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In einem Vortrag vom September 1935, genau am Ende der in diesem Band untersuchten Schaffensperiode Rudolf Carnaps, beschrieb dieser drei „Hauptphasen“ der „Entwicklung der wissenschaftlichen Philosophie“:

Zuerst handelt es sich um die Überwindung der Metaphysik, um den Übergang von der spekulativen Philosophie zur Erkenntnistheorie. Der zweite Schritt bestand in der Überwindung des synthetischen Apriori; er führte zu einer empiristischen Erkenntnistheorie. […] Die Aufgabe unserer gegenwärtigen Arbeit scheint mir nun in dem Übergang von der Erkenntnistheorie zur Wissenschaftslogik zu bestehen. (Carnap 1936a, S. 36)

Carnap bezog hier eine neue metaphilosophische Stellung. Er fügte hinzu:

Hierbei wird die Erkenntnistheorie nicht etwa, wie vorher Metaphysik und Apriorismus, gänzlich verworfen, sondern gereinigt und in ihre Bestandteile aufgelöst. (Carnap 1936a, S. 36)

Worin bestand diese „Reinigung“ bzw. „Auflösung“, die Carnap in Folge seiner Wende zur „logischen Toleranz“ vornahm – einer Wende, die die Philosophie des Anspruchs beraubte, uns nach Wegfall der Metaphysik zumindest unsere Begrifflichkeiten vorzuschreiben?Footnote 1 Ich begründe zuerst (§ 1) den Verdacht, dass nun auch das wegfällt, was zu einer naturalistischen Erkenntnistheorie gehört, frage (§ 2), was ihn zu dieser Position zu drängen schien, und zeige dann (§ 3), welche Arten von nicht-traditioneller Erkenntnistheorie Carnaps neue Metaphilosophie tatsächlich zulässt und von welchen Absichten er geleitet war.

„Von der Erkenntnistheorie zur Wissenschaftslogik“ (1936a) bildet mit „Wahrheit und Bewährung“ (1936b) und „Über die Einheitssprache der Wissenschaft“ (1936c) ein Trio von Vorträgen, die Carnap 1935 für den Pariser Kongress zur Einheit der Wissenschaft schrieb und im folgenden Jahr in dessen Akten veröffentlichte. Ihre Stellung in Carnaps Werk kann so bestimmt werden, dass sie genau an der Schwelle von seiner syntaktischen zu seiner semantischen Periode stehen. So summiert er hier gewisse Ergebnisse seiner bisherigen Arbeit, öffnet sich aber schon der erweiterten Perspektive, die die Semantik bietet. Doch diese drei Aufsätze signalisieren mehr als den Beginn einer neuen Schaffensperiode: Sie bezeugen, dass Carnap den Lernprozess abgeschlossen hat, den das Logische-Syntax-Projekt für ihn darstellte, und markieren den Beginn seiner klassischen Periode als eigenständiger Metaphilosoph.Footnote 2

Auf den ersten Blick mögen Carnaps Schritte gar nicht so bedeutend erscheinen. Die Punkte, die Carnap in diesen Arbeiten macht, scheinen beim ersten Hinschauen einfach nur technische zu sein. Bedenken wir die Öffnung zur Semantik in „Wahrheit und Bewährung“, die ihm Alfred Tarski ermöglichte und damit Kurt Gödels Lektionen komplettierte. Oder die allmähliche Ablösung der theoretischen Sprache und ihrer Begriffe von der Beobachtungssprache, angefangen mit dem in „Über die Einheitssprache der Wissenschaft“ entschärften Dispositionendebakel. Man könnte denken: Na gut, Carnap erlaubt Semantik als eigenes, nicht von der Syntax erfasstes Wissensgebiet und er erkennt, dass Dispositionsbegriffe extensional nicht voll definierbar sind. Beides mag banal – unwichtig und selbstverständlich – erscheinen, aber ein solches Urteil wäre völlig verfehlt.

Erstens war es Carnap selbst, dessen Ringen um die korrekte Analyse von Dispositionsbegriffen als ein Memento mori für analytisch-logische Sprachtheoretiker in die Philosophiegeschichte einging. Zweitens war Carnap in dieser Zeit als Gründer der formalen Sprachtheorie, ja der formalen Erkenntnistheorie überhaupt tätig. Das, was wir heutzutage als selbstverständlich voraussetzen, hat Carnap mitgeschaffen. Natürlich, der Entdeckerruhm gilt Gödel und Tarski. Carnap hat sich nicht durch die Entdeckung des Unvollständigkeitssatzes oder der formalen Wahrheitsdefinition ausgezeichnet, aber er mischte durchaus im ersten Rang der Logiker mit. Seine besondere Berufung war es, diese Neuerungen begrifflich durchzuarbeiten und in die allgemeine Wissenschafts- und Sprachphilosophie zu integrieren (was die Entdecker nicht taten). Aber selbst diese Beschreibung täuscht noch, indem sie nur darauf hinweist, dass Altbekanntes auch einmal neu war. Dabei ist das Interessante an Carnaps Arbeiten, dass wir bei genauerer Verfolgung seiner Gedankenbewegungen zu Erkenntnissen geraten können, die anderswo hinführen als zum Altbekannten, oder dass sie scheinbar Altbekanntes kritisch betrachten.

Nehmen wir als Beispiel, dass es nicht unterschätzt werden sollte, was es hieß, als Pionier der Kalkültheorie der Sprache Zeuge der Entwicklung der Modelltheorie zu sein.Footnote 3 Heutzutage ist Carnaps Semantik nicht mehr viel im Gespräch. Technisch gesehen führte Richard Montagues Grammatik (1974) das Programm der modelltheoretischen Semantik weit über Carnap hinaus. Aber das bedeutet nicht, dass nichts Grundsätzliches mehr von Carnap zu lernen ist. So sollte er nicht dem weitverbreiteten Trend zugeordnet werden, semantische Modelle in die Köpfe tatsächlicher Handlungssubjekte zu projizieren. Semantik und Psychologie können verschiedene Anforderungen stellen und somit verschieden geartete Theorien verlangen. Dem stimmte natürlich auch Montague zu, darin Schüler sowohl Tarskis als auch Carnaps, aber ob Kritiker der formalen Semantik immer solche Umsicht walten lassen, erscheint sehr zweifelhaft, stoßen sie sich doch typischerweise an der lebensfremden Strenge formaler Modelle.

Carnap verlangte von uns einen hohen Grad an Vorsicht, damit Modelle nicht missverstanden werden. Das beginnt bei seinen Grundbegriffen. Seine „method of extension and intension“ beschrieb er als eine „method for analyzing and describing the meanings of linguistic expressions“ (Carnap 1947/1956, iii). Carnaps zweiteilige Theorie der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke besteht aus einer Theorie extensionaler Begriffe (wie Extension, Benennung, Wahrheit) und einer Theorie intensionaler Begriffe (wie Intension, Synonymität, Analytizität), die zusammenwirken. Zudem muss unterschieden werden zwischen Pragmatik, „the empirical investigation of historically given natural languages“, und Semantik, „the study of constructed language systems“ (Carnap 1955a/1956, S. 233), und dementsprechend zwischen den semantischen und den pragmatischen Begriffen von Extension und Intension.

Man mag nun meinen, dass der Begriff der Intension uns auch als ein Begriff des Sprachverstehens dienen kann, da die semantischen Begriffe als Explikationen der ihnen entsprechenden pragmatischen Begriffe verstanden werden können (ebd., S. 234). Es besteht aber ein wichtiger Unterschied zwischen einer Bedeutungstheorie und einer Theorie des Verstehens, der oft übersehen wird (bei Carnap wohl, weil er ihn zwar in seiner Praxis beachtet, aber nicht explizit zieht). Für Carnap sind Intension and Extension abstrakte, mathematisch definierte Begriffe, denen Gewalt angetan wird, wenn wir sie den Intuitionen unseres eigenen Erlebens folgend verstehen wollen. Sicher, Carnap sprach davon, dass „the theory of intension of a given language L enables us to understand the sentences of L“ (ebd., S. 234), doch er merkte an, dass zur Verwendung einer Sprache noch empirisches Wissen benötigt wird, um der Theorie ihrer Extension Genüge zu tun. Mit anderen Worten, rein auf Intensionen bezogenes Sprachverstehen erlaubt uns nicht zu verstehen, auf welche Gegenstände und Personen eine sprechende Person sich bezieht. Zudem wies Carnap darauf hin (damit den Begriff der Intension einengend wie schon Frege den Begriff des Sinns), dass „Intension“ als ein Terminus technicus zu verstehen ist, der allein die sogenannte kognitive Bedeutung von Ausdrücken bezeichnet, „that meaning component which is relevant for the determination of truth“ (ebd., S. 237), also von allen möglichen nicht-kognitiven Bedeutungskomponenten absah. Aber Carnap ging noch weiter.

Roderick Chisholm kritisierte an Carnaps erster Darstellung des pragmatischen Gegenstücks zum semantischen Intensionsbegriff – mittels der dieser der Quineschen Skeptik gegenüber Intensionen begegnen wollte –, dass es viel zu vereinfachend sei, Sprechern Intensionen auf Grund einfacher Paarungen von Reizen und verbalen Reaktionen zuzuschreiben: Es komme doch immer darauf an, wie diese Sprecher die Reizsituation verstünden (Chisholm 1955). Auf die Beschränkung seiner Skizze hinweisend gab Carnap Chisholm Recht und detaillierte seinen Vorschlag. Zuerst wies er darauf hin, dass „the basic concepts of pragmatics are best taken […] as theoretical constructs in the theoretical language“, dann legte er einen Entwurf vor für Definitionen der Begriffe der Überzeugung („belief“), des Für-wahr-Haltens („holding true“), der Intension, der Äußerung („utterance“) und der Behauptung („assertion“). Diesem Entwurf zufolge sollte es z. B. möglich sein, aus den Sätzen, die eine Person zu einer gewissen Zeit für wahr hält, und den diesen Sätzen zugeschriebenen pragmatischen Intensionen auf deduktive oder induktive Art zu schließen, was diese Person zu einer gewissen Zeit glaubt – und Ähnliches (1955b/1956, S. 248 f.). Mit anderen Worten, Carnap entwickelte die Anfänge einer holistischen Interpretationstheorie, die zwar auf pragmatischen Gegenstücken zu semantischen Begriffen aufbaute, jedoch als eine umfassende Theorie des Sprachverstehens keineswegs auf semantische Begriffe reduzierbar war.Footnote 4

Carnaps Bestehen auf der jeweiligen Eigenständigkeit von Semantik und Pragmatik ist also kein nebensächlicher Punkt. Die prinzipielle Unabhängigkeit der Semantik von empirisch-pragmatischen Gesichtspunkten bezeichnete einen Grundzug seines formalen Verständnisses von Philosophie. Carnap war sehr positiv gegenüber modelltheoretischem Denken eingestellt, doch bestand er stets darauf, dass dies eben Denken in Modellen ist. Die Beziehung Zeichen-Bezeichnetes, die dabei vom umfassenden Phänomen menschlichen Sprachgebrauchs abstrahiert, ist keinesfalls als Stellvertreterin für das zu verstehen, von dem sie abstrahiert wird. Die Kritik Neuraths, die Semantik berge korrespondenztheoretische Metaphysik, muss Carnap also seltsam berührt haben: Genau das Gegenteil hatte er doch im Sinn! Aber auch Gilbert Ryle (1949) hatte offensichtlich Schwierigkeiten, Carnap zu verstehen. Die Eigenart der formalen Semantik und den Unterschied zwischen Logik und Psychologie übersehend bezichtigte er Carnap genau der philosophischen Verfehlungen, vor denen dieser zu warnen suchte. Wir dürfen dies wohl als Zeichen dafür lesen, dass es nicht einfach ist, Carnap zu verstehen.

So weit zum sprachphilosophischen Hintergrund der Carnapschen Wende von 1935. Wenn wir uns dem Vortrag über Erkenntnistheorie zuwenden, finden wir ähnliche Komplexitäten vor. Bei der „Reinigung“ der Erkenntnistheorie und „Auflösung in ihre Bestandteile“ ist zweierlei wichtig: erstens die Ausgrenzung jeglicher psychologischer Gesichtspunkte, zweitens der exklusive Bezug auf logische Aspekte. Wieder ist es nicht leicht, beide Punkte richtig zu verstehen.

Es sind besonders zwei Arten von Fakten, auf die sich die Untersuchungen der modernen wissenschaftlichen Philosophie vermeintlich, nicht wirklich, beziehen: die phänomenalen und die physikalischen Fakten. Die Erkenntnistheorie im engeren Sinn schien sich mit den „Phänomenen“, dem „unmittelbar Gegebenen“, den „Erlebnissen“, den „bloßen Bewußtseinsinhalten“ zu befassen, also mit Fakten wie z. B. „Hier ist jetzt Schmerz“ oder „Ich sehe einen roten Fleck“. Aber in Wirklichkeit wäre die Untersuchung solcher Fakten Sache der Psychologie. Deren empirische Methode müßte hier angewendet werden: Die Abhängigkeit der Vorgänge von verschiedenen Faktoren müßte festgestellt werden, die Ergebnisse müßten statistisch verarbeitet und in allgemeinen Gesetzen formuliert werden, usw. Die physikalischen Fakten bildeten scheinbar den Gegenstand der sog. Naturphilosophie. Hier, so glaubte man, handle es sich um die Analyse von Raum und Zeit, Kausalität und Determinismus usw. Aber wenn es sich tatsächlich um die Analyse der Naturvorgänge gehandelt hätte, so wären die Fragen naturwissenschaftliche und nicht philosophische gewesen. (Carnap 1936a, S. 38)

Carnap grenzte hier Philosophie ganz klar von empirischen Untersuchungen ab. „Das Gegebene“ und „bloßer Bewußtseinsinhalt“ etc., stellen für Carnap rein empirische Phänomene dar, die von der Psychologie zu untersuchen sind. Aber auch wenn wir das Verbot nur auf Überlegungen zu Kausalzusammenhängen beziehen, widerspricht es immer noch der gegenwärtigen naturalistischen Erkenntnistheorie. Was also bedeutet die „Läuterung“ der Erkenntnistheorie in Wissenschaftslogik?

Wir tun somit gut daran, die erkenntnistheoretischen Fragen und Sätze so umzuformulieren, dass der Schein vermieden wird, als bezögen sie sich auf Fakten, und dass vielmehr deutlich wird, dass sie sich auf die Sprache beziehen. Wir nennen diese Umformulierung eine Übersetzung aus der inhaltlichen (oder materialen; eigentlich sollten wir sagen: pseudo-materialen) Redeweise in die formale Redeweise. Wir werden also nicht mehr fragen: „Gibt es Phänomene als ursprünglichste Fakten, auf die alle andern Fakten zurückführbar sind?“; hierbei wäre gänzlich unverständlich, was es heißen soll, ein Faktum sei auf andere Fakten zurückführbar. Statt dessen werden wir die Frage so formulieren: „Gibt es letzte Sätze, auf die alle synthetischen Sätze zurückführbar sind?“; was Zurückführbarkeit von Sätzen ist, läßt sich im Rahmen der logischen Syntax genau definieren. Und weiter ersetzen wir die Frage „Welche Form haben die ursprünglichen Phänomene?“ durch die Frage: „Welche Form (logisch-syntaktische Struktur) haben die letzten Sätze?“ (Carnap 1936a, S. 38 f.)

Um eine wirklich von Psychologie und Naturwissenschaft gereinigte Philosophie zu betreiben, müssen wir davon absehen, von Fakten erster Ordnung zu sprechen. Eine gereinigte Erkenntnistheorie darf nur von Sätzen und ihren logischen Eigenschaften sprechen. Wie schon in Scheinprobleme der Philosophie verstehen wir Implikation, das logische Bedingungsverhältnis, als den von Psychologie und Empirie allgemein gereinigten Begriff von Begründung (Carnap 1928b, § 1). Das Netzwerk logischer Ableitbarkeit zwischen Sätzen bildet ab, was an dem Begriff von Begründung philosophisch Sache ist.

Es ist offensichtlich, dass uns Carnap hier eine radikale Änderung der Perspektive nahelegt. Aber wie radikal sollen wir sein? Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass von der traditionellen Erkenntnistheorie nichts mehr übrig bleibt. Die Ausgrenzung der Psychologie schließt die Untersuchung persönlicher Überzeugungen von erkenntnistheoretischen Überlegungen aus – entgegen dem traditionellen Verständnis von Erkenntnistheorie. Die Reinigung ist eliminative Säuberung: Carnap ersetzt die Erkenntnistheorie durch Wissenschaftslogik.

Aber fragen wir: Was hat es mit den „letzten Sätzen“ auf sich, sind sie nicht ein Kürzel für das phänomenal Gegebene? So könnte man meinen: „Schließlich kommt es doch auf dasselbe heraus, ob wir nach der Struktur der Phänomene oder nach der der Sätze fragen, denn wenn die Sätze die Phänomene beschreiben, so haben sie dieselbe Struktur wie diese“ (Carnap 1936a, S. 39). Carnaps Antwort:

Aber in Wirklichkeit ist es nicht gleichgültig, wie wir die Frage formulieren. Denn die Formulierung in formaler Redeweise spricht von Sätzen und macht uns dadurch aufmerksam auf den Umstand, dass die Frage noch unvollständig ist, dass nämlich noch eine Angabe darüber erforderlich ist, auf welche Sprache sich die Frage beziehen soll. Dadurch wird uns dann klar, dass es letzten Endes eine Frage der Konvention ist, welche Struktur wir den elementaren Sätzen unsrer Sprache geben. (Damit ist keineswegs gesagt, dass es gleichgültig sei, welche Struktur wir wählen.) (Carnap 1936a, S. 39)

Man beachte, dass elementare Sätze hier sozusagen entpersönlicht sind – wie im Tractatus von Wittgenstein (1922) –, aber gleichzeitig – und hierin völlig anders als im Tractatus – ihrer (transzendentalen) korrespondenzthoretischen Bindung an das Gegebene entledigt. Die Art von „letzten Sätzen“, die uns Carnaps Wissenschaftslogik bietet, hat mit traditioneller Erkenntnistheorie nichts mehr zu tun.

Carnaps Wissenschaftslogik scheint also in eine Art Niemandsland zu führen. Wie bei seiner Semantik sollten wir aber auch bei der Überwindung der Erkenntnistheorie durch Wissenschaftslogik bereit sein, Neues zu denken.

Wissenschaftslogik ist demnach nicht „bloße“ Umformung der alten Erkenntnistheorie, sondern bietet etwas Neues: eine rein logische Analyse und Konstruktion von Sprachrahmen, Begriffsnetzen und Satzgesamtheiten.Footnote 5 Wozu aber? Carnaps Analysen und Konstruktionen sollen uns logische Rahmen und begriffliche Netzwerke zum eventuellen Gebrauch vorlegen. (Wenn die Rahmen von elementarer wissenschaftlicher Natur sind – wie bereits in Physikalische Begriffsbildung (1926) –, können seine Untersuchungen der Metrologie zugeschlagen werden.Footnote 6) Man beachte aber, dass in der Wissenschaftslogik, soweit sie bisher besprochen wurde, von Erkenntnissubjekten keine Rede ist.

Betrachten wir die Frage, warum Carnap die Wissenschaftslogik so eingrenzt, wie er es tut. Natürlich sollte es nicht verwundern, dass es nach der Metaphysik nun auch der Erkenntnistheorie an den Kragen geht. Und es mag auch nur konsequent sein, wenn die Frage nach dem Grund (nicht dem Ursprung) der Rahmenbildung unserer Begrifflichkeit losgelöst wird von jedem mehr oder minder zufälligen Bezug auf Umstände eines Erkenntnissubjektes. Aber Carnaps Urteil, dass es im schlimmen Sinn psychologistisch sei, sich auf seine Erfahrungen zu berufen, wenn es darum geht, Erkenntnisansprüche einzulösen, bedarf trotzdem erst einer Erläuterung, bevor es einsichtig werden kann.

Die Antwort könnte mit einer Reflexion über den grundsätzlichen Unterschied zwischen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie beginnen. Ihre Fragen und Probleme sind verschiedener Natur: Bezieht sich jene auf intersubjektiv anerkannte Lehrsätze und deren Prüfung, so bezieht sich diese auf persönliche Überzeugungen und ihre Entstehung. Dass Carnap Wissenschaftstheorie betreibt, entscheidet somit seine Vorgehensweise. Des weiteren mag man sich folgender Hypothese zuwenden: Carnap verweigert empirischen Untersuchungen einfach Platz in philosophischen Überlegungen. Philosophie – besser: das, was von Philosophie übrig bleibt, wenn sie von falschen Prätentionen gereinigt ist – ist rein logisch-begrifflicher Natur und operiert rein apriorisch. Der Fehler der psychologistischen Erkenntnistheorie besteht darin, empirische Überlegungen mit logisch-begrifflichen zu vermengen. Wissenschaftslogik selbst ist rein abstrakter Natur.

Man mag über einen solchen Apriorismus staunen. Dass Philosophie so vorgehen müsse, scheint eine sehr traditionelle Position zu sein. Es darf auf keinen Fall vergessen werden, dass diese aprioristische Position selbst schon „gereinigt“ ist: Carnaps Philosophie ist Logik, und sein Apriori ist rein analytischer Natur. Zudem macht er äußerst untraditionellen Gebrauch von der aprioristischen Methode. Die Wahrheiten, die er aufdeckt, sind keine apodiktischen Vernunftwahrheiten, aber auch keine Begriffswahrheiten, die für immer und ewig gelten, sondern solche, die im Licht seines Pluralismus nur für Begriffe innerhalb bestimmter Sprachsysteme gelten.

In welchem Sinn nun könnte die Wissenschaftslogik selbst als Erkenntnistheorie fungieren? Doch wohl nur als angewandte Logik, und dann in diesem: Sie widmet sich in extrem depersonalisierter Weise der Frage propositionaler Begründung, der Begründung von Sätzen und Satzgesamtheiten. Auch ist es nur prinzipiell mögliche Begründung, die von der Logik der Wissenschaft gegeben werden kann. Sie ist ja abhängig von den Voraussetzungen ihrer Anwendung. Ob die Annahmen tatsächlich gelten, von denen eine Begründung abhängt, ist von der Wissenschaftslogik selbst nicht erfassbar, da es sich dabei um empirische Sachverhalte handelt, nämlich darum, was von bestimmten Sprachbenutzern nun tatsächlich angenommen wird. In das übersetzt, was uns heutzutage als Erkenntnistheorie gilt, heißt das, dass die Logik der Wissenschaft keine doxastische Begründung liefern kann und auch propositionelle Begründungen nur insofern liefert, als davon abgesehen wird, ob die in Frage stehenden Sätze (Propositionen) nun von irgendeinem Wesen anerkannt oder sonst unterhalten werden oder nicht. Die extreme Entpersönlichung des Begriffes von Begründung im Laufe seiner Logisierung lässt nur noch formal-logische Untersuchungen zu. So weit zur ersten Skizze, die offensichtliche Interpretationsprobleme birgt.

Wie kam Carnap dazu, ein Philosophieverständnis zu entwickeln, das die traditionelle Erkenntnistheorie derart radikal ausgrenzte? (Und blieb er dabei?)

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir auf eine vielschichtige Debatte zurückblicken, die für etliche Entwicklungen der Philosophien des Wiener Kreises verantwortlich ist. Dabei handelt es sich um die erkenntnistheoretische Frage, ob der Ansatz des methodologischen Solipsismus, den Carnap im Aufbau benutzte, weiterhin brauchbar blieb. Der methodologische Solipsismus verkörpert die traditionelle Konzeption von der epistemischen Priorität der phänomenalistischen gegenüber physikalistischen Aussagen. Zweierlei ist hier von Interesse für uns: dass der methodologische Solipsismus untragbar wurde, und wie er es wurde. Betrachten wir zuerst die Problemlage, die für Carnap entscheidend war.

Circa 1929 wurde Carnap darauf aufmerksam gemacht, dass das Sprachsystem seines Logischen Aufbaus (1928a) Schwierigkeiten hatte, der Intersubjektivität der Wissenschaft Rechnung zu tragen. Dem Aufbau lag ja eine phänomenalistische Sprache zugrunde, in die alle Aussagen übersetzt werden mussten, um Bedeutung zu besitzen. Begründungen erfuhren Aussagen nur mit Bezug auf phänomenal Gegebenes. Letzten Endes also sprachen alle Wissenschaftler nur von ihren eigenen Erfahrungen, nicht von der ihnen allen gemeinsamen physikalischen Welt. Dass sich eine erstaunliche strukturelle Kongruenz zwischen den von verschiedenen Subjekten konstruierten Objekten der Erkenntnis ergab, der Aufbau also funktionell eine gemeinsame physikalische Sprache simulierte, tat der Konsequenz keinen Abbruch, dass das Sprachmodell des methodologischen Solipsismus keiner Referenz und keines Bezugs auf Objekte fähig war, die die subjektive Erfahrung transzendierten.Footnote 7

Daraufhin operierte Carnap eine Zeit lang mit einem Zweisprachenmodell, nach dem die physikalische Sprache für das Geschäft der intersubjektiven Wissenschaft zuständig war, es jedoch ihrer Übersetzung in phänomenalistische Protokollsprachen bedurfte, um die wissenschaftlichen Aussagen erkenntnistheoretisch zu begründen (siehe Carnap 1930). Das Problem hier war, dass (wie schon im Aufbau) Aussagen über eigenpsychische Gegebenheiten nicht in physikalische Aussagen übersetzbar waren. Es bestand eine Asymmetrie zwischen fremdpsychischen und eigenpsychischen Aussagen: Allein Erstere waren übersetzbar in die physikalische Sprache. Erkenntnistheoretisch scheint gegenüber dem Aufbau also nichts gewonnen.Footnote 8

Dies war natürlich ein Punkt, den Neurath seinen Kollegen Carnap nie vergessen ließ. Carnap wiederum konnte sich damit trösten, dass dieses Problem nicht nur das seinige war. Eigenpsychische Aussagen waren für alle Theoretiker problematisch, die die kognitive Bedeutsamkeit von Aussagen von der Möglichkeit abhängig machten, diese intersubjektiv auf ihren Wahrheitswert überprüfen zu können.

Erinnern wir uns erstens, dass der Physikalismus Wiener Prägung – anders als der gegenwärtige ontologische Physikalismus war dieser eine metalinguistische These der Übersetzbarkeit aller Sprachen in die physikalistische – aus den Diskussionen um den Behaviorismus hervorging. Erinnern wir uns ebenfalls daran, dass zwischen dem Behaviorismus des Psychologen Watson und dem, was Russell in seiner Analysis of Mind (1921) als Behaviorismus bezeichnete, ein großer Unterschied bestand: So wies Russell Introspektion keineswegs zurück und war nicht eliminativ eingestellt. Das ist wichtig, weil der Physikalismus Carnaps und Neuraths aus der Diskussion um Russells Behaviorismus hervorging. Die Physikalisten hatten insofern einen erkenntnistheoretischen Vorteil den traditionellen Behavioristen gegenüber: Sie brauchten nicht auf Introspektion zu verzichten. Aber wie war dies mit ihrer Bedeutungstheorie zu vereinbaren? Hier lag ein Problem.

Eigenpsychische Aussagen sind offensichtlich von fremdpsychischen Aussagen darin verschieden, dass sie nicht wie diese überprüft werden müssen. Fremdpsychische Aussagen werden mittels Aussagen über das Verhalten (inklusive Sprechverhalten) der betreffenden Person überprüft, das für Zuschreibungen von geistigen Zuständen die Kriterien abgibt. (Wie diese Kriterien genau funktionieren braucht uns jetzt glücklicherweise nicht zu interessieren.) Eigenpsychische Aussagen bedürfen keiner Nachprüfung dieser Art. Wenn nun, Wittgensteins Diktum vom Dezember 1929 folgend, die Bedeutung eines Satzes mit der Art seiner Nachprüfung identifiziert wird, fallen die Bedeutungen von gleichlautenden Zuschreibungen von Glaubenszuständen oder Überzeugungen an dieselbe Person auseinander, wenn eine davon in der ersten Person und die andere in der dritten Person gemacht werde.Footnote 9 Das war prima facie nicht plausibel und motivierte verschiedene Lösungsvorschläge.

Wittgenstein selbst nahm diese Schwierigkeit zum Anlass, scharf zwischen verschiedenen Gebieten der Umgangssprache zu differenzieren. So bezeichnete er eigenpsychische Aussagen als „Äußerungen“, die überhaupt nicht der Überprüfung bedürfen, aber deswegen auch nicht als Wahrheitswerte tragende Sätze behandelt werden dürfen: Wie schon von vorher die allquantifizierten Sätze der Wissenschaft als Hypothesen von regulärer Bedeutsamkeit ausgeschlossen wurden, so jetzt die eigenpsychischen Aussagen.Footnote 10 Dass dies einen Physikalismus wie von Neurath und Carnap intendiert unmöglich machte, störte Wittgenstein nicht.

Schlick dagegen hielt an der Bedeutsamkeit dieser Aussagen in der Umgangssprache fest und erhob sie als „Konstatierungen“ geradezu zur Instanz der Überprüfung selbst, indem er ihnen nämlich besondere logisch-grammatische Regeln zusprach: Sie waren die einzigen synthetischen Sätze, deren Verstehen mit der Erkenntnis ihrer Wahrheit zusammenfiel.Footnote 11 Damit unterschieden sich diese Konstatierungen natürlich radikal von Sätzen der empirischen Wissenschaft, und Schlick bestritt auch ihre logische Bedeutung für die Wissenschaftssprache. Beide, Wittgenstein und Schlick, verwarfen also die Bedingung, die der Physikalismus an aus Introspektion erlangte Sätze stellte – nämlich wissenschaftlichen Aussagen bedeutungsgleich zu sein –, aber sie taten dies auf verschiedene Weise.

Carnap dagegen assimilierte die eigenpsychischen den physikalistischen Aussagen, obwohl auch er an der Introspektion festhalten wollte (darin Russells Behaviorismus folgend). Wie nun aber war die Überprüfung eigenpsychischer Aussagen physikalistisch zu verstehen, wenn man die Introspektion weiter anerkennen wollte? Solange dies nicht geklärt war, schien man gezwungen, offensichtlich koreferentiellen eigenpsychischen und fremdpsychischen Aussagen mit identischen Prädikaten verschiedene Bedeutungen zuzusprechen, weil sie eben verschieden verifiziert wurden – entgegen dem, was vom Physikalismus verlangte wurde, damit eigenpsychische Aussagen einheitswissenschaftlich interpretiert werden konnten.

Gegenüber dem anti-physikalistischen Einwand (dem er 1930 noch Gehör schenkte), physikalistische und eigenpsychische Sätze seien eben nicht wechselseitig ineinander übersetzbar, half sich Carnap zuerst einmal mit der Unterscheidung zwischen „inhaltlicher“ und „formaler Redeweise“. In formaler Redeweise bedeutete Übersetzbarkeit einfach Ableitbarkeit. Zu meinen, zwischen physikalistischen und eigenpsychischen Aussagen gäbe es einen fundamentalen Unterschied, weil die Ersteren vom Verhalten von Körpern sprechen und die Letzteren von geistigen Inhalten, heißt dagegen, sich von der inhaltlichen Form der Rede irreführen zu lassen: Nur dann kann man meinen, die Ableitungsbeziehungen zwischen der physikalistischen und der eigenpsychischen Sprache wären mit der Verschiedenheit der Inhalte der betreffenden Sätze unvereinbar. Laut Carnap war man nach Ausschaltung der inhaltlichen Redeweise nicht länger verleitet, „Vorstellungsgehalt“ für „logischen Gehalt“ zu halten (Carnap 1932b, S. 460).Footnote 12 Wie nun wurde der logische Gehalt von Aussagen bestimmt?

Carnaps Lösung began damit, den logischen Gehalt des Satzes S als die Klasse derjenigen Sätze zu definieren, die aus S ableitbar sind (ebd., 458–460; cf. Carnap 1932c, S. 108). Demnach waren zwei Sätze, aus denen die gleiche Klasse von Sätzen ableitbar war, „gehaltgleich“. Sätze, aus denen dieselben Kontroll- oder Protokollsätze ableitbar sind, galten als ineinander übersetzbar. In der Folgezeit wurde geklärt (Carnap 1934, § 49), dass es allein „nicht-analytische“ Sätze waren, deren Ableitbarkeit den logischen Gehalt eines Satzes bestimmte, ebenso dass man zwischen „L-Gehaltgleichheit“ und „P-Gehaltgleichheit“ unterscheiden konnte, je nachdem ob man bei der Ableitung von Kontrollsätzen nur auf logische oder auch auf empirische Gesetze zurückgriff. Damit war Carnap gerüstet, auf eine Version des Einwands gegen die Bedeutungsgleichheit von eigen- und fremdpsychischen Sätzen zu antworten, die zu konfrontieren er bisher unterlassen hatte – eben den Einwand, dass es uneinsichtig sei, dass verschiedene Sätze verschiedenen Überprüfungsmethoden unterlägen und doch dieselbe Bedeutung hätten. Die Gehaltgleichheit von eigenpsychischen und fremdpsychischen Aussagen – also von Protokollen in der ersten und der dritten Person – war eine P-Gehaltgleichheit. Sie ergab sich aus der Verwendung eines (der zukünftigen Neurophysiologie prospektiv entlehnten) Gesetzes, das die regelmäßige Zuordnung von psychologischen und physischen Zuständen bestimmte.

Sicher hatte man schon länger die Konsequenz gezogen, dass mit dem Begriff des logischen Gehalts unter gewissen Umständen ein Unterschied in den Verifikationsmethoden belanglos wurde, doch die offizielle Legitimation hinkte hinterher. Dieser letzte Schritt wurde genommen, als Carnap Wittgensteins Verifikationskriterium der Bedeutsamkeit ein zweites Mal liberalisierte.Footnote 13 Diesmal drehte es sich darum, die Rede von „der“ Methode der Überprüfung, von „der“ Verifikationsmethode eines Satzes durch die Rede von „möglichen Verifikationsmethoden“ bzw. „Verifikationsbedingungen“ zu ersetzen (Carnap 1935, S. 46). Damit wurde endlich klar erklärt, dass eigen- und fremdpsychischen Sätzen dieselbe Bedeutung zugesprochen werden kann, ohne leugnen zu müssen, dass ihre Verifikationsmethoden verschieden sind. Und damit war auch der Physikalismus zumindest zu Carnaps Zufriedenheit etabliert.Footnote 14

Fassen wir die Entwicklung mit Hinblick auf den methodologischen Solipsismus kurz zusammen. Um dem intersubjektiven Charakter der Wissenschaft zu genügen, mussten eigenpsychische Sätze voll physikalisiert werden, weil sie sonst aus der Wissenschaft herausfallen und die Wissenschaft damit auch erkenntnistheoretisch unvollständig bleibt. Voll physikalisiert sein heißt, intersubjektiv überprüfbar zu sein. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen für eigenpsychische Aussagen liegen auf der Hand: Sätze, die das direkt Gegebene formulieren, die also die für den methodologischen Solipsismus grundlegenden Aussagen liefern, sind nicht intersubjektiv überprüfbar. Damit wurde Erkenntnistheorie, wie sie selbst der Aufbau noch praktizierte, irrelevant, und ein unbedingtes erkenntnistheoretisches Privileg der ersten Person wurde nicht mehr anerkannt.Footnote 15

Carnaps Überwindung des methodologischen Solipsismus erfolgte also in separaten Schritten. Schon 1930, wohl als Reaktion auf erhaltene Einwände, arbeitete Carnap mit zwei grundlegenden Sprachen, der phänomenalen und der physikalistischen, die jeweils originär bedeutsam waren und nicht der Übersetzung in eine andere bedurften, aber verschiedene Aufgabengebiete besaßen.Footnote 16 Ende 1931/Anfang 1932, als er die publizierte Fassung von „Universalsprache“ verfasste, hatte er mit dem sprachtheoretischen Primat des methodologischen Solipsismus gebrochen (damals hob er die Asymmetrie zugunsten der phänomenalen Sprache auf, so dass auch eigenpsychische Sätze physikalistisch übersetzbar wurden). Ende 1932 dann, mit seiner Antwort auf Neuraths „Protokollsätze“, sprach er dazu dem methodologischen Solipsismus auch das erkenntnistheoretische Primat ab, das er ihm noch belassen hatte.Footnote 17 Aber erst im Laufe der Jahre 1933–1934 wurde klargestellt, wie die Überprüfbarkeit der eigenpsychischen Sätze zu verstehen war, ohne dass unser intuitives Verstehen ihres Inhalts als illusionär zu verworfen werden müsste.Footnote 18 Damit war dem methodologischen Solipsismus die letzte Karte aus der Hand genommen. Konsequenterweise (wenn auch nur implizit) sprach Carnap ihm in seinem Pariser Vortrag ab, in der Wissenschaftslogik verwendbar zu sein.

Die Überwindung des methodologischen Solipsismus ist ein philosophisches Ergebnis von weitreichender Bedeutung. Der methodologische Solipsismus stellt ja genau die Voraussetzung dar, die die Erkenntnistheorie zumindest seit Descartes behindert hat. Man kann sagen: Der „methodologische Solipsismus“ brüstet sich im zweiten Wort seines Namens seines Sündenfalls, im ersten drückt er sein unberuhigtes schlechtes Gewissen aus. Dass es auch nicht beruhigt werden kann, hat nun gerade die Wiener Protokollsatzdebatte gezeigt, und genau dieses Resumé zog Carnap offensichtlich selbst in seinem Pariser Vortrag zur Überwindung der Erkenntnistheorie. Die Vorgeschichte dazu legt also nahe, dass er damit eine auf methodologisch solipsistischer Basis operiende Erkenntnistheorie meinte, genau wie Neurath schon 1932, als dieser davon sprach, „dass es innerhalb eines folgerichtigen Physikalismus keine ,Erkenntnistheorie‘ geben kann, mindestens nicht in der überlieferten Form“ (Neurath 1932a/2006, S. 282).

Nun mag man fragen, ob wirklich alle Erkenntnistheorie methodologisch solipsistisch sein muss – und die Antwort ist natürlich negativ. So stellt sich wieder die Frage, warum Carnap psychologische Kriterien so radikal aus der Erkenntnistheorie ausschließen wollte, wie es sein Vortrag behauptete. Inzwischen aber können wir auch sehen, dass die in § 1.3 kontemplierte Hypothese (dass der Fehler der psychologistischen Erkenntnistheorie allein darin besteht, empirische Überlegungen mit logisch-begrifflichen zu vermengen) falsch ist. Sowohl Carnaps Überwindung der Erkenntnistheorie als auch sein Physikalismus bedurften ihrerseits empirischer Gesichtspunkte. Der methodologische Solipsismus wurde verworfen, weil sein Gebrauch den intersubjektiven Tatsachen des Wissenschaftsbetriebes nicht entsprach, während der Physikalismus die Wahrheit eines empirischen Sachverhalts voraussetzt. Er stützt sich auf

den glücklichen Umstand, der durchaus nicht logisch notwendig ist, sondern empirisch vorliegt, dass

das Protokoll der Inhalt der Erfahrung

eine gewisse Ordnungsbeschaffenheit hat. Das zeigt sich darin, dass es gelingt, eine physikalische Sprache aufzubauen, derart, dass die qualitativen Bestimmungen (wie sie in der Protokollsprache verwendet werden) von der Wertverteilung der physikalischen Zustandsgrößen eindeutig abhängen. (Carnap 1932b, S. 445)

Carnap milderte auch seinen unerbittlichen Anti-Psychologismus. Passte seine Zurückweisung jeglicher Bezugnahme auf psychologische Sachverhalte in der Philosophie 1935 noch zu seiner bis dahin letzten Antwort auf Neurath in der Protokollsatzdebatte, so bot sein Aufsatz „Testability and Meaning“ bereits ein anderes Bild. In „Über Protokollsätze“ erlaubte Carnap noch allen singulären Sätzen der „physikalischen Systemsprache“ als Protokollsätze zu dienen (Carnap 1932d/2006, S. 423). Dies änderte sich 1936, als er die Protokollsätze auf Beobachtungssätze der sogenannten Dingsprache beschränkte (Carnap 1936–37, S. 9). Und nicht untypischerweise verwies Carnap nun der Psychologie die Aufgabe festzustellen, welche Prädikate als solche der direkten Beobachtung gelten können (ebd., S. 454).

Eine bessere Frage ist also diese: Wie sieht Carnaps spätere Erkenntnistheorie nun wirklich aus – worin besteht ihre Kontinuität bzw. Diskontinuität mit den Positionen von vor 1935? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, muss allerdings noch ein grundlegender Einwand gegen die hier entwickelte Interpretation der Carnapschen Position ausgeräumt werden.

Was ist davon zu halten, dass sich Carnap später scheinbar mehrdeutig zum methodologischen Solipsismus äußerte? Im Vorwort zur zweiten Auflage des Aufbau ist zu lesen:

Wenn ich jetzt die alten Formulierungen lese, finde ich manche Stellen, die ich heute anders sagen oder auch ganz weglassen würde. Aber mit der philosophischen Einstellung, die dem Buch zugrunde liegt, stimme ich heute noch überein. Das gilt vor allem für die Problemstellung und für die wesentlichen Züge der angewendeten Methode. Das Hauptproblem betrifft die Möglichkeit der rationalen Nachkonstruktion von Begriffen aller Erkenntnisgebiete auf der Grundlage von Begriffen, die sich auf das unmittelbar Gegebene beziehen. (Carnap 1961, xvii)

Zusätzlich zu der „These, dass es grundsätzlich möglich sei, alle Begriffe auf das unmittelbar Gegebene zurückzuführen“ (ebd., xviii), sprach sich Carnap auch noch für eine Machsche Lösung der Frage der Basisrelation aus.Footnote 19 Das scheint nicht einer endgültigen Absage an den methodologischen Solipsismus zu entsprechen. Aber dann wiederum können wir folgende Bemerkung derselben Schaffensperiode lesen, in der eine schon ältere Weisheit formuliert ist:

It is an essential characteristic of the phenomenal language that it is an absolutely private language which can only be used for soliloquy, but not for common communication between two persons. In contrast, the reistic and the physical languages are intersubjective. (Carnap 1963, S. 869; vgl. Carnap 1936–37, S. 10)

Die ältere Weisheit hier ist die der Unbrauchbarkeit einer phänomenalistischen, also methodologisch solipsistischen, Sprache zur Rekonstruktion der Wissenschaftssprache.Footnote 20 Wie passen diese Aussagen zusammen?

Der zweiten Aussage nach muss der methodologische Solipsismus eine private, rein phänomenalistische Sprache benutzen. Wenn die Umgangssprache aber ohne Anspruch auf Rückübersetzbarkeit in diese phänomenalistische Sprache benutzt wird, dann ist die Priorität des Eigenpsychischen, auf der der methodologische Solipsismus unbedingt besteht, damit klar in Frage gestellt. Angesichts ihrer „absoluten Privatheit“ ist die Verwendung einer phänomenalistischen Sprache in der Analyse der Wissenschaftssprache also nicht zu empfehlen – und die des methodologischen Solipsismus ebenso wenig. Worin also könnte Carnap weiterhin mit seinem alten Aufbau übereinstimmen?

Genauer betrachtet besteht wenig Grund zu meinen, Carnap habe sich im Vorwort zur zweiten Auflage des Aufbau wieder zum methodischen Solipsismus bekannt. Vielmehr visierte Carnap dort die Möglichkeit an, reine Logik zu betreiben, d. h. in diesem Fall, ein Begriffssystem aufzustellen, eine Sprache zu entwickeln, die dieselbe Reichweite wie unsere traditionelle Sprache besitzt, aber als Grundbegriffe nur solche aufweist, die sich auf das Gegebene beziehen. Wovon das Vorwort zur zweiten Auflage, im Gegensatz zum Vorwort zur ersten, nicht sprach, war „die Frage der Zurückführung der Erkenntnisse aufeinander“ (Carnap 1928a, xiii). Der Unterschied mag sehr subtil erscheinen, ist aber von großer Bedeutung für die Wandlung seiner Blickweise auf den Aufbau, die der spätere Carnap hier durchscheinen ließ.

Wir müssen unterscheiden zwischen einer explorierendenSprachkonstruktion und der Anwendung von konstruierten Sprachformen – zwischen rein theoretischer und angewandter Wissenschaftslogik. In Vorwort zur zweiten Auflage sprach sich Carnap dafür aus, die Möglichkeit einer eher Machschen Prinzipien folgenden Sprache zu erforschen. Diese Möglichkeit sah er durch nichts beeinträchtigt, was er seit seinem Aufbau gelernt hatte. Mit anderen Worten, als ein nicht auf historische Formen der Wissenschaftssprache begrenzter Logiker betrachtete er die phänomenalistische Sprache als eine unter vielen, deren formelle Attribute feststellbar waren. Daraus folgte aber auch keine Verpflichtung zu ihrer Verwendung, was auch immer ihre formalen Reize sein mochten. Bezeichnenderweise gab Carnap im Vorwort zur zweiten Auflage diesem Begriffssystem somit keine erkenntnistheoretische Aufgabe. Stattdessen unterstrich er, dass ein System, das als „Grundelemente physische Dinge enthält und als Grundbegriffe beobachtbare Eigenschaften und Beziehungen solcher Dinge“, „besonders geeignet für eine rationale Nachkonstruktion der Begriffssysteme der Realwissenschaften“ (Carnap 1961, xix) sei, das „reistische“ System also, das er zum ersten Mal in „Testability and Meaning“ (Carnap 1936/1937) eingeführt hatte. Wenn man dies bedenkt, wird verständlich, dass Carnaps Überwindung des methodologischen Solipsismus intakt blieb. Carnap als zu diesem zurückkehrend zu lesen ist keinesfalls zwingend – und angesichts des Gesamtbildes geradezu unplausibel.Footnote 21

Richard Creath (1992) hat darauf hingewiesen, dass treffend von einer „Hilbertisierung“ der Wissenschaftssprache durch Carnap gesprochen werden darf. Die sprachlichen Strukturen, die Carnaps Wissenschaftslogik darstellt und untersucht, sind selbst Begründungsstrukturen und sollen als solche die „properly philosophical parts of traditional epistemology“ ersetzen (Creath 1993, S. 290). Es ist also zuzugeben, dass Carnaps Wissenschaftslogik erkenntnistheoretischen Zwecken dienen kann (besonders in Zusammenhang mit seiner induktiven Logik). In erster Linie tut sie dies natürlich auf die extrem unpersönliche Art und Weise, dass sie propositionale Begründungen liefert, die wir schon besprochen haben: Das Erkenntnissubjekt als solches wird in der Theorie nicht angesprochen.

Kann diese unpersönliche Wissenschaftslogik aber alle Aufgaben übernehmen, die normalerweise der Erkenntnistheorie gestellt werden? Wie steht es mit der doxastischen Begründung unserer individuellen Erkenntnisansprüche? Glücklicherweise war Carnaps Absage an die traditionelle Erkenntnistheorie subtiler Art. Wenn wir eine Begründung oder Rechtfertigung unserer Erkenntnisansprüche suchen, müssen wir uns anderswohin wenden – nicht an die reine Wissenschaftslogik, aber natürlich auch nicht an die alte Philosophie. Wohin also? An die Wissenschaftstheorie im weiteren Sinne und dort an die Pragmatik der Wissenschaft, die die Anwendung der Logik in konkreten Fällen und Kontexten untersucht. Wir müssen also spezifizieren, was Carnap selbst relativ unbestimmt hielt: wie genau sich Wissenschaftslogik zu anderen metatheoretischen Untersuchungen der Wissenschaft stellt, ja zu menschlichen Bemühungen um Wissen allgemein.

Carnap selbst sprach nicht von der Pragmatik der Wissenschaft – nur Frank tat dies (Frank 1957/2004, S. 360) und Neurath sprach diesbezüglich von „Gelehrtenbehavioristik“ (Neurath 1936/1981, S. 758) –, aber seine Philosophiekonzeption hat dafür durchaus Platz, wie er Frank gegenüber einmal klarstellte (Carnap 1963, S. 868).Footnote 22 Der Punkt ist nur zu verstehen, wo und wie. Es ist bezeichnend, dass die Themen der Wissenschaftspragmatik von Carnap selbst in der Sprachtheorie verortet werden. So schrieb er in seinem ersten rein semantischen Buch:

It has turned out to be very fruitful to look at the problems of theoretical philosophy from the point of view of semiotic, i.e., to try to understand them as problems which have to do with signs and language in one way or another. Among problems of this kind we may first distinguish between those problems – or components in complex problems – which are of a factual, empirical, rather than logical nature. They occur especially in the theory of knowledge and the philosophy of science. If construed as problems of semiotic, they belong to pragmatics. They have to do, for instance, with the activities of perception, observation, comparison, registration, confirmation, etc., as far as these activities lead to or refer to knowledge formulated in language. (Carnap 1942, S. 245)

Der Ausdruck „activities that lead to or refer to knowledge formulated in language“ gibt Carnap die Möglichkeit, ein breit gefächertes Repertoire menschlicher Tätigkeiten unter dem Dach der Pragmatik zu versammeln. In der Logischen Syntax ordnete Carnap Gebiete wie Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftspsychologie der allgemeinen Wissenschaftstheorie zu (Carnap 1934, § 72). In Carnaps semiotischem Schema von 1942 fallen diese unter die Kategorie „Pragmatik der Wissenschaftssprache“. Carnap war Wissenschaftspragmatik gegenüber sehr offen. Es ist also zu betonen dass Carnaps Wissenschaftslogik einen stillen Teilhaber besaß, der die analytisch-konstruktiven Aufgaben bearbeitete, für die sie selbst „zu a priori“ war. Das gemeinsame Unternehmen von Wissenschaftslogik und Wissenschaftspragmatik nannte er jetzt „theoretical philosophy from the point of view of semiotic“.

Der spätere Carnap lässt also neben der Wissenschaftslogik, die Untersuchungen der Syntax und der Semantik der Wissenschaftssprache umfasst, auch eine Wissenschaftspragmatik zu. Sie umfasst höherstufige Untersuchungen, die sich mit nichtlogischen bzw. nicht-rein-logischen Aspekten der Gewinnung von Wissen in sprachlicher Form befassen. Genauer gesagt, „theoretical philosophy from the point of view of semiotic“ umfasst reine („pure“) und beschreibende („descriptive“) Syntax ebenso wie reine („pure“) und beschreibende („descriptive“) Semantik sowie „reine“ („pure“ oder „theoretical“) Pragmatik. Wissenschaftslogik befasst sich also mit rein logisch-begrifflichen Untersuchungen möglicher bzw. bereits konstruierter Sprachen sowie den dafür benötigten analytischen Rahmenbegriffen, während empirische Untersuchungen historisch gegebener Sprachen, auch wenn sie deren Syntax oder Semantik betreffen, unter „Pragmatik“ fallen, ebenso wie alle Untersuchungen von Aktivitäten, die zur sprachlichen Formulierung von Wissen bzw. Wissensansprüchen führen.Footnote 23

Damit gewann Carnap den logisch-begrifflichen Raum, der benötigt wird, um Untersuchungen zur doxastischen Begründung oder Rechtfertigung unserer Erkenntnisansprüche durchzuführen. Genau in dieser Wissenschaftspragmatik kann auf das geachtet werden, was in der Wissenschaftslogik vernachlässigt werden muss. Die auf tatsächliche Überzeugungen gerichteten erkenntnistheoretischen Fragen können in der Wissenschaftspragmatik beantwortet werden. Diese Fragen finden dort ihren Platz, weil wenn von Sprachgebrauch die Rede ist, die Sprechenden von Anfang an bedacht werden müssen – und damit haben wir Platzhalter für die epistemischen Subjekte, die die Wissenschaftslogik in eigener Sache nicht bedenkt (außer als Variablen in dem von der reinen Pragmatik entwickelten analytischen Rahmen). Dass Carnap selbst Untersuchungen der Wissenschaftspragmatik zumeist seinen Kollegen Frank und Neurath überließ, ist natürlich nicht zu bestreiten, ist aber einfach als bewusste Arbeitsteilung zu verstehen.

Die Frage erhebt sich, ob Wissenschaftspragmatik ausschließlich empirisch bleiben kann. Wie steht es um die Normativität der Erkenntnistheorie? Auch wenn es sich allein um die Überzeugungen von Wissenschaftlern handelt, reichen Logik und Sprachsysteme nicht aus, Geltung zu erklären, sondern es muss auf das zurückgegriffen werden, was normative Verbindlichkeit schafft: intersubjektive Vereinbarungen. Zuerst sind dies rein konventionelle Vereinbarungen darüber, welche Logik und welches Sprachsystem gelten soll. (Erst dann vermag die reine Logik zu greifen.) Und wenn es um die Rationalität von bestimmten Prozeduren geht, die im Wissenschaftsbetrieb verwendet werden sollen (z. B. zur Überprüfung von Daten oder Hypothesen), dann treten diesen Vereinbarungen weitere, teilweise empirisch bestimmte, zur Seite, nämlich insofern sie sich auf kontingente Mittel-Zweck-Relationen beziehen, deren Erkennbarkeit zum Teil erst einmal versuchsweise unterstellt werden muss. All dies würde keinesfalls von Carnap geleugnet werden. Man beachte daher, dass die Normativität der Wissenschaftspragmatik keiner Ressourcen bedarf, über die Carnap nicht verfügen kann. Zielgerichteter Nutzen ist empirisch bestimmbar, so wie die Konsistenz eines Logikkalküls logisch bestimmbar ist. Die Grundlage aller konditionalen Normativität ist also im Prinzip beweisbar mit den Mitteln empirischer und formaler Wissenschaft und bedarf daher nicht der Art philosophischen Beistands, die Carnap eben nicht liefern kann (und auch nicht liefern will). Da sie allein konditionale Normativität verlangt, ist die Wissenschaftspragmatik, wie die Wissenschaftslogik, von traditioneller, substanziell apriorischer Philosophie unabhängig und in diesem Sinne autonom.

So weit eine Skizze von Carnaps Metaphilosophie, wie sie sich Mitte der dreißiger Jahre herauszukristallisieren begann. In diesem Zusammenhang darf auch die grundlegende Vertiefung nicht vergessen werden, die sie bereits in den ersten dieser Jahre erfahren hat. Schon immer ging es Carnap um rationale Rekonstruktion, nicht um getreue Beschreibung, des Erkenntnisprozesses. Aber die Einsicht, dass rationale Rekonstruktion keine eindeutigen Lösungen liefern kann, will sie sich nicht zurück in traditionelle Philosophie versteigen, dringt weiter, als es auf den ersten Blick aussieht. „Logische Toleranz“ (um das Schlagwort zu verwenden) – von Carnap seit Ende 1932 praktiziert – hat Konsequenzen für jedes von ihr affizierte Philosophieverständnis. Hoffnung auf tiefere Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit, jenseits dessen, was Wissenschaft vermitteln kann, war Empiristen schon immer verwehrt, aber es gab ja immer noch den Heroismus des individuellen Bewusstseins zu feiern, das einer ihm wesensfremden Welt Erkenntnis abtrotzte. Nach der Wende zur sprachlich-logischen Toleranz aber verblieb Philosophen scheinbar nur noch die Möglichkeit, Bruchstücke von Begriffsnetzen zu entwerfen, die bestenfalls pragmatischen Überlegungen entsprechen, wenn sie nicht rein konventionell bestimmt sein sollten. Doch das ist nicht alles, was Carnaps spätere Philosophie zu bieten hat.

Ebenso wie die Aufgabe, Werkzeuge zur Analyse und Konstruktion von Sprach- und Begriffsrahmen – von Sprachformen und Begriffsräumen – zu entwickeln, niemals Selbstzweck war, sondern einen pragmatischen Horizont hatte, so besaß Carnaps Philosophieverständnis einen sozialen Hintergrund und stellte keinen solitären Geniestreich dar, sondern bot ein Programm für eine zukunftsorientierte Zusammenarbeit. Die Intention, die die Philosophie Carnaps und seiner engen Kollegen in Wien und Prag belebte, war nicht die, mittels Logik die menschliche Intelligenz zu domestizieren, sondern mittels ihrer diese Intelligenz dem noch nicht Gedachten zu öffnen. In einem tiefen Sinn war Logik nicht nur Mittel der Analyse, sondern und ganz besonders auch Werkzeug der Konstruktion: „Es gilt, Denkwerkzeuge für den Alltag zu formen, für den Alltag der Gelehrten, aber auch für den Alltag aller, die an der bewußten Lebensgestaltung irgendwie mitarbeiten“ (Verein Ernst Mach 1929/2006, S. 11). Gerade Carnaps extrem spröde anmutende Philosophie – seine Wissenschaftslogik zusammen mit der Wissenschaftspragmatik – kann also dem Anspruch einer kritischen Theorie entsprechen, „ideologisch festgefrorene, im Prinzip aber veränderliche Abhängigkeitsverhältnisse“ zu hinterfragen.Footnote 24 Zugegeben, sie tut dies auf der sehr abstrakten Ebene begrifflicher Abhängigkeitsverhältnisse – aber es ist unbestreitbar, dass Alternativen zu gegebenen Verhältnissen erst einmal denkbar sein müssen, bevor ihre Umsetzung unternommen werden kann. Solche Denkbarkeit zu ermöglichen war das Ziel Carnaps.Footnote 25