bereichs. Hier differenziert er weiter zwischen verschiedenen „Grundwerten“ wie dem „Wohlergehen der eigenen Person“ und dem „Wohlergehen einer Gemeinschaft“ (RC 110-07-49), womit die Familie, die Nation, die soziale Klasse, die Rasse oder die gesamte Menschheit gemeint sein könne. Als das Entscheidende macht er hierbei aus: „Die Wertung selbst kann nicht von theoretischer Erkenntnis gefunden werden, denn sie ist nicht Erfassen einer Tatsache, sondern persönliche Einstellung“ (RC 110-07-49). Bestehe aber die Aufgabe der Wissenschaft allein in Erkenntnis, so sei zu fragen, was „die Erkenntnis für das Handeln [leiste]“ (RC 110-07-49). Nach Carnap zweierlei: einerseits zeigt sie die Konsequenzen auf, die bei einer bestimmten Entscheidung zu erwarten sind, andererseits belehrt sie darüber, welche Mittel für welche Ziele einzusetzen sind. Das für den ersten Punkt von Carnap angeführte Beispiel lässt sich kaum anders als ein offenes Bekenntnis zum Sozialismus auffassen, zumal er sich bei diesem Vortrag eine „deutliche Stellungnahme“ bezüglich „Politik usw.“ (RC 110-07-44).Footnote 11 vorgenommen hatte:

Wenn man eine Wirtschaftsordnung haben will, die gleichzeitig erstens Boden und Produktionsmittel (Fabrik und Maschinen) im Privatbesitz lässt (also zu willkürlicher Verfügung des Einzelnen), und die zweitens gleichzeitig keine Menschen unterdrückt, sondern allen freie Entfaltungsmöglichkeiten schafft, so stimm sind diese beiden Wünsche unvereinbar. (RC 110-07-49)

Zwar hebt Carnap hervor, dass die praktische Entscheidung, für den Sozialismus oder den Kapitalismus einzutreten, die Wissenschaft nicht fällen kann – sie „kann zwischen beiden nicht unterscheiden; aber die demokratisch-liberale Richtung, die den Kapitalismus bestehen lassen will, kann theoretisch erledigt werden (vorausgesetzt, dass die Wirtschaftstheoretiker Recht haben mit der Lehre jener Unvereinbarkeit)“ (RC 110-07-49).

Als weitere Beispiele solcher Unvereinbarkeiten führt Carnap ohne Erläuterungen an: „die neue Lebenseinstellung (Bauhaus)“ einerseits und „autoritative Unterordnung“Footnote 12 sowie „Metaphysik in Jäckhs Vortrag“ (RC 110-07-49) andererseits. Mit letzterem war eine programmatische Rede gemeint, die Ernst Jäckh, der Geschäftsführer des Deutschen Werkbundes, auf dessen Tagung in Breslau im Juni 1929 gehalten hatte und die kurz darauf in der Zeitschrift Die Form (dem Presseorgan des Werkbundes) erschienen war. Jäckh stellte darin die Pläne für die größte bis dahin gezeigte Werkbund-Ausstellung vor, die unter dem Titel „Die Neue Zeit“ 1932 in Köln stattfinden und einen Gesamtüberblick über die gegenwärtige Epoche geben sollte, flankiert von einer Reihe internationaler wissenschaftlicher und philosophischer Kongresse.Footnote 13 Carnap konnte davon ausgehen, dass alle Bauhäusler diesen Text jüngst gelesen hatten. Auch er selbst hatte sich unmittelbar vor seiner Dessaufahrt damit befasst: Für den 2. Oktober 1929 finden sich in seinem Tagebuch die Zeilen: „Nachmittags Werkbundsitzung in Handelskammer. Mit Neurath. Professor Jäckhs Vortrag über die Ausstellung ‚Die Neue Zeit‘ 1932 in Köln. Da muss auch die wissenschaftliche Weltauffassung vertreten werden!“

Jäckhs Ausstellungskonzeption sah eine Untergliederung in die Bereiche Raum-Zeit, Persönlichkeit, Materie, Funktion, Organisation, Idee und Gemeinschaft vor. Diese Schlagworte, die mit Goethes orphischen Urworten korrespondieren sollten,Footnote 14 ergaben sich für Jäckh zwangsläufig und sollten demgemäß eine höhere Einheit bilden: „Der Kreis ist durchschritten, der Ring ist geschlossen: von wissenschaftlicher physikalischer Forschung und philosophischer metaphysischer Folgerung aus – die innere Ordnung eines Gestaltungsprinzips, die einheitliche Struktur einer Totalität […],[eines] Gesamtorganismus“ (Jäckh, 1929, 417) zeige sich hier. Es waren sicher diese Ausführungen, die Carnap als mit der Einstellung der Bauhäusler unvereinbare Metaphysik bezeichnete. Auch Neurath hatte dazu in einem Diskussionsbeitrag in der Form kritisch Stellung bezogen, indem er Jäckh zwar beipflichtete in der Ansicht, dass zwischen den wissenschaftlichen, den kulturell-künstlerischen und den gesellschaftlich-politischen Entwicklungen ein Zusammenhang bemerkbar sei, man hierin aber nicht ein „metaphysisches Gefüge unter kosmischen Aspekten“ sehen müsse, sondern auch einfach nur „ein Gemenge geordneter und ungeordneter Erfahrungsbestandteile, deren logischen Aufbau man [in der Ausstellung ‚Die Neue Zeit‘, P.B.] zu bewältigen trachte“ (Neurath, 1929, 588). Auch für die Feststellung, dass die Wissenschaft die anzuwendenden Mittel für gewünschte Zwecke aufzeigt, verwendet Carnap in seinem Bauhausvortrag ein die sozialistische Position darlegendes Beispiel:

Die Sozialwissenschaften (kaum erst begonnen) lehren die sozialen Bedingungen schaffen: die Menschen, die in einer bestimmten Wirtschaftsordnung an Machtmitteln und an politischen und sozialen Rechten schwächer, aber stark an Zahl sind (z. B. Proletariat), müssen sich zusammenschließen, straff organisieren, wenn sie ihre Lage ändern wollen. Die Sozialwissenschaft sagt nicht, ob sie dies tun oder lassen sollen, sondern nur, was im einen und im anderen Falle zu erwarten ist. (RC 110-07-49)Footnote 15

Zusammenfassend hält Carnap fest, dass das „rationale Denken nicht Führer im Leben [sei], wohl aber Wegweiser. Es bestimmt nicht die Richtung (das geschieht durch irrationale Triebe) des Handelns, sondern macht nur Angabe über die zu erwartenden Folgen, belehrt also über die Mittel zu einem gewollten Zweck“ (RC 110-07-49).Footnote 16 Explizit wendet er sich damit gegen den verkündeten Gegensatz von Ludwig „Klages,Lebenʻ contra,Geistʻ!“ (RC 110-07-49).Footnote 17 Der damals weit über die Fachgrenzen hinaus bekannte Klages wurde auch am Bauhaus sehr geschätzt. Dem dort angebotenen Unterrichtsfach „Der Mensch“ lag ein Großteil seiner Werke zugrunde.Footnote 18 In der Zeitschrift bauhaus zeigte eine Besprechung des von dem Klages-Anhänger Hans Prinzhorn publizierten Werkes Leib-Seele-Einheit (1927) unter dem Titel „bauen und leben“ [sic!] auf, wie die Bauhausarbeit von der Klages-Prinzhornʼschen Lehre profitieren könne.Footnote 19 Vielleicht hatte Carnap seinen Vortragstitel an diese Überschrift angelehnt, machte er doch den Bauhäuslern ein vergleichbares Angebot in Bezug auf die wissenschaftliche Weltauffassung.Footnote 20 Eine ausdrückliche Stellungnahme gegen Klages schien umso mehr geboten, als Meyer Prinzhorn zu Vorträgen ans Bauhaus eingeladen und sich dessen Leib-Seele-Einheit zu eigen gemacht hatte.Footnote 21 So hatte Meyer in einem in Wien gehaltenen Vortrag „die neue baulehre“ als eine „erkenntnislehre vom dasein“ bezeichnet, die „erkenntniskritisch den gesamten lebenskomplex anpacken“ und somit auch „seelenkunde vermitteln“ müsse „auf der grundlage der leib-seele-einheit (carus – nietzsche – klages – prinzhorn)“ (Meyer, 1980, 62).Footnote 22

Am zweiten Abend sprach Carnap über „Aufgabe und Gehalt der Wissenschaft“. Wie die Vortragsskizze zeigt, wollte er hier ursprünglich darlegen, dass die Wissenschaft zu verdeutlichen habe, welche Dinge miteinander unverträglich sind, wie etwa „die neue Zeit“ und „metaphysische Denkstile“.Footnote 23 Damit ist wohl nicht Jäckhs Konzeption gemeint, sondern die in der geplanten Ausstellung angesprochenen Inhalte. Mit Sicherheit lässt sich das aber nicht sagen, denn im Vorlesungsmanuskript heißt es: „Dies ist Wiederholung aus dem Vortrag,Wissenschaft und Leben‘“ (RC 110-07-46). Deshalb verwarf Carnap dieses Vorgehen offensichtlich wieder und kehrte zu seinem ursprünglichem Plan zurück, der darin bestand, darzulegen: „Wissenschaft besteht aus Strukturaussagen, […] Sagbares und Unsagbares“ (RC 110-07-44). Dementsprechend hörten die Bauhäusler an diesem Abend: „Die Aufgabe der Wissenschaft ist: Erkenntnis und Darstellung von dem, was ist“ (RC 110-07-47),Footnote 24 wobei zu unterscheiden sei zwischen einzelnen Tatsachen wie „Dieses Stück Kreide ist weiß“ und allgemeinen Sachverhalten wie „Kreide ist stets weiß“.Footnote 25 Da jede Erkenntnis der Wissenschaft in Sätzen formuliert sei, müsse man in diesem Zusammenhang auch die Frage beantworten, was durch Sprache überhaupt ausgedrückt werden könne. Carnaps Antwort lautet, dass „Sprache […] nur das wiedergeben [kann], was zwischen Individuen übertragbar ist: Die Relationen zwischen Elementen, nicht das qualitative Wesen der Elemente selber“ (RC 110-07-47). Er bringt dazu ein Beispiel aus der Lebenswelt des Bauhauses:

Ob der andere mit „grün“ dieselbe Qualität bezeichnet, wirklich das gleiche erlebt, ist eine sinnlose Frage, da ein Vergleich gar nicht möglich […] ist. Durch Verwendung des Wortes „grün“ […] kann nur festgelegt werden, dass die und die Dinge dieselbe Farbe haben, also nur die Relation der Farbgleichheit. (RC 110-07-47)

Was die allgemeinen Sachverhalte beziehungsweise Naturgesetze anlangt, so müsse man sich darüber klar werden, was es heißt, eine Tatsache zu erklären, nämlich „nur: Angabe eines allgemeinen Satzes, unter den die Tatsache fällt. […],Erklärung‘ heißt nicht: Erkenntnis von etwas, hinter der Tatsache Liegendem, das ihren geheimen Urgrund bildet, aus dem sie hervorgeht. […] Die Frage nach dem dahinter Stehenden ist eine sinnlose Frage (Metaphysik)“ (RC 110-07-47).

Der Vortrag tags darauf am 17. Oktober mit dem Titel „Der logische Aufbau der Welt“ ist nicht – wie man vermuten könnte – eine Zusammenfassung des Aufbau, sondern wohl Carnaps erste öffentlich vorgetragene Hinwendung zur Einheitswissenschaft. Schon in seiner Ideenskizze zu dieser Vorlesung notierte er: „Hauptsache Einheitswissenschaft; gemeinsame Basis aller Begriffe; nur 1 Erkenntnisquelle, alles spricht vom Gegebenen“ (RC 110-07-44). Und dementsprechend begann der Vortrag: „Grundthese: Es gibt nur 1 Wissenschaft (‚Einheitswissenschaft‘), nicht auseinanderfallende Fächer (‚Natur-, Geisteswissenschaft‘), denn alle Erkenntnis stammt aus 1 Erkenntnisquelle: die Erfahrung […]. These: Jeder Satz der Wissenschaft spricht von einem Gegebenen und nur von ihm“ (RC 110-07-45). Dass dies auch für abstrakte Begriffe gilt, zeigt Carnap am Beispiel von

Gravitation. Konstituierbar aus Dingbegriffen. […] „An dieser Stelle herrscht eine Schwerkraft von dem und dem Betrage in der und der Richtung“ bedeutet „An dieser Raumstelle erfährt jedes Ding eine (für alle gleiche) Beschleunigung in dieser Richtung in diesem Betrag“. Damit ist der Begriff „Schwerkraft“ zurückgeführt auf Begriff der wahrnehmbaren Dingwelt. Jeder Satz über die Schwerkraft lässt sich übersetzen in einen Satz über Bewegungen von Körpern; es gibt daher (für die Wissenschaft) nicht außer diesen Bewegungsverhältnissen noch eine „Schwerkraft“, die diese erzeugt. „Schwerkraft“ nur abkürzender Sprachausdruck. (RC 110-07-45)

Dies gelte auch für Begriffe aus anderen Bereichen. So gäbe es auch keinen „Sozialgegenstand, z. B.,Staat‘ oder,Volk‘, jenseits der Individuen! Gegen die,Volksgeist‘- oder,Staats‘-Metaphysik“ (RC 110-07-45). Als vorbildlich lobt Carnap hier „die marxistische Geschichtsauffassung“, denn diese stütze sich „auf das empirisch Erfassbare, letzten Endes also auf das Wahrnehmbare“ (RC 110-07-45).

Am vorletzten Veranstaltungstag hielt Carnap wohl seinen technisch anspruchsvollsten Vortrag „Die vierdimensionale Welt der modernen Physik“. Über dieses Thema zu reden hatte sicher seine Berechtigung vor dem Hintergrund, dass der relativitätstheoretische Paradigmenwechsel in der Physik von Anfang an auf die bildende Kunst und bald schon auf die Architektur wirkte und zu neuen Formensprachen anregte.Footnote 26 Dabei war freilich vieles nur halb verstanden und es waren mitunter nur die zu Assoziationen einladenden Begriffe wie „Raumzeit“, die diese Faszination auslösten. So hatte etwa Walter Gropius in seiner Bauhausvorlesung „Raumkunde“ von circa 1922 eine auf Einstein zurückführbare „Identität von Geist und Materie“ (Gropius, o. J.) ausgemacht.Footnote 27 Carnap versuchte hier aufklärend zu wirken, indem er das neue physikalische Weltbild in seinen Grundlinien erläutern wollte. Ernüchternd konstatierte er: „Die Zeit wird symbolisch dargestellt als 4. Raumdimension; nur zur Veranschaulichung Verdeutlichung (und leichteren mathematischen Berechnung), nichts Mystisches dabei“ (RC 110-07-48). Ob ihm die Entmystifizierung durch die wissenschaftliche Darstellung der Verhältnisse restlos gelang, darf jedoch bezweifelt werden,Footnote 28 wenngleich er versuchte, es mit dem Bild von „flachen Tieren“ und ihren Wahrnehmungen in einer zweidimensionalen Welt anschaulich zu machen.Footnote 29 Schon Feigl hatte bei seinen Bauhausvorträgen die Erfahrung gemacht, dass manches „den Leuten wegen der Fülle der Tatsachen etwas schwierig geworden war“ (Feigl, 1929, 13)Footnote 30 – wobei er sich mit seinem eigenen „Raum-Zeit-Vortrag“ sehr zufrieden zeigte.Footnote 31 Und Carnap berichtete nach diesem Abend in einem Brief an Auguste Dorothea Gramm: „sie [die Bauhäusler, P.B.] diskutieren sehr gern, aber sehr dilettantisch“ (RC 024-32-12).Footnote 32

Der letzte Vortrag, den Carnap am 19. Oktober unter dem Titel „Der Missbrauch der Sprache“ hielt, war sicher als abschließender Höhepunkt gedacht und deshalb am gehaltvollsten. Etwas enttäuscht vermerkt er daher in seinem Tagebuch: „nur wenig Zuhörer, obwohl viele vorher sich gerade hierauf gespitzt hatten; aber die Ausstellung wird gerade aufgebaut!“ Laut erster Skizze wollte Carnap reden über „Probleme und Scheinprobleme (Gibt es Grenzen der Erkenntnis?) (Wodurch kommen Scheinprobleme?)“, dabei plante er eine „Vereinheitlichung von Hans [sic!] und meinem Vortrag“ (RC 110-07-44). Damit sind offenbar die beiden Vorträge gemeint, die Hans Hahn und er im Verein Ernst Mach wenige Monate zuvor gehalten hatten, Hahn am 10. Mai über „Überflüssige Wesenheiten (Occams Rasiermesser)“ und er am 14. Juni über „Scheinprobleme der Philosophie (von Seele und Gott)“.Footnote 33 Hahn beschreibt in seinem Vortrag werbend die von ihm so genannte weltzugewandte Philosophie:

[S]ie nimmt diese Welt, wie sie sich darbietet, in ihrer Unbeständigkeit, ihrer Regellosigkeit, ihrer Buntheit, und sucht sich in ihr zurechtzufinden, sich mit ihr abzufinden, sie zu genießen. Das einzige Wesenhafte ist ihr das durch die Sinne Kundgetane; sie verabscheut es, außerhalb dieser Sinnenwelt nach andersgearteten Wesenheiten zu fahnden. (Hahn, 1930b, 3)

Deshalb sei dieser Philosophie der Engländer Wilhelm von Occam mit seinem Leitsatz, „nicht mehr Wesenheiten an[zu]nehmen, als unbedingt nötig“ (Hahn, 1930b, 7) ein Vorbild. Dabei weist Hahn auch auf die bestehende wechselseitige Bezogenheit von aufklärerischem Impetus, sozialkritischer Demokratie und antimetaphysischem Wissenschaftsverständnis hin, indem er feststellt:

[E]s ist gewiß kein Zufall, daß es dasselbe Volk [die Briten, P.B.] war, das der Welt die Demokratie und die Wiedergeburt der weltzugewandten Philosophie schenkte, und es ist kein Zufall, daß in dem Lande, in dem die Metaphysik hingerichtet wurde, auch ein Königshaupt fiel. Denn alle die hinterweltlichen Wesenheiten der Metaphysik: die Ideen Platos, und das Eine der Eleaten, die reine Form und der erste Beweger des Aristoteles, und die Götter und Dämonen der Religionen, und die Könige und Fürsten auf Erden, sie alle bilden eine Schicksalsgemeinschaft – und wenn der Purpur fällt, muß auch der Herzog nach. (Hahn, 1930b, 6 f.)

Carnap notierte dazu am 19.05.1929 in sein Tagebuch: „Sitzung Ernst Mach Verein. Hahns Vortrag,Ockhams Rasiermesserʻ, sehr gut“ (Carnap, o. J.). Auch viele Bauhäusler hätten Hahns Ausführungen etwas abgewinnen können. So betrachtete Josef Albers das Ökonomieprinzip als ein Hauptmoment seines Unterrichts und hob zugleich bedauernd hervor, dass „die soziologischen parallelen [sic!] nicht notiert“ (Albers, 1928, 4) würden.Footnote 34 In seiner Lehre unterschied er zwischen „arbeitsökonomie“, die sich auf das Verhältnis von Aufwand und Nutzen beziehe, „materialökonomie“, die auf eine Materialverarbeitung ohne Verlust im Sinne von Verschnitt abziele – es dürfe „in keiner form etwas ungenutztes übrig bleiben“ (Albers, 1928, 5) – und der „soziologischen ökonomie“, die auf „den kollektiven austausch der erfahrungen“ abziele und damit „den persönlichkeitskult der bestehenden pädagogik“ (Albers, 1928, 6) überwinde.

Bezüglich Hahns Vortrag hatte Carnap sich dann aber doch eines Besseren besonnen (siehe unten), wohingegen er Passagen des Manuskripts seines eigenen Mach-Verein-Vortrags direkt verwendete.Footnote 35 Seinen Bauhausvortrag leitete er mit der Feststellung ein, dass ein Missbrauch der Sprache dann vorliege, wenn

ein theoretischer Gehalt vorgetäuscht wird, wo keiner besteht. Sinnlose Wortreihen statt Aussagen. Die LyrikDie Dichtung braucht keinen theoretischen Gehalt zu haben; wir fragen nicht „wahr oder falsch?“ […] Die Metaphysik ist in diesem Sinne Dichtung, sie will aber Theorie sein. […] Daher bezeichnen wir als „metaphysische Sätze“ auch solche, z. B. in Schriften über Kunst, die diese Beschaffenheit haben. (RC 110-07-43)Footnote 36

Sinnlose Sätze, so fährt Carnap fort, entstehen vor allem durch

Verdinglichung: Durch die gleiche Sprachform verführt, fasst man […] etwas Nicht-Dingliches, z. B. einen Zustand eines Dinges, als Ding auf. Beispiel: „Ich bin meine Kopfschmerzen […] losgeworden“ analog „Ich bin meine Hand losgeworden“; man nimmt, durch die Sprachform verführt […] die Kopfschmerzen als ein Ding. [Oder:] „Die Seele entflieht dem Körper“ […]. Seele = Zustand der Beseeltheit. (RC 110-07-43)

Sinnlose Sätze entstehen aber auch, so Carnap weiter, durch

sinnlose Worte. Jedes Wort hat ursprünglich eine Bedeutung. Es kommt aber vor, dass man ihm die alte Bedeutung nimmt, ohne ihm eine neue zu geben. Beispiel:Geist“. Entwicklung: […] Zuerst Bezeichnung sichtbarer Personen, […] [dann] seelisches und geistiges Wesen, […] [schließlich, in der] Metaphysik: Geist als „das Absolute“. (RC 110-07-43)Footnote 37

Letzteres ist aber eine Bestimmung, die „jenseits jeder möglichen Erfahrung liegt und daher gar nichts besagt. […] Jeder Begriff, wenn er einen Sinn haben soll, muss auf Erfahrungsinhalte, Wahrnehmungen zurückgehen“ (RC 110-07-43). Sätze der Metaphysik täten dies nicht und seien deshalb als theoretische Aussagen sinnlos. Ihr Sinn bestehe allein darin, ein allgemeines Lebensgefühl (nicht nur eine momentane Stimmung) zum Ausdruck zu bringen. Allerdings sei die Metaphysik eine für diesen Zweck ungeeignete Ausdrucksart. „Die richtigen Ausdrucksmittel für Lebensgefühle“ seien dagegen einerseits Kunst, also die „Gestaltung besonderer Gegenstände“, andererseits Architektur und Design, also „die Gestaltung der Dinge des Lebens“ (RC 110-07-43). Carnap hatte also der von Hahn angeführten Schicksalsgemeinschaft von Klerus, Adel und Anti-Demokraten nicht noch die Anhänger ornamentaler Ästhetik hinzugefügt, um zu erklären, dass sie alle gemeinsam durch Metaphysikkritik anzugehen seien. Die „Ablehnung der Metaphysik“, für die die Bauhäusler in ihrem „Streben nach Echtheit“ (RC 110-07-43) ebenso eintreten sollten wie die Logischen Empiristen, könne gar nicht im Bereich der Gestaltung, sondern nur im Bereich der Sprache zur Anwendung kommen. Und hier sah Carnap offensichtlich Handlungsbedarf, da er erklärte: „Ähnlich wie in der Metaphysik steht es häufig mit den Büchern und Abhandlungen über Kunst; auch sogar den modernen über Formgestaltung!“ (RC 110-07-43).

Ein aktuelles Beispiel aus dem Bauhaus hatte Carnap ebenfalls parat, nämlich ein Zitat aus dem jüngst in der Bauhauszeitschrift publizierten Grundsatzartikel „bauhaus und gesellschaft“ von Meyer, der dort schrieb: „kunst ist nur ordnung. klassisch: im modul der logischen raumlehre des euklid, gotisch: im spitzen winkelmaß als raster der leidenschaft, renaissance: im goldenen schnitt als regel des ausgleichs“ (Meyer, 1929, 2).Footnote 38 Diese Sätze wurden anscheinend schon vorher in Wien diskutiert, denn zwei Tage nach dem Vortrag, am 21.10.1929, notiert Carnap in sein Tagebuch: „Mittags 1–3 mit Hannes Meyer zusammen. Ich erzähle auch, dass Hahn sein Zitat benutzen wollte“ (Carnap, o. J.). Hahn wollte Meyers Äußerung vermutlich für seinen Artikel „Die Bedeutung der wissenschaftlichen Weltauffassung“, als Veranschaulichung folgender Ausführungen:

[D]ie Worte der Sprache führen, neben dem Hinweise auf das, was sie ihrem wörtlichen Sinne nach symbolisieren sollen, noch die verschiedenartigsten Begleitvorstellungen mit sich. Diese Begleitvorstellungen begünstigen nun ein Hin- und Herschwanken zwischen der wörtlichen Bedeutung und „übertragenen“, „bildlichen“ Bedeutungen. Die lyrische Dichtung beruht fast zur Gänze auf dieser Eigenschaft der Wortsprachen. So berechtigt nun die Lyrik als Mittel zum Ausdruck und zur Erzeugung von Gefühlen ist, so heterogen ist Lyrik dem Prozesse wissenschaftlicher Erkenntnis, dessen Wesen Eindeutigkeit und Klarheit ist. (Hahn, 1930a, 104)

Meyer konnte Carnap aber darlegen, dass sich sein Text als Metaphysikbeispiel nicht eignete, indem er erklärte, „diese Ausdrücke seien da auch lyrisch, d. h. gemeint, d. h. so, dass reiche gefühlsmäßige Assoziationen eintreten sollen“ (Carnap, o. J.).Footnote 39 In der an den Vortrag anschließenden Diskussion bemerkte Carnap, „dass die theoretischen Arbeiten der Bauhäusler nicht von Metaphysik frei sind. Beispiel ‚Rot ist schwer‘ usw.; nur als psychologische Aussage gerechtfertigt“ (Carnap, o. J.). Dies bezog sich vermutlich auf die Kunsttheorien von Wassily Kandinsky und Paul Klee. Vor allem Kandinsky musste sich an seinen eigenen Ansprüchen messen lassen, wenn er in Bezug auf seinen Bauhausunterricht erklärte: „der anfangende künstler muß von vornherein an ein objektives, das heißt wissenschaftliches denken gewöhnt werden“ (Kandinsky, 1926, 4). In seinem 1926 erschienenen Werk Punkt und Linie zu Fläche, das das Kompendium eines großen Teils seiner Lehre am Bauhaus bildet, werden Farben und Formen hinsichtlich ihrer Wirkungen, verursacht durch ihre „Temperatur“, ihren „Klang“, ihr „Gewicht“ und so weiter untersucht.Footnote 40 Ähnliche Betrachtungen finden sich in dem bereits ein Jahr zuvor publizierten Pädagogischen Skizzenbuch von Klee.Footnote 41 Nach Carnap betrieben Kandinsky und Klee (wie Husserl und Oskar Becker) jedenfalls „Bewusstseinsanalyse in metaphysischer Form“.Footnote 42

Dass Carnap, wie Dahms behauptet,Footnote 43 an dem Vortragsabend außerdem noch Martin Heideggers Satz „das Nichts nichtet“ als Beispiel anführte, ist unwahrscheinlich, wenn sich auch Carnap gerade erst intensiver mit Heidegger befasst hatte (der von Carnap vor Ort mitverfolgte zweite „Davoser Hochschulkurs“ mit dem berühmten Disput zwischen Cassirer und Heidegger lag ja erst wenige Monate zurück).Footnote 44 Dahms stützt seine Behauptung auf eine Erinnerung Edith Tschicholds, die, von Carnap gefragt, ob sie sich unter dem genannten Satz etwas vorstellen könne, „geantwortet hatte, das könnte vielleicht Kurt Schwitters geschrieben haben und […] damit einen großen Heiterkeitsausbruch“ (Tschichold, 1979, 192) erzielte. Allerdings gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass Tschichold an den Tagen von Carnaps Bauhausvorträgen in Dessau war. Wahrscheinlicher ist, dass sich diese Szene später, im Januar 1931 in Seefeld in Tirol abspielte, wo Carnap zusammen mit den Tschicholds, den Rohs (Franz mit Frau Hildegard) und anderen seinen Silvesterurlaub verbrachte und bei dieser Gelegenheit das Manuskript zu seinem Aufsatz „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ (wo dieser Heidegger-Satz bekanntermaßen erörtert wird) vorlas.Footnote 45 Bei diesem Zuhörerkreis ist auch der erwähnte „große Heiterkeitsausbruch“ als Reaktion auf Tschicholds Antwort verständlich (Dahms paraphrasiert hier mit „tosendem Gelächter“, womit man freilich ein größeres Auditorium assoziiert), nicht aber bei den Bauhäuslern. Gegen Dahmsʼ Version spricht auch, dass in Carnaps Vortragsmanuskript nicht „das Nichts“ als Beispiel für einen sinnlosen Begriff genannt wird, sondern „Geist“ und „Seele“.

Als Resümee von Carnaps Bauhausvorträgen lässt sich festhalten, dass er für die beiden zentralen Anliegen des Meyerʼschen Bauhauses, Sozialismus und Funktionalismus, die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Fundierung für ausgeschlossen erklärte, zugleich aber darauf hinwies, dass die Logischen Empiristen und die Bauhäusler derselben Wertegemeinschaft angehörten.Footnote 46 Und da diese Werte den Kampf gegen die Metaphysik beinhalteten, betrachtete es Carnap als seine Aufgabe, auf diesbezügliche Defizite am Bauhaus hinzuweisen. Offenbar stimmte Carnap hier mit Roh überein, der die Direktive, dass „das Aesthetische […] aus der Architektur überhaupt weg zu fallen [sic!] habe,“ als „erkenntnistheoretischen Irrtum […] des Bauhauses“ (Roh, 1932, 1) bezeichnete, mit der Begründung: „In allen politisch wissenschaftlichen, den sog. Gehäusefragen soll man rational organisiert sein. In allen Binnenfragen des Lebens aber soll man der freien Innerlichkeit individuellen Lauf lassen“ (Roh, 1932, 1).

Ob Roh diese These von Carnap, den er (laut Carola Giedion-Welcker) „übertrieben vergöttert“ (Carnap, o. J., Eintrag vom 24.03.1929) haben soll, leicht modifiziert (in Bezug auf das Politische) schlicht übernommen hatte, kann hier nicht entschieden werden.Footnote 47 Immerhin erklärte Roh schon 1919, dass das „Weltbild des modernen Künstlers“, genommen als „ein bewusstes begrifflich geschichtliches philosophisches System“ (Roh, 1919) meist „miserabel“ sei, und doch könne der Künstler mit seinem Werk ein „Lebensgefühl“, „eine Grundhaltung“ bzw. eine „Wertorientierung“ treffend zum Ausdruck bringen.Footnote 48 Als Roh diese Auffassung über zehn Jahre später wiederholte, fügte er als Beispiel an: „Moholy hat in seinem Buch die Raumarten ganz willkürlich aufgezählt, und doch empfinde ich seine Arbeiten gar nicht als willkürlich“ (Roh, 1932, 2).Footnote 49 Genauso hatte es wohl auch Carnap gesehen, der, als er nach seinem Dessauaufenthalt noch einige Tage in Berlin weilte, am 24.10.1929 in seinem Tagebuch festhielt: „Mittags zu Moholys. Moholy seit einigen Jahren zum ersten Mal wieder gesehen. Er zeigt Korrekturbogen seines neuen Bauhausbuches; darin sind Raum und Logischer Aufbau genannt. Große Tabelle aller Raumarten (einfache Aufzählung), etwas spielerisch“ (Carnap, o. J.).Footnote 50

Wie hatten nun die Bauhäusler Carnaps Vorträge aufgenommen? Unmittelbare Reaktionen sind nicht bekannt. Vermutlich auf Carnap bezogen erinnerte sich der ehemalige Bauhausstudent Werner Taesler rückblickend, dass „man einen Vertreter der Wiener Philosophenschule der Positivisten gewonnen [hatte], die Probleme des Bauhauses unter der Lupe erkenntnistheoretischer Wissenschaft zu prüfen“ und nun belehrt wurde, dass „nur sinnlich gewonnene Erfahrungen“ „objektive Sachurteile“ ermöglichten, dagegen „nicht empirisch gewonnene Erfahrungen als metaphysische Werturteile“ abzulehnen seien, was in der anschließenden „lebhaften Diskussion“ die Frage aufwarf, wie „man denn in diesem Rahmen soziale, politische oder ästhetische Sachverhalte unterbringen“ (Taesler, 2019, 39) könne – Taesler verließ kurz darauf das Bauhaus. Eine ganze Reihe Studierender musste von Carnap enttäuscht gewesen sein. Hatten doch Einige ihm gegenüber kritisiert, dass „nicht nur die Abhandlungen, sondern auch die Sachen (z. B. Lampen) des Bauhauses […] noch Metaphysik“ (Carnap, o. J., Eintrag vom 15.10.1929) enthielten, um nun zu erfahren, dass der vom Logischen Empirismus geführte Kampf gegen die Metaphysik nicht gleichzusetzen sei mit dem Kampf gegen die Ästhetik beziehungsweise das Ornament,Footnote 51 im Gegenteil Gestaltung als angemessenes Betätigungsfeld für Metaphysiker zu gelten habe. In diesem Punkt stand Carnap eher auf der Seite der Künstlerfraktion des Bauhauses,Footnote 52 was diese aber anscheinend nicht sah. So war es sicher als Kritik gemeint, als Lyonel Feiningers Frau Julia Carnap fragte, „ob nicht irgendwo das Denken doch zu Ende ist; z. B. beim Anhören von Musik“ (Carnap, o. J., Eintrag vom 16.10.1929).Footnote 53

Die Kommunistische Studentenfraktion dürfte Carnaps Ausführungen ganz ähnlich aufgenommen haben wie diejenigen Neuraths, zu denen sie bemerkte: „dieser mann will den marxismus unschädlich machen, indem er ihn zergliedert auf wissenschaft und politik […]. der marxismus lehnt es ab, dass sich die wissenschaft verhält wie ein arzt, der zwar bei seinen patienten die tuberkulose feststellt, ihn aber im übrigen seinem schicksal überlässt.“ (N.N., 1930).Footnote 54 Neurath stieß bei den Studierenden freilich nicht nur auf Ablehnung. So heißt es im Protokoll einer Beiratssitzung des Bauhauses am 2. Dezember 1931: „herr mies van der rohe teilt mit, dass die studierenden-vertretung angeregt hat, […] neurath, wien für einen vortrag zu verpflichten“ (Sachsenberg, 1931). Und Carnap wurde immerhin von zwei seiner studentischen Zuhörer – Edmund Collein und Lotte Gerson – in Wien aufgesucht, als diese in der österreichischen Hauptstadt Beschäftigungsmöglichkeiten ausloteten.Footnote 55

Dass Meyer mit Carnaps Kritik umgehen konnte,Footnote 56 wird schon daran ersichtlich, dass er auch weiterhin Mitglieder des Wiener Kreises, namentlich Neurath und Philipp Frank, nach Dessau einlud,Footnote 57 freilich ebenso Felix Krueger, den Spiritus Rector der politisch konservativen Ganzheitstheoretiker der Leipziger Schule,Footnote 58 denn bei dem „Ausbau des Systems der Gastlehrer […] wurde, wie stets am Bauhaus, Pluralität im Weltanschaulichen bedacht“ (Hoffmann, 1983, 40). Auch Walter Dubislav erhielt eine Einladung, vermutlich kurzfristig überbracht von Carnap bei seinem an Dessau anschließenden Berlinaufenthalt.Footnote 59 Das Mitglied der Berliner Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie sollte allerdings nicht über wissenschaftliche Weltauffassung sprechen, sondern mit den Grundthesen des Neukantianismus vertraut machen, vermutlich vor dem Hintergrund, dass ausgerechnet der kommunistische Kritiker Otto Gelsted sich auf die Marburger Schule berief, als er Meyers Position in der dänischen Zeitschrift Kritisk Revy angriff.Footnote 60

Äußerungen Carnaps zu seinem Bauhausaufenthalt sind kaum überliefert. Noch von Dessau aus schrieb er am 19.10.1929 an Auguste Dorothea Gramm: „Das Bauhaus ist schon eine interessante Angelegenheit“ (RC 024-32-12) und in seinem Tagebuch wird eine gesellige und gesprächsfreudige Atmosphäre gezeichnet. Die dort genannten Personen zählten zu den Anhängern Meyers, viele davon finden sich auf einem Foto wieder, das im folgenden Monat mit Walter Dubislav im Atelier von Alfred Arndt entstand.Footnote 61 Mit den Malerfürsten Klee und Kandinsky kam Carnap – im Gegensatz zu FeiglFootnote 62 – nicht in engere Berührung. Klee war er allem Anschein nach überhaupt nicht begegnet; der Besuch einer gerade gezeigten Ausstellung mit Aquarellen des Künstlers hinterließ bei Carnap einen „seltsamen Eindruck“ (Carnap, o. J., Eintrag vom 18.10.1929).Footnote 63 Als sich am folgenden Abend Klees Frau Lily zu seinem Vortrag einfand, kommentierte er: „versteht sicher nichts davon“ (Carnap, o. J.). Mit Kandinsky gab es ein – zufälliges – Zusammentreffen, über das Carnap festhielt: „Er meint, die Orientalen, Ägypter, Griechen hätten eine Metaphysik und eine Technik (z. B. der Wasserleitung usw.) gehabt, gegen die wir Kinder wären!“ (Carnap, o. J., Eintrag vom 20.10.1929).

Selbst mit Meyer gab es nur wenig Austausch, da dieser erst gegen Ende von Carnaps Vorlesungsreihe in Dessau eintraf (und auch keinen der Vorträge mehr hörte). Am Tag vor seiner Abreise – einem Sonntag – notierte Carnap: „Hannes Meyer immer noch nicht gesehen; er hat dauernd Besprechungen“ (Carnap, o. J., Eintrag vom 20.10.1929). Erst anderntags finden sich die Einträge: „1/2 8 aufgestanden. Mit Hannes Meyer in die Kantine zum Kaffee“ sowie „Mittags 1–3 mit Hannes Meyer zusammen“ (Carnap, o. J., Eintrag vom 21.10.1929). Dazwischen fand Carnap noch Zeit, die Bauhausweberei aufzusuchen, um sich für seine Wohnung „Muster für Sessel“ anzusehen. Am 01.11.1929 berichtet er darüber an Auguste Dorothea Gramm: „Im Bauhaus habe ich mir Möbelstoffe angesehen. Breitstreifige haben sie nicht (aus Gesinnung!). Sondern nur in schmalen Streifen (3–6 mm)“ (RC 024-32-14).

Dass Carnap nicht nur ethische, sondern auch ästhetische Werte mit den Bauhäuslern teilte, geht aus verschiedenen Tagebuchstellen hervor. Schon bei seinem ersten Dessaubesuch im Sommer 1926 zeigte er sich beeindruckt von dem „sehr schönen Haus“ (Carnap, o. J., Eintrag vom 02.09.1926) der Moholys.Footnote 64 Als er im darauffolgenden Jahr mit seiner Frau Elisabeth die Werkbundausstellung der Stuttgarter Weißenhofsiedlung besichtigte, notierte er: „Das große Haus von Mies van der Rohe mit vielen Einzelwohnungen gefällt uns gut“ (Carnap, o. J., Eintrag vom 15.10.1927). Elisabeth und Broder Christiansen berichten später gar, „daß er [Carnap] erschüttert war, als er die rationalistische Wohnungskunst des Dessauer,Bauhausʻ miterlebte“ (Christiansen & Carnap, 1947, 135). Und noch in Chicago Mitte der 1930er-Jahre richtete sich Carnap, mit beratender Unterstützung von Moholy-Nagy, mit „Stahlmöbeln“ (RC 025-82-03 [Carnap, Tagebuch vom 09.10.1937]) ein.

Carnaps im Vorfeld seiner Dessauer Vorträge geäußerter Zweifel, ob er den Bauhäuslern etwas Gewinnbringendes bieten könne, scheint berechtigt vor dem Hintergrund, dass er den Kampf gegen die Metaphysik auf den Bereich der Sprache beschränkt sah, Metaphysikkritik seiner Auffassung nach also nicht auf Gestaltung selbst, sondern nur auf das Reden über Gestaltung abzielen könne. Seine dazu angeführten Beispiele wirken in der Tat etwas gesucht. Dass er mit seinen diesbezüglichen Bemühungen bei den Bauhäuslern letztendlich ohnehin keinen Erfolg hatte, kann man seinem Tagebuch entnehmen, in dem er noch Jahre später die Konfusität Moholy-Nagys konstatierte.Footnote 65

Vielleicht hätten die Bauhäulser stärker profitieren können von Carnaps vorgetragenem Nonkognitivismus. Besagte dieser doch, dass die am Bauhaus gerade so brennend diskutierte Frage: „Nur utilitaristisches Bauen für die sozialen & ökonomischen Forderungen des Tages oder auch Berücksichtigung der ästhetischen Forderungen?“Footnote 66 nicht rational zu beantworten sei, es sei denn, die genannten Alternativen würden als Mittel für einen feststehenden Zweck angesehen. Damit aber war die eigentliche Frage des Bauhauses unausgesprochen offengelegt, nämlich „wie wollen wir leben?“.Footnote 67