1.1 Jugendbewegung und Lebensreform als Kontexte des Logischen Empirismus

Der Logische Empirismus entstand in den 1920er-Jahren. Entscheidend für die intellektuelle Formierung dieser philosophischen Strömung waren die von Rudolf Carnap und Hans Reichenbach organisierte Erlanger Tagung von 1923 sowie die Diskussionen im Wiener Kreis, der sich 1924 gründete. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Lebensreform und deutsche Jugendbewegung den Höhepunkt ihrer Entwicklung – der in den Jahren vor, während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zu verorten ist – bereits hinter sich. Bekannt ist auch, dass sowohl Carnap als auch Reichenbach in frühen Jahren durch lebensreformerische und jugendbewegte Strömungen geprägt wurden. Bei der Frage nach möglichen Verbindungen der Lebensreform und (deutschen bzw. österreichischen) Jugendbewegung mit dem Logischen Empirismus geht es also zunächst darum, die intellektuellen Biografien dieser beiden 1891 geborenen Philosophen genauer in den Blick zu nehmen. Inwiefern gingen die frühen intellektuellen Aktivitäten von Carnap und Reichenbach – ihre Vorträge, Aufsätze und Publikationen sowie ihr Engagement in diversen studentischen Reforminitiativen – aus der Lebensreform und Jugendbewegung hervor? Inwiefern wirkten deren intellektuelle Interventionen auf Jugendbewegung und Lebensreform zurück? Hat sich das spätere Werk von Carnap und/oder Reichenbach von den Grundgedanken der Jugendbewegung im Laufe der Jahre entfernt und wo gibt es nachweisbare Kontinuitäten?

Während die frühen intellektuellen Biografien von Carnap und Reichenbach im Zentrum dieses Buches stehen, lassen sich Verbindungslinien zu einer Reihe weiterer Persönlichkeiten herstellen. Zunächst zu Otto Neurath, wie Carnap ein Mitglied des Wiener Kreises und Schlüsselfigur des frühen Logischen Empirismus. Obwohl Neurath selbst nicht der Jugendbewegung angehört hat, sind Begegnungen mit Repräsentanten der Lebensreform und Jugendbewegung in seiner intellektuellen Biografie nachweisbar. In der Berliner Gruppe um Hans Reichenbach gab es mit Kurt Grelling und Kurt Lewin zwei weitere Mitglieder, die aus der Jugendbewegung im weiteren Sinn, nämlich, wie Reichenbach selbst, aus der Freistudenten-Bewegung kamen (Wipf, 2005). Zudem finden sich in der Jugendbewegung Persönlichkeiten, die zwar nicht dem Logischen Empirismus zuzurechnen sind, die aber dadurch, dass sie in intensivem Austausch mit späteren Logischen Empiristen standen, indirekt auf diesen gewirkt haben. Zu nennen sind hier der Jurist, Hochschullehrer, Politiker und marxistische Theoretiker Karl Korsch, der vor allem zu Reichenbach, aber auch zu Carnap Kontakt hatte. Für den jungen Carnap waren der nachmalige Pädagoge Wilhelm Flitner, der Kunsthistoriker Franz Roh, der Soziologe Hans Freyer sowie der Philosoph Herman Nohl wichtige Bezugspersonen. Während der Dilthey-Schüler Nohl vor allem als akademischer Lehrer an der Universität Jena prägend wirkte, war Carnap mit Flitner, Roh und Freyer freundschaftlich verbunden, nicht zuletzt durch die Aktivitäten im freistudentischen Serakreis um den Verleger Eugen Diederichs. Die Lebenswege dieser jungen Intellektuellen blieben zumindest bis zum Ende der 1920er-Jahre mit dem von Carnap verschränkt, auch wenn sie eher der Dilthey-Schule und verwandten Strömungen zuzurechnen sind. Für Reichenbach und Grelling wiederum spielte der intellektuelle Austausch mit Philosophen, die wie Leonard Nelson und Walter Benjamin nicht dem Logischen Empirismus zuzurechnen sind, eine wichtige Rolle. Schließlich waren für alle Genannten bestimmte Schlüsselfiguren der Lebensreform und Jugendbewegung auf unterschiedliche Weise bedeutsam. Das gilt vor allem für Eugen Diederichs, dessen Jenaer Verlag für junge Intellektuelle einen neuromantischen „Versammlungsort moderner Geister“ (Hübinger, 1996) in Philosophie, Religion, Literatur, Pädagogik und (Buch-)Kunst sowie diverser praktischer Reformbewegungen bot (Heidler, 1998; Ulbricht & Werner, 1999; Werner, 2003); Gustav Wyneken, der mit der Gründung der Freien Schulgemeinde Wickersdorf den zeitgenössischen Debatten über Schulreform und Jugend entscheidende praktische und theoretische Impulse gab (Dudek, 2009); sowie den protestantischen Theologen Johannes Müller, der auf Schloss Mainberg (ab 1916 Schloss Elmau) eine freireligiös orientierte Pflegestätte persönlichen Lebens für ein kirchenfernes bildungsbürgerliches Publikum betrieb (Haury, 2005).

Wechselt man von einzelnen Protagonisten und deren Biografien auf die Ebene von Institutionen und Gruppenbildungen, dann sind folgende Kontexte relevant: Für den jungen Carnap und die bereits genannten Flitner, Roh und Freyer prägend wurde der von Diederichs in Jena gegründete freistudentische Serakreis, ein außeruniversitärer Freundschaftsbund (Werner, 2003, 231–307). Während Hans Reichenbach sich der hochschulpolitisch fortschrittlichen Freistudentenschaft anschloss und erheblichen Einfluss auf deren Programmatik ausübte, wurde Carnap zum Mitbegründer von Akademischen Freischaren, zunächst in Freiburg und dann in Jena. 1907 aus dem Wandervogel hervorgegangen war die Deutsche Akademische Freischar eine studentische Reformverbindung mit besonders aktiven Gruppen an den Universitäten Göttingen, München und Berlin. Neben diesen im engeren Sinn der Jugendbewegung zuzurechnenden Institutionen ist außerdem die Esperanto-Bewegung zu nennen, in der sich Carnap bereits als Schüler engagierte und die einen bleibenden Einfluss auf seine Vorstellungen von internationaler Sprachplanung ausübte. Der Jugendbewegung verwandt war die zeitgleich entstandene Lebensreform-Bewegung. Wie die Jugendbewegung war auch diese eine vornehmlich bildungsbürgerliche Bewegung, die bis in die Universitäten hineinwirkte, unter anderem durch die Forderung verschiedener Reformverbindungen, im studentischen Alltag auf Alkohol und Nikotin zu verzichten und vegetarisch zu leben. Andere lebensreformerische Anliegen waren eine naturnahe Lebensweise durch Wandern, Turnen und Rudern; die Bevorzugung korsettfreier Reformkleidung; die Wiederentdeckung von Volkstänzen, Volksliedern und Singspielen; das Ideal eines kameradschaftlichen Umgangs zwischen den Geschlechtern und die Diskussion einer neuen Erotik. Gemeinsam war Lebensreform und Jugendbewegung der Wunsch nach der Hervorbringung eines „neuen Menschen“, der inspiriert durch die zeitgenössische Nietzsche-Rezeption als deutsch, willensstark und formschöpfend vorgestellt wurde (Wedemeyer-Kolwe, 2017; Buchholz et al., 2001). Die als sinnentleerte Rituale empfundenen studentischen Gesellungsformen wurden als diesen sozialreformerischen Vorstellungen diametral entgegengesetzt betrachtet. Dies führte in lebensreformerisch-jugendbewegten Zusammenschlüssen zur Ablehnung des in traditionellen Korporationen praktizierten Bier-Komments, der Mensur, des Duells und überhaupt männerbündlerischer Vereinskultur. Die u. a. von Hans Reichenbach propagierte Forderung einer grundlegenden Hochschulreform ist in diesem Kontext zu verorten.

1.2 Das weltanschauliche Spektrum der Jugendbewegung

Wie die Arbeiter- und Frauenbewegung waren die Lebensreform und Jugendbewegung soziale Emanzipationsbestrebungen. Propagierten die verschiedenen Ausformungen der Lebensreform einen freieren, naturnahen, gesünderen Umgang mit dem menschlichen Körper, forderte man in der Jugendbewegung das Eigenrecht der Jugend. Damit waren Lebensreform und Jugendbewegung zugleich Produkt und Katalysator fundamentaler historischer Umwälzungen, wie sie infolge von rapider Industrialisierung und Urbanisierung sowie bahnbrechenden Fortschritten in Technik, Medizin und Wissenschaft möglich wurden. In den aufgeklärten Fortschrittsglauben mischten sich seit der Jahrhundertwende vermehrt Fortschrittsängste, die u. a. in der kraftsuchenden Rückwendung ins archaische Griechenland, in mittelalterliche Mystik und die deutsche Romantik Ausdruck fanden. Man las Platon in der neuen Übersetzung von Rudolf Kassner, Meister Eckhart und Eichendorff, man entdeckte Novalis und Hölderlin neu, und man interessierte sich für die volkstümlichen Zeugnisse der eigenen und fremder Kulturen. Das bescheinigen die Neuauflagen von Grimms Kinder- und Hausmärchen, die bis heute erfolgreiche Diederichs Serie Märchen der Weltliteratur oder auch die Hinwendung zu deutschem Brauchtum in Kleidung, Lied und Tanz. „Mit uns zieht die neue Zeit“ – in dieser oft beschworenen Liedzeile eines Gedichtes von Hermann Claudius kristallisierte sich der Anspruch der jungen Generation, gleichzeitig Hoffnungsträger und Akteur einer umfassenden Kulturreform zu sein (Koebner et al., 1985). Kulturphilosophisch verteidigte man mit Nachdruck, wenn auch unter divergierenden weltanschaulichen Vorzeichen, die Idee des freien Entwurfs neuer Werte und damit der (in jeder Generation zu erfolgenden) radikalen Neugründung der Gesellschaft durch die Jugend.

Politisch finden sich fortschrittliche Positionen, wie die Befürwortung der Gleichberechtigung von Frauen, die Zurückweisung von Antisemitismus und die Hinwendung zu einem aufgeschlossenen Internationalismus, die nach 1918 vielfach nahtlos in die Bauhausmoderne und unterschiedliche Spielarten linker Ideologie übergingen. Diese Positionen standen jedoch innerhalb der Jugend- und Lebensreformbewegung in durchaus konfliktreicher Spannung mit einem dort ebenso zu findenden sich verhärtenden Nationalismus, Antisemitismus und völkischem Denken, die in der Weimarer Republik in rechten Ideologien, einschließlich des Nationalsozialismus, aufgingen. Dieses aus heutiger Sicht irritierend widersprüchliche Nebeneinander fortschrittlicher und fortschrittskritischer Positionen war möglich, weil die Jugendbewegung sich zunächst als Plattform zur freien Entfaltung aller denkbaren Wert- und Lebensentwürfe verstand und sich dementsprechend nicht auf eine gemeinsame Ideologie verpflichtete, sondern nur darauf, die neuen Lebensentwürfe bedingungslos in all ihren wechselseitigen Spannungen zu akzeptieren. „Das ethische Ideal ist der Mensch“, so Hans Reichenbach 1913 in einem im Anhang dieses Bandes auszugsweise abgedruckten programmatischen Aufsatz zur „Idee“ der Freistudentenschaft, „der in freier Selbstbestimmung sich seine Werte schafft und als Glied der sozialen Gemeinschaft diese Autonomie für alle und von allen Gliedern fordert“. Diese bedingungslose Verpflichtung auf Selbstbestimmung (die über jede Tendenz zu Vermittlung und Kompromiss gestellt wurde) stand auch im Zentrum des Ersten Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913 (Mogge & Reulecke, 1988; Stambolis & Reulecke, 2015). Die jugendbewegten Akteure versuchten bei diesem Treffen die Einheit in der Vielfalt zu finden, in einer von Ideologien und politischen Inanspruchnahmen freien Entfaltung, die einzig durch die gemeinsame Verpflichtung auf den Verzicht von Alkohol- und Tabakkonsum restringiert war. Dies diente der Abgrenzung von dem traditionellen studentischen Verbindungswesen, aber auch dem Ideal einer nicht durch vernebelnde Substanzen getrübten freien Selbstentfaltung. Debatten waren in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung, aber nicht mit dem Ziel einer Kompromiss- oder gar Konsensfindung. Es ging vielmehr um die Freilegung innerer, individueller Werte, ohne den Anspruch, andere von diesen Wertvorstellungen überzeugen zu wollen.

Ein solcher bis zum Anarchismus getriebener Pluralismus war nicht auf Dauer aufrechtzuhalten. Er endete historisch erzwungen bereits ein Jahr nach dem Treffen auf dem Hohen Meißner mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Angesichts der befohlenen Mobilisierung im August 1914 mussten sich die Mitglieder der Jugendbewegung entscheiden. Die Mehrheit der Wandervögel, Freideutschen, Freischärler und Freistudenten folgte dem nationalen Schulterschluss der „Ideen von 1914“ und meldete sich freiwillig zum Krieg. Nur eine verschwindend kleine Minderheit stellte sich gegen den Krieg (Laqueur, 1978; Fiedler, 1989). Bemerkenswert im Vergleich der Biografien der späteren Freunde und Kollegen ist, dass Reichenbach von Beginn an als konsequenter Kriegsgegner auftrat, während Carnap zunächst mit Zustimmung in den Krieg zog und erst gegen Ende der großen Katastrophe den Weg zu pazifistischen Positionen fand. Die im Krieg spätestens mit der Aufkündigung des Burgfriedens von 1914 manifest gewordene Unmöglichkeit, alle politisch-weltanschaulichen Strömungen und kulturellen Entwürfe unter dem gemeinsamen Dach der Freideutschen Jugend zu vereinigen, führte ab 1916 zu einer Polarisierung in national-völkische, bürgerlich-linksliberale und sozialistisch-kommunistische Gruppierungen. Die verschiedentlichen Versuche nach Kriegsende, an die Meißnererfahrung anzuknüpfen und eine Einigung der Freideutschen jenseits der sich radikalisierenden politischen Positionen zu finden, scheiterten. Dennoch blieben Reichenbach und Carnap, wie auch Grelling, Lewin, Flitner, Freyer, Korsch und Roh in Habitus, Lebensgestaltung und der Wahl ihrer Betätigungsfelder den Ideen der freideutschen Bewegung Zeit ihres Lebens verbunden.

1.3 Die Dramaturgie dieses Bandes

Ausgehend von einer internationalen und interdisziplinären Tagung, die die Herausgeber im Juni 2016 am Institut Wiener Kreis der Universität Wien organisiert haben, widmet sich der vorliegende Band erstmals auf breiter Basis dem skizzierten Zusammenhang von Logischem Empirismus, Lebensreform und Jugendbewegung. Alle hier abgedruckten Beiträge beruhen auf den Vorträgen für diese Tagung. Der Band gliedert sich in vier Teile, die unter den Überschriften Vordenker und Kontexte, Jugend und Reform, Parallelen und Schnittmengen sowie Dokumente und Bilder die Lebensreform und Jugendbewegung in Beziehung zum Logischen Empirismus vorstellen.

1.3.1 Vordenker und Kontexte

Günther Sandner bietet in seinem Beitrag einen Überblick zur Jugendbewegung und ihrer Rezeptionsgeschichte. Daran anschließend analysiert er anhand von kurzen Fallstudien die spezifischen Zusammenhänge zwischen den Ideen späterer Vertreter des Logischen Empirismus und verschiedenen Aspekten der Jugendbewegung, wobei vor allem Politik, Gesellschafts- und Lebensreform als aus der Jugendbewegung stammende formative Faktoren für spätere Logische Empiristen betont werden. Zudem thematisiert der Autor Unterschiede zwischen der Jugendbewegung in Deutschland und in Österreich. Insgesamt wird in Sandners Beitrag die inhaltliche Agenda dieses Bandes präsentiert, gleichzeitig aber auch ein Überblick zum Stand der Forschung zur Jugendbewegung geboten.

Ingrid Belke gedenkt mit ihrem Beitrag zu Friedrich Jodl eines Vorausgängers des Logischen Empirismus, der durch seine zentrale Stellung in der Wiener Philosophie, sein nahes Verhältnis zum Positivismus, aber auch aufgrund seiner Affinitäten zu Reform- und Jugendbewegungen auf verschiedenen Ebenen für diesen Band relevant ist. Jodl, auch daran sei erinnert, war mit einem Grußwort auf dem Ersten Freideutschen Jugendtag 1913 auf dem Hohen Meißner vertreten. Wir drucken hier die letzte verfügbare Fassung von Belkes Aufsatz, den Meike Werner um die Nachweise der zitierten Primärtexte und Forschungsliteratur ergänzt hat.

Einen weiteren formativen Kontext stellt Ulrich Lins mit seiner archivgestützten Studie zu Carnaps Engagement in der Esperanto-Bewegung vor. Bei dieser handelte es sich um einen zeitgleich mit Lebensreform und Jugendbewegung in Westeuropa Fuß fassenden Versuch, über eine Plansprache die nationalen Grenzen in der internationalen Verständigung sprachlich zu überschreiten. Carnaps Interesse an Esperanto hielt, wie Lins aufzeigt, von den Anfängen im Jahr 1908 bis zu seinem Lebensende an und bildet somit einen durchgängig bedeutsamen Faktor seiner intellektuellen Biografie.

1.3.2 Jugend und Reform: Religion, Ethik, Politik und Wissenschaft

Im Zentrum dieses Bandes stehen eine Reihe von Studien, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der intellektuellen Biografien von Carnap und Reichenbach vor deren Hinwendung zum Logischen Empirismus Anfang der 20er-Jahre befassen. Diskutiert werden Politik und Krieg, Religion, Ethik und Wissenschaft, wobei es immer um deren zeitbezogene Umformung aus jugendbewegt-lebensreformerischer Perspektive geht. Reichenbach allein ist nur der Beitrag von Flavia Padovani gewidmet, die seine Tätigkeit in der Freistudentenschaft philosophiehistorisch untersucht und sein spannungsgeladenes Verhältnis zu Gustav Wyneken beleuchtet vor dem Hintergrund von deren ab Spätherbst 1914 konträrer Haltung zum Krieg.

In der neueren Forschungsliteratur zum Ersten Weltkrieg ist eine Abkehr von normativen Geschichtserzählungen zu konstatieren, die den „deutschen Sonderweg“ betont haben. Ziel dieser Erzählungen war, die „Ideen von 1914“ als spezifisch deutsches Merkmal und Wendepunkt der deutschen Geschichte zu identifizieren, an dem sich ein kultureller Niedergang seit dem 18. Jahrhundert, aber auch die Keimzelle des Nationalsozialismus festmachen lässt.Footnote 1 Demgegenüber gelangt die neuere Forschung zu einer differenzierteren Sicht, die sich etwa wie folgt charakterisieren lässt: Die „Ideen von 1914“ werden nicht als singulär deutsch gesehen, sondern als Parteinahmen in einem „Krieg der Philosophen“, der etwa auch in Frankreich oder Großbritannien zu vergleichbaren Phänomenen nationaler Schulterschlüsse und idealistischer Emphase geführt hat (Hoeres, 2004). Diese Parteinahmen traten zunächst vornehmlich in eher gemäßigtem Ton auf, so zum Beispiel in den Appellen des Nobelpreisträgers Rudolf Eucken (Sieg, 2013, 59–150). Erst mit der Fortdauer des Krieges bildeten sich in Deutschland nationalistische Mythen von neuer Qualität heraus, die sich durch einen rassischen Antisemitismus auszeichneten, so etwa prominent bei dem Neukantianer Bruno Bauch. Diese neuen Konzepte, jenseits des „Burgfriedens“ der Ideen von 1914, mündeten direkt in die konservative Revolution und den Nationalsozialismus, waren allerdings von Beginn an nicht konsensfähig (Sieg, 2013, 59–150). Die durch entsprechende Mikrostudien gewonnene neue Komplexität des Bildes der deutschen Philosophie im Ersten Weltkrieg muss, wie ein Gutachter dieses Bandes angemerkt hat, den Hintergrund für die hier diskutierten Fallstudien von späteren Logischen Empiristen wie Carnap, Reichenbach und Moritz Schlick bilden, bieten sich diese doch ausgezeichnet an, die in der neueren Forschung hervorgehobene Komplexität des Geschichtsbildes weiter zu differenzieren.

So gab es – auch hier eine Parallele zur Situation in Großbritannien mit prominenten Kriegsgegnern wie Bertrand Russell – in Deutschland durchaus kritische Intellektuelle, die bereits zu Kriegsbeginn eine pazifistische Haltung eingenommen haben. Im vorliegenden Band wird dies am Beispiel von Hans Reichenbach illustriert (siehe die Beiträge von Günther Sandner, Flavia Padovani und Gereon Wolters). Darüber hinaus findet man unter den späteren Logischen Empiristen auch eine Reihe von frühen Unterstützern des nationalen Konsenses der Ideen von 1914, die jedoch die spätere Radikalisierung nicht mitvollzogen haben. Entweder sind sie, wie Moritz Schlick, zu einem sich apolitisch verstehenden Liberalismus mit pazifistischer Tendenz zurückgekehrt oder gelangten, wie Carnap, nach 1914 zu einer am Ende stark politischen, dabei sozialistischen und pazifistischen Weltauffassung. Diese Zusammenhänge legt Meike Werner in ihrem Beitrag dar. Zugleich liefert sie eine umfassende Mikrostudie zu den für Carnaps intellektuelle Entwicklung überaus wichtigen „Politischen Rundbriefen“, die er im letzten Jahr des Krieges initiiert und im Dialog mit den Freunden an der Front moderiert hat. Dies geschieht im Kontext von Carnaps Prägungen durch den freistudentischen Serakreis und die akademischen Freischaren sowie seine Kriegserfahrungen an der Front zunächst in den Karpaten und dann im Westen.

Gereon Wolters thematisiert in seinem Beitrag eben diese Erfahrungen des Ersten Weltkrieges für Carnap, aber auch andere Vertreter der zeitgenössischen Philosophie. Eine Sonderstellung nimmt Otto Neurath ein, dessen Haltung von Beginn an pazifistisch und sozialdemokratisch gewesen ist, aber darüber hinaus durch den komplexen Ansatz einer „Kriegswirtschaftslehre“ differenziert wurde (Sandner, 2014, 60–121). In seiner eng an den Quellen orientierten Fallstudie liefert der Beitrag von Gereon Wolters eine Reihe von wichtigen Belegen für diese das Spektrum der philosophischen Rezeption des Ersten Weltkrieges bereichernden Sichtweisen späterer Logischer Empiristen.

Anhand von zwei weitgehend unbekannten (und im Anhang dieses Bandes erstmals edierten) Texten von Carnap zur Religion aus den Jahren 1911 und 1916 diskutiert André Carus dessen frühe intellektuelle Entwicklung im Hinblick auf die Religions- und Wertfrage. Dabei erweisen sich Carnaps Interaktionen mit dem Zirkel um den freireligiösen Lebensreformer Johannes Müller (Elmau) als bedeutsam. Wie Carus befasst sich auch Christian Damböck in seinem Beitrag mit der Frühgeschichte von Carnaps Wertphilosophie, indem er die philosophischen Positionen von Carnap und Reichenbach vergleicht, deren Wurzeln bis in die Jugendbewegung zurückreichen. Als biografische Schlüsselfigur wird dabei Hans Freyer identifiziert, der spätere konservative Revolutionär und zeitweilige Freund Carnaps, dessen Wertphilosophie die nonkognitiven Grundannahmen von Carnap und Reichenbach ebenfalls beinhaltet, politisch jedoch in eine entgegengesetzte Richtung weist. Die Auswirkungen der Freundschaft Carnaps mit Hans Freyer auf Carnaps erste große Studie Der logische Aufbau der Welt werden von Adam Tamas Tuboly in seinem Beitrag anhand des Beispiels der „Konstitution geistiger Gegenstände“ diskutiert.

1.3.3 Parallelen und Schnittmengen

Die Beiträge von Gangolf Hübinger, Peter Bernhard und Michael Buckmiller zeigen parallele Entwicklungen in Philosophie und Kunst auf, aus denen sich Schnittmengen mit dem zentralen Motiv dieses Bandes ergeben. Im Mittelpunkt von Gangolf Hübingers Beitrag stehen die vielfältigen Interaktionen zwischen Otto Neurath und dem Zirkel um die Soziologen Emil Lederer und Max Weber, die für die Entwicklung der Soziologie des Logischen Empirismus, aber auch des übergeordneten Narrativs der Wissenschaftlichen Weltauffassung bedeutsam waren. Peter Bernhard untersucht eine für Carnaps Philosophie wichtige Episode, die zeitlich gesehen in der post-jugendbewegten Phase liegt, nämlich die Vorträge, die er im Herbst 1929 am Dessauer Bauhaus hielt. Der lebensreformerische Impetus des Bauhauses wird dabei in seiner Bedeutung für die Philosophie sowohl von Carnap als auch von Neurath in den späten 1920er-Jahren sichtbar. Michael Buckmiller diskutiert in seinem Beitrag das ambivalente Verhältnis von Karl Korsch, der wie Reichenbach vor dem Ersten Weltkrieg ein engagierter Freistudent war, zum Logischen Empirismus. Dieses Verhältnis war einerseits von wichtigen politischen Übereinstimmungen und einer gewissen Nähe auf der Ebene der theoretischen Philosophie gekennzeichnet, aber auch von sehr grundlegenden Unterschieden in methodologischen Fragen.

1.3.4 Dokumente und Bilder

Versehen mit kontextualisierenden Einleitungen werden einige schwer zugängliche, für das Thema jedoch einschlägige Texte und bislang nicht publizierte Archivalien abgedruckt. Für Carnap wurden von André Carus zwei frühe in Kurzschrift bzw. Sütterlin geschriebene Texte zu Religions- und Wertfragen transkribiert und eingeleitet, nämlich der Vortrag „Religion und Kirche“ von 1911 und der „Brief an Le Seur“ von 1916. Für Reichenbach wurde der von Flavia Padovani bearbeitete Briefwechsel zwischen Reichenbach und Wyneken zur Kriegsfrage sowie ein von Christian Damböck und Meike Werner eingeführter Auszug aus Reichenbachs Aufsatz „Die freistudentische Idee. Ihr Inhalt als Einheit“ von 1913 aufgenommen. Außerdem wurde das bereits vor einigen Jahren von Thomas Mormann transkribierte und online gestellte Typoskript „Deutschlands Niederlage: Sinnloses Schicksal oder Schuld“, das Carnap im Herbst 1918 unter dem Pseudonym Kernberger verfasst, aber nicht publizierte hatte, von Christian Damböck durchgesehen und eingeleitet. Ein kurzer Abbildungsteil schließt diesen Dokumententeil ab.

1.4 Danksagungen und Widmung

Der Dank der Herausgeber gilt dem Institut Wiener Kreis (Universität Wien) für die engagierte Zusammenarbeit; Friedrich Stadler für die finanzielle Unterstützung, die diese Tagung ermöglicht hat; Sabine Koch für die Mithilfe bei der Organisation. Ein Teil der Tagung fand am Institut für Wissenschaft und Kunst (Wien) statt. Wir bedanken uns bei Barbara Litsauer für die Mithilfe bei der Organisation, die Bereitstellung der Institutsräumlichkeiten und die finanzielle Unterstützung vonseiten des IWK. Für die finanzielle Unterstützung der Tagung bedanken wir uns außerdem bei der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien. Die Tagung war überdies Teil des FWF-Projekts P27733 Der frühe Carnap im Kontext und wurde zu einem großen Teil aus dem Budget dieses Projekts finanziert. Die Drucklegung dieses Bandes im Open-Access-Format erfolgt auf der Grundlage eines vom FWF gewährten Druckkostenzuschusses (PUB 839).

Diese Tagung war der letzte öffentliche Auftritt unserer geschätzten Kollegin und Freundin Ingrid Belke, die wenige Monate nach der Übermittlung ihres Beitrages, nach kurzer schwerer Krankheit, verstorben ist. Friedrich Stadler danken wir für seinen Nachruf auf Ingrid Belke, die dem Institut Wiener Kreis und ihm über Jahrzehnte freundschaftlich und intellektuell verbunden gewesen ist. Ihr, die, wie ein Gutachter dieses Bandes treffend bemerkte, „die Wiener Geisteswelt vorzüglich kannte, sich um intellektuelle Moden nicht scherte und früh eigene Wege ging“, widmen wir dieses Buch.