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Der logische Aufbau der Welt (Carnap 1998, kurz: Aufbau) wurde 1928 publiziert,Footnote 1 zwei Jahre nachdem Carnap sich in Wien mit dem Manuskript des (danach in gekürzter und bearbeiteter Form publizierten) Buches habilitiert hatte. Das Buch wurde, neben Wittgensteins Tractatus, zum Ausgangspunkt der Debatten des Wiener Kreises (Stadler 1997, S. 229–251). Entstanden ist Carnaps Buch jedoch in einer Zeit, in der dieser noch nicht in Wien tätig war. Die Niederschrift erfolgte im Jahr 1925 in Buchenbach bei Freiburg; die Vorgeschichte reicht zurück bis ins Jahr 1920. Umgekehrt ist Carnap zwar erst 1926 nach Wien übersiedelt, hatte jedoch bereits 1922 und 1923 Kontakte zu späteren Logischen Empiristen wie Hans Reichenbach, Moritz Schlick und Otto Neurath aufgenommen. Carnaps Buch ist teilweise unter dem Eindruck dieser Begegnungen entstanden, und es wurde, auf Anregung von Moritz Schlick, zum Zweck der Habilitation in Wien geschrieben. Wie viel Wien oder Wiener Kreis steckt also eigentlich im Aufbau? Wie sehr spiegelt der Aufbau umgekehrt die philosophische Situation in Carnaps frühem Umfeld in Jena und Freiburg wieder? Ist der Aufbau ein Stück österreichische oder ein Stück deutsche Philosophie oder beides? Um diese Fragen auf einer soliden empirischen Grundlage beantworten zu können, wird hier das vorhandene Material ausgewertet, das die Entstehung von Carnaps Buch dokumentiert. Dabei handelt es sich, neben (a) den publizierten Texten Carnaps aus dieser Zeit, um folgende Quellen: (b) Carnaps Tagebücher und Leselisten, (c) verschiedene Briefwechsel, (d) Manuskripte und Fragmente aus den Nachlässen von Carnap, Hans Reichenbach, Moritz Schlick, Franz Roh und anderen.

In Abschn. 2.1 wird zunächst gezeigt, wie sich der Aufbau als Projekt einer „angewandten Ordnungstheorie“ gegenüber einem (eher in der von Carnap so genannten „Wissenschaftslehre“ angesiedelten) Projekt der Axiomatik physikalischer Theorien durchgesetzt hat: Carnaps lebenslanger philosophischer Standpunkt hat sich so, unter starker Mithilfe des Wiener Kreises, herauskristallisiert. Abschn. 2.2 thematisiert diese Formierungsphase erneut, diesmal unter Fokussierung auf die biographischen Hintergründe und die Frage, wann genau welche Teile des Aufbau entstanden sind, bis zur Fertigstellung der Habilitationsschrift Ende 1925. In Abschn. 2.3 wird versucht, den Aufbau inhaltlich zu rekonstruieren, auf der Grundlage der relevanten wissenschaftlichen Interaktionen und Carnaps philosophischer Lektüre, wobei der Bogen hier bis in Carnaps Studienzeit zurück gespannt werden muss. Abschn. 2.4 schließlich rekonstruiert die weitere Entwicklung des Aufbau-Manuskripts, von der Einreichung der Habilitationsschrift Ende 1925 bis zur Drucklegung im Jahr 1928.

2.1 Von der „Wissenschaftslehre“ zur „Ordnungslehre“

Bis zur Fertigstellung des Manuskripts des AufbauFootnote 2 hatte Carnap folgende Texte publiziert: die 1921 bzw. 1922 publizierte Dissertation Der Raum: Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre (Carnap 1922)Footnote 3 sowie drei Aufsätze über Themen der Philosophie der Physik (Carnap 1923, 1924, 1925).Footnote 4 In welchem Zusammenhang stehen diese bis 1925 publizierten Schriften aber zum Aufbau? In einem Brief an Heinrich Scholz vom November 1922 grenzt Carnap sein Betätigungsfeld zunächst vom traditionellen Fach der Philosophie („Ethik, Aesthetik, Religionsphilosophie, Metaphysik“) ab und beschreibt es als „nach traditioneller Benennung: Logik und Erkenntnistheorie“. Nach Carnaps Meinung

sollte der Name Philosophie dem ersten Teil [also Ethik, Ästhetik, Religionsphilosophie, Metaphysik, C.D.] allein vorbehalten bleiben, während die einzelnen Gebiete des zweiten Teils [also Logik und Erkenntnistheorie, C.D.] sich als Fachwissenschaften loslösen müssten. Wie sich vor nicht langer Zeit die Psychologie selbständig gemacht hat, so müsste jetzt folgen: die Wissenschaftslehre (als Beispiele nenne ich die Abhandlungen „Der Raum“ und „Die Aufgabe der Physik“) und die Ordnungslehre (Beispiele: „Leitfaden der Beziehungslehre“, „Dreidimensionalität des Raumes und Kausalität“, „Vom Chaos zur Wirklichkeit“). Besonders die letztere steht als Formwissenschaft der Mathematik viel näher als der Philosophie, zumal jetzt, nachdem die Mathematik einzusehen beginnt, dass ihr Gegenstand nicht die Quantität und der Raum ist, sondern bestimmte Ordnungsgefüge, die unter anderem auf Quantitäts- und Raumverhältnisse angewandt werden können. (RC 102-72-10, Rudolf Carnap an Heinrich Scholz, 11.10.1922)

Der Aufbau fällt nun, in Carnaps Einteilung, erstens nicht in die „Wissenschaftslehre“, sondern in die zweite Kategorie einer „Ordnungslehre“ (das im Brief erwähnte Manuskript „Vom Chaos zur Wirklichkeit“ ist eine Frühfassung dieses Buchs, auf die ich unten noch näher eingehe). Das ist nicht ganz einfach einzusehen, weil die Ordnungslehre ja zunächst das gesamte Fach der mathematischen Logik und der Relationstheorie umfasst: Mit dem „Leitfaden der Beziehungslehre“ meint Carnap einen Teil des 1929 publizierten Buches Abriss der Logistik (Carnap 1929). Es geht aber in der „Ordnungslehre“ in dem von Carnap hier intendierten Sinn um mehr bzw. um etwas anderes als eine rein mathematische Disziplin aus formaler Logik und Algebra. In einem ein paar Monate früher, kurz vor der Niederschrift des Manuskripts „Vom Chaos zur Wirklichkeit“, verfassten Brief an Bertrand Russell fasst Carnap diesen Umstand so zusammen:

Ich glaube, die Logistik, besonders die Beziehungslehre, auch auf dem Gebiete der Erkenntnislehre (genauer: Strukturtheorie des Erkenntnisgegenstandes) fruchtbar machen zu können, auf dem ich augenblicklich arbeite (jedoch in etwas anderer Richtung als Ihr Buch „Our Knowledge …“ das ich besitze und schätze). (RC 102-68-33, Rudolf Carnap an Bertrand Russell, 13.06.1922)

Tatsächlich umfasst also das, was Carnap „Ordnungslehre“ nennt, sowohl die im Abriss der Logistik behandelten Probleme der mathematischen Logik und Ordnungstheorie als auch bestimmte philosophische Anwendungen dieser mathematischen Theorie.Footnote 5 Im Aufbau geht es ausschließlich um diese Anwendung der mathematischen Ordnungstheorie, wodurch diese zu einer „Strukturtheorie des Erkenntnisgegenstandes“ wird.

Zweitens ist zur inhaltlichen Bestimmung des Aufbau die in dem Scholz-Brief vorgenommene Abgrenzung der Ordnungstheorie von der „Wissenschaftslehre“ bedeutsam. Carnap plante schon im Herbst 1920, gleichzeitig mit seiner (in der Tendenz, wie später der Aufbau, eher in die Richtung der „Erkenntnislehre“ gehenden) Dissertation bei Bruno Bauch,Footnote 6 eine ganz im Bereich der „Wissenschaftslehre“ angesiedelte zweite Dissertation bei Hugo Dingler.Footnote 7 Dieser auf Entwürfe vom Juni 1920 zurückgehende Plan wurde dann in das Projekt einer gemeinsamen Publikation mit Dingler transformiert, ebenfalls auf dem Gebiet der „Wissenschaftslehre“, inklusive „umständlicher mathematisch-physikalische[r] Berechnungen“. Auch der zweite Plan wurde jedoch aufgegeben, als Carnap und Dingler „[bei] einer ausführlichen Aussprache (Sept. [1921] in Jena) merkten, dass unsre Standpunkte trotz der Uebereinstimmung in wichtigen grundlegenden Fragen doch zu weit auseinander liegen“.Footnote 8 Später, 1923 und 1924, hat Carnap zwar ein ähnliches Projekt mit Reichenbach angedacht – es ging dann um eine eng an Reichenbach angelehnte Axiomatik von Zeit und Kausalität –,Footnote 9 aber auch dieses Projekt blieb weitgehend unpubliziert.Footnote 10 Einen Ansatz zur Begründung dieses am Ende nur minimalen Fokus Carnaps auf die „Wissenschaftslehre“ liefert der zuvor bereits zitierte Brief an Carnaps engen Freund, den Pädagogen Wilhelm Flitner, aus dem Jahr 1921. Der „Wechsel des Arbeitsgebiets“, weg von der „Wissenschaftslehre“, hin zur „Strukturtheorie des Erkenntnisgegenstandes“, ist, so Carnap,

zum Teil auch einer Einwirkung von Roh zuzuschreiben, der mir neulich (Du merkst: ich war in München) meine Auffassung auszureden versuchte, dass man bei der Beschäftigung mit den grundsätzlichen Fragen der Logik und Wissenschaftslehre nicht versäumen dürfe, auch mit einer Fachwissenschaft aktive Fühlung zu halten; natürlich ists ihm nicht ganz gelungen. (RC 081-48-04, Rudolf Carnap an Wilhelm Flitner, 10.12.1921, S. 6)

Auch wenn es Roh im Herbst 1921 nicht ganz gelungen ist, Carnap von einer expliziten Auseinandersetzung mit der Physik abzubringen – dieser sollte sich wie angedeutet in den folgenden Jahren (vor allem 1923 und 1924) weiter mit diversen Axiomatiken beschäftigen: Es scheint so, als habe Roh hier einen Vorschlag gemacht, dem eine besonders gute Kenntnis der intellektuellen Persönlichkeit seines Freundes Carnap zugrunde lag. Im Dezember 1925 schreibt Carnap, unmittelbar nach der Fertigstellung des Manuskripts des Aufbau, an Roh folgende offenbar an die früheren Diskussionen anknüpfenden, erleichterten Zeilen:

Vor kurzem habe ich das [Habilitations-]Gesuch [nach Wien] hin geschickt, mit dem halben MS, das ganze wird in den nächsten Tagen fertig. Ich bin froh. Bisher war noch keine Arbeit so aus meinem Herzen geschrieben wie diese (verzeih den in der Logik Dir deplaciert erscheinenden Ausdruck), wenn ich auch manche mit Freude geschrieben habe, z. B. diese, die ich mitschicke, oder noch mehr die in ihr angekündigte, noch nicht fertige Topologie (das ist die, von der die franzeske [gemeint ist wohl Franz Roh, C.D.] Legende erzählt, sie sei auf dem Krater des Vulkans geschrieben). (FRG Box 4, F2 Peters, Rudolf Carnap an Franz Roh, 18.12.1925)Footnote 11

Auch hier wieder die Frontstellung zwischen der nun eindeutig als „aus dem Herzen geschrieben“ charakterisierten Theorie des Aufbau und der zwar gelegentlich „mit Freude geschriebenen“, aber eben nicht aus dem Herzen kommenden Arbeit an der „Wissenschaftslehre“. Trotz dieser schließlich eingesehenen Präferenz für die „Erkenntnislehre“ – Carnap sollte später kaum mehr zu Problemen der „Wissenschaftslehre“ zurückfindenFootnote 12 – war der hier zu einem Ende gekommene Prozess der Erkenntnis eigener Prioritäten durchaus langwierig. Tatsächlich hat Carnap in der Zeit der Entstehung des Aufbau wesentlich mehr Zeit der „Wissenschaftslehre“ gewidmet als dem Projekt des Aufbau; die „Strukturtheorie des Erkenntnisgegenstandes“ war zunächst nur in kurzen fragmentarischen Skizzen präsent. Diese Skizzen umfassen, für die Zeit vor der Niederschrift des Aufbau (also 1920 bis 1924), folgende bisher bekannten Texte, die sich, mit Ausnahme der Dissertation und des Aufsatzes „Dreidimensionalität“, allesamt als unpublizierte Fragmente in Carnaps Nachlass finden – ich erwähne diese Texte hier vollständig, weil sie auch die (raren) Zeiten markieren, in denen sich Carnap zwischen 1920 und Ende 1924 mit dem Aufbau-Projekt befasst hat:

  1. (1)

    Im August 1920: Buchenbacher Treffen (Dahms 2016) und das daraus resultierende „Skelett der Erkenntnistheorie“, einseitiges Kurzschrift-MS (RC 081-05-04). Diese Skizze enthält wichtige Überlegungen zum Übergang vom Eigen- zum Fremdpsychischen und verweist in dem Zusammenhang auf den einschlägigen, im Aufbau jedoch nicht mehr erwähnten, Text (Sokal 1904).Footnote 13

  2. (2)

    Die Teilbereiche der Dissertation, die in das Thema fallen (1920/1921).Footnote 14

  3. (3)

    Die Skizze „Analyse des Weltbildes“, zweiseitiges Kurzschrift-MS, 27.04.1921 (RC 081-05-06), und das zweiseitige Kurzschrift-MS „Über die Analyse von Erlebnissen“ vom 11.09.1921 (RC 081-05-05). Im ersten dieser Fragmente taucht erneut das Problem des Sphärenübergangs auf sowie erstmals das später zentrale Motiv einer „Ordnung des Chaos der Empfindungen“ – ein „Stufengang des Ordnens“ wird skizziert. Das zweite Fragment liefert eine erste Skizze der später in Erlangen präsentierten und für den Aufbau grundlegend wichtigen Strukturtheorie (hier noch unter dem Titel „Beziehungslehre“).

  4. (4)

    Die Resultate eines „Seminars“, das bei Carnaps Cousin Wilhelm von Rohden an zwei Montagen (8. und 15.) im Mai 1922 in Freiburg stattgefunden hat: Manuskript „Erkenntnistheorie“, 3 Seiten (RC 110-07-54). Dieses bislang in der Sekundärliteratur unberücksichtigte Manuskript ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens weil es den ersten Entwurf eines ziemlich komplexen „Stufensystems“ enthält, wie es für den Aufbau charakteristisch ist, und weil es zweitens offenbar Anleihen am in dessen Einführung in die Erkenntnistheorie formulierten „kritischen Realismus“ von August Messer nimmt (Messer 1909), einem weiteren bislang unberücksichtigten möglichen Einfluss auf Carnaps Aufbau.

  5. (5)

    Der in der ersten Jahreshälfte 1922 entstandene, aber erst 1924 publizierte Aufsatz „Dreidimensionalität des Raumes und Kausalität“ (Carnap 1924).Footnote 15

  6. (6)

    Als Hauptvortrag der gemeinsam mit Karl Gerhards (Richardson 2016) organisierten Erlanger Tagung:Footnote 16 „Vom Chaos zur Wirklichkeit“, Typoskript, 14 Seiten, Juli 1922 (RC 081-05-01).Footnote 17 Dieses Manuskript integriert die zuvor nur informell angestellten Überlegungen in eine erste Skizze sowohl der philosophischeren Aspekte einer „Ordnung aus dem Chaos der Empfindungen“ als auch der formaleren Details der „Konstituierung“.

  7. (7)

    Ebenfalls für Erlangen: „Die Quasizerlegung“ (= Vorstufe der „Quasianalyse“ im Aufbau), Typoskript, 21 Seiten, 27.12.1922–23.01.1923 (RC 081-04-02), steht in enger Beziehung zu (6).Footnote 18

  8. (8)

    Die zweiseitige Inhaltsübersicht „Entwurf einer Konstitutionstheorie der Erkenntnisgegenstände“, entstanden 17.12.1924 und 28.01.1925, als Vorbereitung für die mit Schlick besprochene Habilitationsschrift in Wien und den ebenfalls damit im Zusammenhang stehenden Vortrag im Wiener Kreis am 22.01.1925.

  9. (9)

    Als unmittelbare Vorbereitung des zuvor erwähnten Vortrages das einseitige Kurzschrift-MS „Gedanken zum Kategorien Problem. Prolegomena zu einer Konstitutionstheorie“ (RC 081-05-03).

Carnap hat, wie aus dem Tagebuch indirekt hervorgeht, bis Ende 1924 kaum mehr Zeit einer expliziten Arbeit an der „Konstitutionstheorie“ gewidmet als die aus der obigen Aufstellung heraus zu identifizierenden Perioden: eine Woche im August 1920, einige Tage zwischen Herbst 1920 und Sommer 1921, im Juli 1922, im Dezember 1922 sowie im Jänner und Februar 1923. Auch in den hier angegebenen Phasen war Carnap mit vielen anderen Dingen beschäftigt, hauptsächlich mit diversen Freizeitaktivitäten.Footnote 19 Hat sich Carnap zwischen August 1920 und Februar 1923 zwar sporadisch, aber doch insgesamt einige Wochen mit dem Problem der von ihm später so genannten Konstitutionstheorie befasst, so fällt eine Lücke in der Beschäftigung nach der Erlanger Tagung ins Auge, die, wie es scheint, bis August 1924 dauert. Man kann diese Lücke zum Teil dadurch erklären, dass Carnap mit seiner Konstitutionstheorie bei der Erlanger Tagung nicht das Echo ausgelöst hat, das er sich erhofft hatte. Sein „Hauptreferat: Aufbau der Wirklichkeit“ hat zu einem „heftigen Kampf“ geführt, „über die ‚Bestandteile‘ des Momentanerlebnisses und die verknüpfende Beziehung Q“ (TB 09.02.1923). So hat man in Erlangen Carnaps Enthusiasmus in Sachen Aufbau-Projekt eher gebremst. Schließlich waren die Teilnehmer der Tagung mit Ausnahme Reichenbachs keine Philosophen und haben das an der Physik orientierte Projekt einer Axiomatik augenscheinlich überzeugender gefunden als den grandiosen Entwurf einer Erkenntniskritik im Aufbau. Und namentlich Reichenbach konnte mit dem Generalismus von Carnaps Aufbau und seinen späteren Schriften nie viel anfangen und hat wohl schon 1923 eher versucht, ihn vom Aufbau weg und zur Axiomatik hin zu bringen. Bei der Erlanger Tagung hat man Carnap – einschließlich einer gewissen Demotivation in Sachen Aufbau – vorgeschlagen, so vorzugehen, wie er dies in einem vier Monate nach der Tagung an Heinrich Scholz geschriebenen Brief andeutet:

Die These, dass die angewandte Strukturlehre für alle rationalen Wissenschaften eine grundlegende Bedeutung hat, ja sogar eine jede solche, wenn sie eine gewisse Stufe der Entwicklung erreicht hat, ganz umfasst, ist mir sehr wichtig. Ich glaube aber, diese These erst dann in ausführlicher Behandlung und mit Aussicht auf Verständnis darstellen zu können (bisher habe ich sie nur in meinem Erlanger Referat besprochen und noch nicht schriftlich dargestellt), wenn ein Beispiel vorliegt, das zeigt, wie die Anwendung der Struktur- (oder Beziehungs-)Lehre auf ein Gebiet einer empirischen Einzelwissenschaft aussieht. (RC 102-72-09, Rudolf Carnap an Heinrich Scholz, 13.08.1923)

Die Axiomatiken von Zeit und Kausalität, mit denen Carnap einen großen Teil seiner Arbeitszeit der Jahre 1923 und 1924 zugebracht hat, waren, wie er in dem Brief an Scholz weiter ausführt, „die erste Durchführung einer solchen Anwendung“. Carnap musste also erst den Mut finden, die Vorlagerung dieses Anwendungsbeispiels, das sich seinerseits am Ende offenbar als unrealisierbar erwiesen hat, zu verwerfen, um den Kopf erneut für die eigentliche Herzensangelegenheit frei zu bekommen. Noch im Dezember 1924 schreibt er an Schlick ausgesprochen defensiv:

Das Thema der Arbeit [einer Konstitutionstheorie der Erkenntnisgegenstände] steht seit längerer Zeit im Zentrum meines Interesses. Sie geht zurück auf einen (unveröffentlichten) Aufsatz „Vom Chaos zur Wirklichkeit“, den ich im Sommer 1922 geschrieben habe. Mein Hauptreferat im März 1923 in Erlangen war auf denselben Gegenstand gerichtet. Doch ist mir das Problem immer noch nicht genügend ausgereift. Und wenn ich es jetzt auch für die Hab.-Schrift ausarbeite, so möchte ich es doch, wenn möglich, noch nicht veröffentlichen, bis die Lösung eine besser durchgeklärte Gestalt angenommen hat. (RC 029-32-46, Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 19.12.1924)

Für Carnaps Wien-Aufenthalt im Jänner 1925 war zunächst nur ein Vortrag über die „Raum-Zeit-Topologie“, also das Projekt einer Axiomatik der Physik, geplant. Erst aufgrund des Erfolges dieses am 15. Jänner gehaltenen Vortrags wurde beschlossen, eine Woche später einen weiteren Vortrag „einzulegen“, wie Carnap später an Reichenbach schreibt, „und ich musste noch über die ‚Konstitutionstheorie‘ etwas berichten, was freilich schwierig war, weil ich selbst noch nicht recht damit fertig bin“. Quasi wider Erwarten „[begegneten] auch diese Gedanken […] größerem Interesse und vor allem Verständnis, als man es sonst in philosophischen Zirkeln erwarten kann. Die Wiener Tradition einer exakter fundierten Philosophie (Mach – Boltzmann – Schlick) tut da wohl ihre Wirkung.“Footnote 20 Im Tagebuch schreibt Carnap: „Abends Vortrag: Prolegomena zu einer Konstitutionstheorie. Schwierig und lang (½ 9 bis 10; Diskussion bis ½ 12), anregende Diskussion.“ (TB 22.01.1925) Am 27.01. notiert Carnap weitere Diskussionen mit Schlick, Waismann und Feigl (über Konstitutionstheorie) sowie Neurath („über gegenseitige Abhängigkeit der Lebensgebiete“, TB 27.01.1925).

Man kann also vermuten, dass Carnap sich bis Anfang 1925 an einer offensiven Fortführung seines Herzensprojekts dadurch gehindert sah, dass ihm die Gedanken zu unausgegoren erschienen, vor allem aber dadurch, dass er mit diesem Projekt (anders als mit der Arbeit an den rein formalen Aspekten der Logistik und Ordnungslehre sowie der Erstellung von Axiomatiken der Physik, im Sinne einer Ausdehnung der Principia Mathematica auf die Physik) keine Perspektive sah, bei seinen Zeitgenossen auf Verständnis und Interesse zu stoßen. Die Erlanger Tagung muss den Eindruck verfestigt haben. Durch die Initiative Schlicks und die überaus freundliche Aufnahme im Wiener Kreis, einschließlich einer weitgehendes Verständnis demonstrierenden Diskussion, kam dann für Carnap die Wende, und es eröffnete sich die Möglichkeit, sein Herzensprojekt über das Stadium der bloßen Vision hinaus zu entwickeln: Zur großen Überraschung und Freude Carnaps waren Schlick, Feigl, Waismann und Neurath gerade an dem Projekt des Aufbau interessiert, das ihm Reichenbach in Erlangen noch eher auszureden versucht hatte, und sie stellten mit diesem offensiven Interesse die Weichen für Carnaps weitere philosophische Entwicklung. Er verwarf letztlich die Idee, die Principia Mathematica auf die Physik auszudehnen (auch wenn er an diesem Projekt bis in die 1930er-Jahre immer wieder gebastelt hat: Es blieb am Ende unrealisiert) und wandte sich stattdessen einem davon grundlegend verschiedenen Programm der „Erkenntnislehre“ zu. Diese Wende verdankt Carnap dem Einfluss der philosophischen Avantgarde des Wiener Kreises, der, anders als die wissenschaftlich progressive, aber philosophisch eher konservative Gruppe der Erlanger Tagung, das Potenzial der „Erkenntnislehre“ Carnaps erkannt und es ihm so ermöglicht hat, sich diesem Projekt mit ganzer Kraft zu widmen.

2.2 Der Weg zur Habilitation in Wien, oder: Carnaps Weg in die Philosophie

Bevor ich auf die dem Wien-Besuch folgenden entscheidenden Monate – zu Jahresende 1925 lag das Manuskript ja fertig vor – näher eingehe, noch einige weitere, auch externe biographische Faktoren berücksichtigende Überlegungen zur Frühphase des Aufbau-Projekts, von August 1920 bis Jänner 1925. Carnap war bis in die frühen 1920er-Jahre finanziell unabhängig und nicht auf Einkommen durch eigene Arbeit angewiesen. Er stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus und heiratete 1917 Elisabeth Schöndube, Tochter eines reichen aus Deutschland ausgewanderten mexikanischen Farmers, mit der er drei gemeinsame Kinder hatte (geboren 1918, 1920 und 1922).Footnote 21 Noch im März 1923 behauptete Carnap in einem Brief an Scholz, dass es „nicht das Problem der materiellen Existenz“ sei, das ihn von der Idee einer Hochschulkarriere fernhalte, sondern nur die Aussicht, in den von ihm wenig geschätzten traditionellen Feldern der Philosophie „stecken bleiben zu müssen“. Wenn es sich ausginge, eine Stelle zu erlangen, in der er nur das von ihm intendierte Feld beackern könnte – „Geld und Titel brauchen nicht dabei zu sein“ –, „so würde ichs mir ernstlich überlegen“.Footnote 22 Die hier angedeutete finanzielle Unabhängigkeit ging jedoch bald darauf verloren. Ein Aspekt dürften Erbstreitigkeiten mit Carnaps Schwiegervater gewesen sein, der auf einer extrem ungleichen Aufteilung seines Besitzes beharrte, zugunsten der Söhne und zuungunsten der Töchter.Footnote 23 Zu bedenken ist vor allem aber, dass der zitierte Brief Carnaps zu einem Zeitpunkt unmittelbar vor der Hyperinflation in Deutschland verfasst wurde.Footnote 24 Carnap reiste von Mitte April bis Anfang Oktober 1923 nach Nordamerika und Mexiko. Von Mexiko schrieb er im August 1923 erneut an Scholz, nun in einem ganz anderen Sinn argumentierend. Bezugnehmend auf eine mündliche Aussprache, die im April, unmittelbar vor der Abreise in Kiel, stattgefunden hatte, bekannte Carnap nun, sich doch für die Universitätslaufbahn entschieden zu haben, „nicht nur“ wegen der „dort objektiv vorliegende[n] Aufgabe der Mitarbeit an einer geistigen Institution“, sondern auch aus prosaischeren Erwägungen:

Nun kommen für den Entschluss noch die äußeren Vorbedingungen in Betracht. Ich muss mir nach meiner Rückkehr eine Vorstellung von der wirtschaftlichen Lage in Deutschland und besonders ihrer wahrscheinlichen weiteren Entwicklung zu machen suchen, da von ihr teilweise meine wirtschaftlichen Möglichkeiten abhängen. (RC 102-72-08, Rudolf Carnap an Heinrich Scholz, 02.03.1923)

Anders als sein sehr pessimistisch eingestellter Schwiegervater glaubte Carnap „an die Lebenskraft des Geistigen im deutschen Volke und daher auch an den Willen und die Kraft zur Unterhaltung kultureller Institutionen, selbst in argen wirtschaftlichen Notzeiten“ (Ebd.). Carnap verwarf 1923 explizit die Optionen, in die USA (diesen Ratschlägen „möchte ich vorläufig nicht folgen“) oder nach Mexiko („gewiss nicht der rechte Boden“) auszuwandern, und sah eine Perspektive, die eigene vor der Tür stehende wirtschaftliche Notlage durch eine wissenschaftliche Karriere abzufangen. Dieser Aspekt (wie realistisch er auch immer gewesen sein mag) ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Entstehung des Aufbau. War Carnaps Selbstbildnis noch vor der Mexiko-Reise, Anfang 1923, eher das eines (nach eigener Aussage „einsiedlerischen“) Privatgelehrten, der nur zum Vergnügen mit Akademikern interagiert, so änderte die nun entstandene wirtschaftliche Lage die Rahmenbedingungen grundlegend und zwang ihn, die wissenschaftliche Beschäftigung von der bloßen Liebhaberei zum Beruf zu machen. Der konkrete Plan einer Habilitation hatte so vor allem wirtschaftliche Gründe, die nach Carnaps Rückkehr von der Mexiko-Reise zwingend wurden und blieben. Dass die prekärer werdende wirtschaftliche Lage direkt für Carnaps Projekt einer Habilitation und damit indirekt auch für die Niederschrift des Aufbau verantwortlich war, illustriert eine aus den Tagebüchern rekonstruierbare und offenbar für die gesamte Carnap-Familie eher fatale Fehlspekulation in Anlagen der Berliner Immobiliengesellschaft Mühlenau Boden-AG. Offenbar wurde sehr viel Geld in diese Anlagen gesteckt, die sich dann aber als unverkäuflich erwiesen – eine Affäre, die sich über Jahre hinzog und noch 1930 gerichtliche Nachwirkungen hatte.Footnote 25 Die Affäre hatte insofern mit Carnaps beruflicher Entwicklung zu tun, als Aussichten auf hohe Gewinne, tatsächlich aber letztlich hohe finanzielle Verluste damit verknüpft waren, die er unmittelbar in wissenschaftliche Pläne umlegte. So schrieb er im Mai 1924, als kurzfristig ein spektakuläres Angebot zum Verkauf der Aktien vorlag (das sich später als Schwindel entpuppte), sofort an Reichenbach, er habe Aussichten auf „einen Haufen Geld“, mit dem er sofort einen eigenen Verlag und eine Zeitschrift zu finanzieren gedachte.Footnote 26 Im Juli 1924 schließlich verband Carnap die Aussicht auf den bevorstehenden Verkauf der Mühlenau-Anteile (wohl zu extrem ungünstigen Bedingungen) mit der Entscheidung, nach Wien zu gehen!Footnote 27 Hätte Carnap aus der Mühlenau-Spekulation viel Geld abgeschöpft, wäre er vielleicht zum Verleger mit philosophischen Liebhabereien geworden; das Scheitern der Spekulation zwang ihn dagegen, sein Einsiedlerdasein aufzugeben und mit Habilitation und Buchprojekt ernst zu machen.

Blenden wir kurz noch ein paar Monate zurück. Carnap sah sich im Oktober 1923 erstmals in seinem Leben gezwungen, Ausschau nach einem Brotberuf zu halten, auch wenn vorläufig noch genügend Geld für das tägliche Leben vorhanden war. Da er seinen Lebensmittelpunkt auch in Zukunft in dem ideale Arbeitsbedingungen ermöglichenden Gut Wiesneck der Familie Schöndube in Buchenbach bei Freiburg sah, versuchte er zunächst die Perspektive einer Habilitation in Freiburg auszuloten, obwohl dies Carnaps früherer Lehrer Jonas Cohn bereits im Herbst 1921 als „so gut wie ausgeschlossen“ bezeichnet hatte.Footnote 28 Carnap machte dennoch einen zweiten Versuch und probierte es nach der Mexiko-Reise bei dem ungleich berühmteren und einflussreicheren Edmund Husserl, nachdem ihm auch Scholz dringend von der Trennung von der Familie abgeraten und ihm empfohlen hatte, es (nicht bei ihm in Kiel, sondern) „bei Husserl [zu] versuchen“.Footnote 29 Im Wintersemester 1923–1924 besuchte Carnap daher zunächst, mit wenig Begeisterung, Husserls Vorlesung über „Erste Philosophie“,Footnote 30 dann, vermutlich mit vermittelnder Hilfe seines Freundes, des Husserl-Schülers Bernhard Merten, ein Seminar Husserls.Footnote 31 Es stellte sich aber heraus, dass die Haltung Husserls Carnap gegenüber ablehnend war und sich auch auf dieser Seite jede Perspektive auf Habilitation als aussichtslos erwies.Footnote 32 Ebenfalls zu keinem positiven Ergebnis kamen in die Richtung einer Habilitation in Freiburg tastende erneute Gespräche Carnaps mit Cohn im Oktober 1924 (TB 01.10.1924 und 06.10.1924) sowie eine Nachfrage bei Bauch im November 1923 in Sachen einer Habilitationsmöglichkeit in Jena (TB 02.11.1923). Carnap zögerte sehr lange, Pläne einer Habilitation an einer anderen Universität als Freiburg konkreter werden zu lassen. Noch im September 1925, als er bereits intensiv an der Fertigstellung seiner Wiener Habilitationsschrift arbeitete und mit den Wienern alles in trockenen Tüchern schien, wandte sich Carnap erneut an Cohn. Trotz der „günstigen Wirkungsbedingungen“, die Carnap in Wien finden zu können glaubte (siehe unten), „würde ich Freiburg vorziehen, wenn sich hier die Möglichkeit ergäbe“.Footnote 33

Carnap sah sich also im Sommer und Herbst 1924 in der Situation, von allen Seiten Abfuhren für seine Habilitationspläne zu bekommen. In dieser Lage deutete er gegenüber Reichenbach an, dass ihm eine mögliche Habilitation in Wien sehr gelegen käme.Footnote 34 Die Reaktion war geradezu spektakulär. Hatten Husserl, Cohn, Scholz und Bauch ihn in Freiburg, Münster bzw. Jena nur abgewimmelt und Carnap auf andere Städte verwiesen, griff Schlick, seit 1922 Ordinarius für Naturphilosophie in Wien, Carnaps ihm durch Reichenbach vermitteltes Ansinnen überaus positiv auf und war sich nicht zu schade, selber brieflich den Kontakt zu Carnap in Sachen Habilitation anzuknüpfen. Dass Carnap, der ja seit 1922 mit Schlick in brieflichem Kontakt gewesen war, nicht selber mit dem Ansinnen an Schlick herantrat, sondern es durch Reichenbach übermitteln ließ, lässt beinahe den Schluss zu, er habe der Idee zunächst nicht allzu viel Hoffnung gegeben. Jedenfalls meldete sich Schlick im August 1924 brieflich bei Carnap, nachdem dieser ihn bei seiner Reise zum Wiener Esperantokongress nicht angetroffen hatte (Schlick war zu der Zeit in Längenfeld in Tirol auf Urlaub):

Herr Reichenbach teilte mir mit, dass Sie die Absicht hätten, mich aufzusuchen, und ich habe ihm daraufhin meine Adresse angegeben (es ist die obige, die bis Mitte Sept. gültig bleibt). Ich hatte aber doch das Bedürfnis, Ihnen auch direkt zu schreiben. Herr R. hat mich wissen lassen, dass Sie die Absicht haben, sich in Wien um die Habilitation zu bewerben. Ich glaube selbst, dass Sie dort einen geeigneten Boden finden würden, und eine Atmosphäre, in der Sie gern atmen. (RC 029-32-50, Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 09.08.1924)Footnote 35

Carnap reagierte auf diese bemerkenswerte Intervention des hoch angesehenen Wiener Professors positiv (leider ist der darauffolgende Briefwechsel zwischen Carnap und Schlick nicht erhalten), brauchte aber weitere vier Monate, um ein erstes Konzept der Habilitationsschrift anzufertigen. Die zweiseitige Gliederung, die er am 19.12.1924 an Schlick sandte, war nur ein erster Entwurf: „Fertig geschrieben ist noch nichts davon. In einer nur ganz vorläufigen Form niedergeschrieben sind auch nur Teile, nämlich bis jetzt: I, 1–3, 5, II, III, IV A–D 1.“ Dass er sich hier selbst mit der vagen Formulierung „in einer nur ganz vorläufigen Form niedergeschrieben“ sehr weit aus dem Fenster lehnte, wird aus einem Brief Carnaps an Flitner deutlich: „Ich fahre etwa am 9. Jan. nach Wien, und habe vorher noch allerhand zu tun, besonders auch für den Entwurf einer neuen Arbeit, die ich wahrsch. als Hab.schrift verwenden werde, von der aber noch nicht viel auf dem Papier ist.“Footnote 36 Man muss dieses „nicht viel“ wohl so interpretieren, dass das vorhandene (leider, mit Ausnahme der Gliederung, nicht erhaltene) Material vielleicht ein paar Seiten kurzschriftlicher Stichworte umfasst hat, kaum aber ein längeres Manuskript. Carnaps Plan war zunächst offenbar, in Wien einen Text einzureichen, der an Umfang kaum viel länger als das 1922er Manuskript „Vom Chaos zur Wirklichkeit“ sein sollte. Nur so kann man erklären, dass Carnap am 10. März 1925 an Flitner und Reichenbach beinahe gleichlautend schrieb, er wolle jetzt „Prolegomena zu einer Konstitutionstheorie“ schreiben und diese bis zum Beginn des Sommersemesters (das war in Wien Ende April) als Habilitationsschrift einreichen.Footnote 37

Leider sind die Briefe Schlicks an Carnap aus dieser Zeit nicht erhalten; es ist also nicht mehr zu entscheiden, ob Schlick etwa den Plan, lediglich eine kurze Broschüre („Prolegomena“) einzureichen, mit Skepsis aufgenommen hat oder ob Carnap die Latte für sich selbst ohne äußeren Anlass höher gelegt hat. Fest steht, dass Carnap selbst nach dem 10. März 1925 zunächst nur sporadisch an die Arbeit am Manuskript der Konstitutionstheorie gegangen ist. So schrieb er etwa am 28. März im Tagebuch: „Konstitutionstheorie gearbeitet. (Eigentlich heute im März erst wieder richtig angefangen.)“; am 21. April an Schlick:

Die Habilitationsschrift macht mir doch mehr Arbeit, als ich geglaubt habe, und ich werde noch einige Wochen damit zu tun haben. […] Ich hoffe, dass die Arbeit dann nicht nur dem Umfang nach, der etwa 300 Seiten betragen wird, sondern auch qualitativ sich über den ersten Entwurf hinausheben wird. (Schlick Nachlass, Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 21.04.1925)

Am 31. Mai schrieb Carnap: „Die Fertigstellung meiner Arbeit zieht sich nun immer länger hin“, am 12. Juli kündigte er an, die Arbeit „noch während der Ferien […] an Sie und zwei andere Professoren [zu] schicken, und dann zu Beginn des WS das Gesuch ein[zu]reichen“.Footnote 38 Mit der Arbeit am später eingereichten Manuskript hat Carnap jedenfalls erst im Juli 1925 begonnen. Die entsprechenden Arbeitsschritte hat er minutiös auf einem frappierenden Dokument aus Millimeterpapier dokumentiert, auf dem die täglichen Arbeitsfortschritte abzulesen sind (RC 081-05-08). Carnap hat zunächst immer die einzelnen Paragraphen in Kurzschrift formuliert und dann im Schnitt 5 bis 10 Tage später mit der Maschine ins Reine geschrieben. Das Dokument liefert außerdem folgende wichtige Informationen (in Klammer sind eventuell vorhandene Belege aus den Tagebüchern hinzugefügt):

  • Das 1925 verfasste Manuskript hat 226 Paragraphen umfasst, während die gedruckte Fassung nur aus 183 Paragraphen besteht, also offenbar um etwa ein Fünftel gekürzt worden ist (dazu Näheres weiter unten).

  • Die Arbeit an der Kurzschriftfassung wurde am 18. Juli (in Lübeck) begonnen (an diesem Tag steht im Tagebuch: „Ganzen Tag gearbeitet“) und am 23. Dezember beendet (Tagebuch: „Konstitutionstheorie fertig geschrieben“).

  • Mit Ausnahme der ersten beiden Tage in Lübeck hat Carnap ausschließlich am Anwesen der Schöndubes in Wiesneck am Manuskript und Typoskript gearbeitet.

  • Die Arbeit an der Maschinenschriftfassung wurde am 22. August begonnen (Tagebuch: „Angefangen, Arbeit zu tippen (MS ist aber noch nicht fertig)“) und am 27. Dezember fertiggestellt (Tagebuch: „Konstitutionstheorie fertig getippt“).

  • Längere Pausen in der Arbeit am Manuskript gab es nur vier, die von Carnap im Dokument auch eigens kommentiert sind: (1) gleich zu Beginn, vom 20. Juli bis zum 11. August, für Reisen nach Kiel, Flensburg und zum Esperanto-Kongress in Genf; (2) vom 13. bis zum 25. September, für die Hochzeitsfeierlichkeiten von Carnaps Schwägerin Grete Schöndube; (3) vom 14. bis zum 19. November, für eine Reise nach Leipzig und Berlin; (4) vom 26. November bis zum 5. Dezember, wegen Einreichung des Habilitationsgesuchs und „Kälte“ (Tagebuch: „Skijöring“Footnote 39).

  • An den stärksten Tagen hat Carnap bis zu acht Paragraphen verfasst (die in der Druckfassung jeweils meist knapp unter zwei Seiten umfassen). Im Schnitt hat er, rechnet man die ausgewiesenen Pausen-Tage weg, fast genau zwei Paragraphen pro Tag verfasst.

Was hat Carnap aber, wenn das Manuskript erst danach entstanden ist, in der Zeit vom März bis zum 18. Juli 1925 getan, in einer Zeit, in der er immerhin zweimal vertröstende Briefe an Schlick geschrieben hat, offenbar ohne überhaupt bereits mit dem Manuskript begonnen zu haben? In die Zeit zwischen Anfang März und Mitte Juli fällt eine längere Reise nach Leipzig und Jena (30. April bis 18. Mai). Diese Reise hatte zum Teil privaten Charakter, wurde aber auch zur Arbeit an der Konstitutionstheorie genützt sowie zu Gesprächen mit Hans Freyer, vor allem aber für einen Vortrag am Philosophischen Institut, „im Kreise von Raymund Schmidt“, bei dem Hans Driesch zugegen war, mit dem sich Carnap im Anschluss zweimal getroffen hat.Footnote 40 Vom 12. März bis zum 4. Juni, also in 85 Tagen, findet sich an 16 Tagen im Tagebuch der Eintrag „Konstitutionstheorie“, davon einmal (am 22. April) pauschal „Täglich fleißig Konstitutionstheorie“; manchmal werden konkrete Abschnitte der Gliederung des Inhalts angegeben. Carnap hat also in dieser Zeit viele Tage darauf verwendet, eine Art Vorversion zu erstellen, die er dann ab dem 18. Juli zur Ausarbeitung des endgültigen Manuskripts herangezogen hat. Dennoch war das Erstellen einer Vorversion nicht der einzige Aspekt der Arbeit dieser knapp drei Monate, wie folgende Stelle aus einem Brief an Flitner vom August 1925 nahelegt:

Unterschätzt Du beim Schreiben auch immer so die Zeit bis zur Fertigstellung wie ich? […] Ich hab jetzt noch viel Zeit mit Literaturstudium verbraucht u. bin deshalb immer noch nicht fertig mit der Hab.-schrift. Ich hab an den verschiedensten Stellen Lit.-Hinweise eingeschoben, zuweilen kritische, häufiger jedoch Hinweise auf gleiche oder ähnliche Gedanken. Ich hoffe, damit den Leser, dem das Ganze sicher fremdartig u. stellenweise unsinnig vorkommt, etwas zu besänftigen, indem er bemerkt, daß alle einzelnen Gedanken eigentlich längst schon da sind. Meine historische Abhängigkeit aufzuweisen, ist nicht der Grund; das scheint mir unwichtig. Viele meiner „Vorgänger“ hab ich auch jetzt erst, nach meiner Arbeit, kennen gelernt. (RC 115-03-35, Rudolf Carnap an Wilhelm Flitner, 18.08.1925)

In seiner Zeit in Buchenbach hat Carnap alle paar Tage Freiburg besucht, aus unterschiedlichsten Gründen. Ob er dabei auch Bibliotheken oder Buchhandlungen aufgesucht hat, bleibt oft unklar. Jedoch weist Carnap im Juli 1925 im Tagebuch siebenmal explizit auf Bibliotheksbesuche in Freiburg hin. Er hat sich da wohl mit der Literatur eingedeckt, von der in der obigen Nachricht die Rede ist. Die Zeit davor (März bis Juli) hat Carnap mit der Erstellung eines ersten Manuskriptes zugebracht, im Zuge dessen die Gesamtkonzeption auch sehr stark angewachsen ist, von den ursprünglich intendierten etwa 30 Seiten auf die am 21. April gegenüber Schlick angekündigten 300 Seiten und die in der endgültigen Fassung erreichten 566 Seiten.Footnote 41

2.3 Interaktionen und Einflüsse (1909–1925)

Mit welchen sozialen Interaktionen war Carnap in der Zeit der Entstehung des Aufbau befasst? Welche Literatur hat die Entstehung dieses philosophischen Projektes in der Frühphase geprägt? Zur Beantwortung dieser Fragen muss man zeitlich erneut weit ausholen und jedenfalls bis 1920 zurückgehen, eigentlich aber bis in Carnaps Studienzeit in Jena und Freiburg, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Dieser Punkt kann hier deshalb nur sehr summarisch behandelt werden, im Sinne des Versuchs einer Gewichtung unterschiedlicher Einflüsse, zumal gerade dieses Thema in der Literatur bereits intensiv behandelt worden ist.Footnote 42 Ich greife dabei auf teilweise bis heute wenig berücksichtigte Quellen zurück, insbesondere Carnaps Tagebücher und Leselisten.

Carnaps Weg zur akademischen Karriere verlief, wie bereits angedeutet, alles andere als geradlinig. Die Zeit seines Studiums der Physik und Philosophie (1910–1914 sowie 1918–1919)Footnote 43 in Jena und Freiburg war geprägt von diversen Aktivitäten im Umfeld der deutschen Jugendbewegung (Jenaer Serakreis und Freistudentenschaft).Footnote 44 Carnap besuchte zwar in Jena (als einer von wenigen) die Vorlesungen Freges und pilgerte in Freiburg zu Rickert – „einer unserer bedeutendsten jetzigen Philosophen in Deutschland“, wie er altklug einer Freundin mitteilte.Footnote 45 Seine Interessen lagen aber in dieser Zeit nur am Rande im universitären Leben. Der Krieg löste bei Carnap, wie bei vielen Zeitgenossen, eine Politisierung aus: Zunächst empfand er ihn naiv als „Abenteuer“, wurde gegen Kriegsende aber zum Pazifisten und Sozialdemokraten, engagierte sich vor allem 1918 und 1919 politisch. Danach erwog Carnap zunächst eine Karriere als Mittelschul- bzw. Volkshochschullehrer in der alternativen Erziehungsszene um Gustav Wyneken und absolvierte im Mai 1920 die Prüfung für das Lehramt an Höheren Schulen, für Physik, Mathematik und philosophische Propädeutik (RC 091-17-01). Erst danach fasste er eine akademische Karriere ins Auge. Im November 1920 rekapitulierte er die Entwicklungen seines Lebens seit der Heirat mit Elisabeth Schöndube im August 1917 so:

Nachdem ich zeitweise an Unterrichtstätigkeit an freien Schulen, Volkshochschulen u. dergl. gedacht hatte, mich auch in Jena praktisch darin (VHS) versucht hatte, habe ich jetzt mein Interesse der reinen Wissenschaft zugewandt und halte sie für mein eigentliches Arbeitsfeld. Mein besonderes Arbeitsgebiet ist die Philosophie der exakten Wissenschaften […] (RC 081-47-01)Footnote 46

Bis Herbst 1919 verzeichnet Carnaps im April 1909 begonnene und bis 1924 offenbar fast lückenlos geführte Liste der von ihm gelesenen Bücher mehr als 1400 Einträge, von denen nur ein verschwindend kleiner Anteil philosophische Lektüre umfasst.Footnote 47 Das meiste ist klassische und moderne Literatur sowie Schriften zu Kriegswesen, Politik, Sexualkultur, Sozialreform, Politik, Sozialismus, Pädagogik und (nicht in großem Umfang) Mathematik und Physik. Erst im September 1919 beginnt die Literaturliste (zunächst im Zuge der Vorbereitung auf die Lehramtsprüfung und die damit im Zusammenhang stehenden Abschlussarbeiten) in größerem Umfang wissenschaftsphilosophische, mathematische und physikalische Schriften zu beinhalten. Ist im August 1920 der erste Entwurf zum Aufbau entstanden, so ist dies das unmittelbare Resultat der im vorangegangenen Jahr (zunächst zur Vorbereitung auf die Lehramtsprüfung) erfolgten Lektüre Carnaps. Erst in dieser Zeit hat sich Carnap der Wissenschaftsphilosophie genähert und Schlüsseltexte von Natorp, Cassirer, Rickert, Bauch, vor allem aber von Ostwald und Poincaré sowie, im Juni 1920, Russell (RC 081-39-03) gelesen: Die Begegnung mit den Principia Mathematica war von entscheidender Bedeutung für Carnaps Hinwendung zur Wissenschaftsphilosophie im Allgemeinen und für die Entwicklung des Projekts des Aufbau im Besonderen.Footnote 48 Dass Carnaps Konzeption dennoch in wesentlichen Punkten von derjenigen Russells abweicht, ist bekannt (Pincock 2002, 2007; Richardson 1990). Anstelle eines Sinnesdatenempirismus entwirft Carnap eine Theorie, die sich auf rein strukturelle Kennzeichnungen von Begriffen stützt (Damböck 2017, S. 165–169; Friedman 1999, S. 95–101), sowie eine Rückführung von Begriffen aufeinander, die nicht den gesamten semantischen Gehalt, den „Erkenntniswert“, sondern nur den „logischen Wert“ von Begriffen umfassen soll (§ 50).Footnote 49 Ziel dieser Rückführung ist nicht die vollständige Charakterisierung eines Begriffs, sondern die Sicherstellung intersubjektiver Kommunizierbarkeit (Damböck 2017, S. 169–172; Richardson 1998, S. 186 f.). Auch ist es nicht zwingend so, dass ein „Konstitutionssystem“ im Stil des Aufbau in einer „phänomenalistischen“ Basis gründen muss: Physische Gegenstände als Grundlage wären etwa auch eine mögliche Herangehensweise (§ 59).

Für die Entwicklung dieser Konzeption haben Lektüreerfahrungen, aber auch persönliche Interaktionen, eine wichtige Rolle gespielt. So hat die Vernetzung mit den Freunden aus der Dilthey-Schule Carnap stark beeinflusst, obwohl diese Freunde – der Philosoph und Pädagoge Herman Nohl, der Pädagoge Wilhelm Flitner, der Kunsthistoriker Franz Roh und der Soziologe Hans Freyer – nicht im Gebiet der Wissenschaftsphilosophie tätig waren. Die Bedeutung von Freyer und Roh wurde in der Literatur bereits mehrfach betont (Dahms 2004; Damböck 2017, S. 209–214; 2019b; Tuboly 2019). Hier ein paar ergänzende Hinweise zum Einfluss Wilhelm Flitners (Werner 2014, 2015). Zwar waren die philosophischen Wege von Carnap und Flitner bereits um 1920 herum erkennbar auseinandergegangen: Flitner bekannte sich immer zu einer metaphysischen Weltsicht. Dennoch spielte Flitner bis Ende der 1920er-Jahre eine wichtige Rolle für Carnap als Vertrauensperson, mit der er grundlegende strategische Überlegungen zur Entwicklung seiner Philosophie ausgetauscht hat. Namentlich bei Gesprächen über Religion, von der sich Carnap im Frühjahr 1920 im Zuge seiner Hinwendung zur Wissenschaftsphilosophie abgewandt hatte (RC 081-47-01, RC 091-18-02), spielte Flitner eine wichtige Rolle als Diskussionspartner. Das ist für den Aufbau deshalb relevant, weil in dem 1925 entstandenen Manuskript offenbar Fragen der Philosophie der Religion eine weitaus wichtigere Rolle gespielt haben als in der publizierten Fassung (Näheres über die Unterschiede zwischen 1925er Manuskript und publizierter Fassung weiter unten). In einem Brief an Flitner vom Dezember 1921, auf dessen Bedeutung für die Entwicklung der Philosophie des Aufbau schon André Carus verwiesen hat (Carus 2007, S. 95–97), kritisiert Carnap die „dialektische Theologie“ von Friedrich Gogarten, derzufolge religiöse Erfahrung nur „einigen Auserwählten“ zugänglich sei, die sich darin einen völlig neuen, mit den gängigen Erfahrungen „auseinanderklaffenden“ Wirklichkeitsbereich erschließen können. Demgegenüber fordert Carnap, dass „eine vorgegebene neue Wirklichkeit […] ihr Vorhandensein durch irgend einen Zusammenhang mit der uns als wirklich geltenden Welt erweist“.

Es ist […] für mich eine Art von Postulat oder Glaubenssache, dass alles, was in irgend einem Sinne wirklich genannt werden soll, im Grunde in einem festen Zusammenhang mit meiner (einzigen) Wirklichkeit stehen muss. Ich glaube nicht an die Wirklichkeit eines Geschehens, das nicht in der Geschichte nach oben und unten in Fäden hinge […]. (RC 081-48-04, Rudolf Carnap an Wilhelm Flitner, 10.12.1921, S. 4)

Carnap stellt sich mit diesem – für den Aufbau fundamental wichtigen – „Glaubensbekenntnis“Footnote 50 auf den Boden aufgeklärter historistischer Theologen und Geisteswissenschaftler des 19. Jahrhunderts, die, von Schleiermacher und Boeckh bis Dilthey,Footnote 51 religiöse Erfahrungen als geistige Tatsachen wie alle anderen auch verstanden haben und für die, im Gegensatz zur Sichtweise Gogartens, eben kein „Auseinanderklaffen von Kulturgeschehen und Gottgeschehen“ (ebd.) existiert hätte, einfach weil religiöse Visionen Kulturtatsachen wie alle anderen sind. Genau in diesem an den Historismus anschließenden Sinn fasst Carnap Religion auch im Aufbau auf – oder er müsste sie jedenfalls so auffassen. In der gedruckten Fassung ist nurmehr eine Passage über „Glauben und Wissen“ zu finden, in der Carnap „Glauben und Intuition (im irrationalen Sinne)“ als „Lebensgebiete, nicht anders als etwa Lyrik und Erotik“ charakterisiert, über die im Rahmen der Wissenschaft kein Urteil gefällt werden kann (§ 181). In den fragmentarisch erhaltenen später gestrichenen Passagen wird jedoch klar, dass Carnap Religion auch als „geistigen Gegenstand“ aufgefasst hätte, während in der Druckfassung des Aufbau nurmehr die „Sitte des Hutabnehmens“ als wenig illustratives Beispiel für einen „geistigen Gegenstand“ zu finden ist (§ 24).Footnote 52 Das Beispiel Religion ist wichtig, weil es zeigt, dass selbst angeblich übersinnliche Erfahrungen von einem wissenschaftlichen Standpunkt nicht anders verstanden werden können als anhand der sie konkret sichtbar machenden psychischen und physischen „Manifestationen“ und deren physischen „Dokumentationen“, in der Gestalt von einschlägigen Texten und Kunstwerken etwa. So heißt es in einer der gestrichenen Passagen:

Denn es gibt keine anderen Kennzeichen geistiger Gegenstände. Wenn in gewissen Theorien die Existenz von Gegenständen (etwa Gottes) behauptet wird, über deren Beschaffenheit sich aber grundsätzlich nichts aussagen lasse, so sind solche Gegenstände nicht Erkenntnisgegenstände und gehören daher nicht in die Wissenschaft. (RC 110-07-16)

Dieses Fragment, das offenbar thematisch zu § 24 der publizierten Fassung („Manifestationen und Dokumentationen des Geistigen“) gehört, ist auch insofern aufschlussreich, als es den Zusammenhang der von Carnap geforderten empirischen Auffassung geistiger Gegenstände mit einer nicht weniger empirischen Auffassung von Verstehen (ganz in der Dilthey-Tradition: Damböck 2012, 2017, S. 181–190; Gabriel 2004, 2016) einfordert:

Die Geisteswissenschaften erkennen ihre Gegenstände […] zwar vorwiegend nicht durch diskursives Schließen, sondern durch „Einfühlung“ oder besser „Verstehen“. Aber dieses intuitive Verfahren nimmt ausnahmslos psychische oder Manifestationen oder Dokumentationen physischer Gegenstände zum Ausgangsmaterial; ein nicht durch psychische oder physische Gegenstände vermitteltes Verstehen kommt in der Praxis der Geisteswissenschaften nicht vor. (RC 110-07-16)

„Objektivität“ bedeutet im Aufbau, dass etwas in das intersubjektive Netz von aufeinander bezogenen physikalischen Tatsachen, Bewusstseinstatsachen und kulturellen Tatsachen eingegliedert werden kann. Der Aufbau liefert eine Strategie, diese Eingliederung anhand von „strukturellen Kennzeichnungen“ systematisch möglich zu machen. Dabei geht es am Ende aber immer darum, Erfahrung auf das einzuschränken, was, wie es in dem zitierten Brief an Flitner heißt, „in der Geschichte nach oben und unten in Fäden [hängt]“. Als Gegenentwurf zu dem im Aufbau verworfenen Glaubensszenario ist die Religion in ihrer irrationalistischen Lesart durch Gogarten für den Aufbau eine wichtige Kontrastfläche. Dies gilt umso mehr, als die Theologie Gogartens aus demselben irrationalistischen Umfeld der 1920er-Jahre hervorgegangen ist wie die Metaphysik Heideggers.Footnote 53 Auch Carnaps spätere Antimetaphysik wendet sich gegen die Idee, in einer metaphysischen Philosophie zusätzliche Wirklichkeitsaspekte zugänglich zu machen, die der rationalen Wissenschaft verborgen bleiben (Damböck 2018).

Diese für den Aufbau zentrale Tendenz, Bezüge auf eine mögliche Wirklichkeit außerhalb derjenigen, die der Alltagserfahrung zugänglich ist, auszuklammern, ist von entscheidender Wichtigkeit für die richtige Einordnung von Carnaps Verhältnis zu dem um 1921 herum von ihm stark rezipierten Edmund Husserl.Footnote 54 Die Phänomenologie zeichnet sich, jenseits einer Reihe von wichtigen Parallelen mit Carnaps „Strukturalismus“,Footnote 55 dadurch aus, dass sie, als säkulare Theologie, in der Gestalt der „Wesensschau“ einen Erfahrungsraum behauptet, der nicht nur grundlegend verschieden ist von der Alltagserfahrung, sondern der der wissenschaftlichen (im Unterschied zur philosophischen) Erfahrung unzugänglich ist.Footnote 56 Nur wer in der philosophischen Methode der „Wesensschau“ trainiert ist, bekommt das Wesen der Dinge überhaupt zu Gesicht, ähnlich wie bei Gogarten nur der auserwählte Gott-Schauer Gott zu Gesicht bekommt. So kann Carnaps Absage an Gogartens elitistische Theologie auch als Absage an Husserls elitistische Phänomenologie gelesen werden bzw. impliziert eine solche, obwohl Husserl von Carnap in diesem Zusammenhang nicht erwähnt wird. Der Aufbau basiert so auf einer dem Husserlschen Zugang entgegengesetzten Glaubensdoktrin: Er thematisiert nur diejenige Wirklichkeit, die wir in einem grundsätzlich jedem Bewusstsein zugänglichen Netz von allen Arten von kulturellen Erfahrungen (des Alltags, der Wissenschaft) festmachen können, ohne dabei einen zusätzlichen Raum für exklusiv philosophische (oder theologische) Erfahrungen postulieren zu müssen oder nur zu dürfen.

Die Treffen mit Husserl im Wintersemester 1923/1924 sind für Carnap karrieretechnisch ernüchternd gewesen – die Unmöglichkeit einer Habilitation im unmittelbaren geographischen Umfeld des Buchenbacher Familienanwesens wurde deutlich. Philosophisch war diese Episode für Carnap aber dahingehend ergiebig, dass er offenbar auf den Gedanken gekommen ist, seine eigene, in den Jahren davor als „Strukturtheorie der Erkenntnis“ entwickelte Konzeption auf Husserls gerade in Entwicklung befindliches (aber erst posthum als Ideen II veröffentlichtes: Husserl 1952) Projekt einer „Konstitutionstheorie“ anzuwenden. Möglicherweise hat Carnap in den von ihm im Wintersemester 1923/1924 besuchten Seminaren Husserls von diesem Projekt gehört; vielleicht hat er sogar einen Blick in das von Husserls Assistent Ludwig Landgrebe erstellte Manuskript werfen können (Mayer 1991; Rosado Haddock 2008, S. 47 f.). Wie Ideen II, und wie zahlreiche in der Bibliographie des Aufbau zu findende zeitgenössische Bücher,Footnote 57 unternimmt der Aufbau den Entwurf einer Art von umfassendem Begriffssystem, das Bezüge herstellt, zwischen unterschiedlichen „Sphären“: eigen- und fremdpsychisch, physisch, geistig, intersubjektiv. Den Aufbau, wie dies jüngst von Verena Mayer getan wurde (Mayer 2016),Footnote 58 deshalb als „Plagiat“ Husserls zu bezeichnen, ist aber aus mindestens zwei zuvor bereits angedeuteten Gründen unzulässig: Erstens konnte Carnap die Grundideen eines derartigen Begriffssystems in einer ganzen Reihe von Schriften finden, die er lange vor einer möglichen (aber nicht erwiesenen) Bekanntschaft mit dem Manuskript von Ideen II gelesen hatte; diese Grundideen standen schon lange vor der Zeit einer mutmaßlichen Konfrontation Carnaps mit Husserls Ideen II fest. Zweitens ist Carnaps Theorie nicht nur dadurch von der Husserls verschieden, dass sie die moderne formale Logik, respektive die Methode der Principia Mathematica, verwendet, sondern auch dadurch, dass sie einen dem Husserlschen entgegengesetzten erkenntnistheoretischen Standpunkt einnimmt. Carnaps „Konstitutionstheorie“ ist aus den beiden letztgenannten Gründen viel eher ein Gegenentwurf zu als eine Kopie von Husserl.Footnote 59

Demgegenüber scheint naheliegend, dass Carnap den Terminus „Konstitutionstheorie“ von Husserl entlehnt hat,Footnote 60 auch wenn er die Termini „konstituieren“ und „Konstituierung“ bereits 1922 in „Vom Chaos zur Wirklichkeit“, also noch vor der Begegnung mit Husserl, verwendet. Im Tagebuch ist der Terminus „Konstitution“ erstmals zu Pfingsten 1924, gut drei Monate nach dem Ende der Interaktionen mit Husserl, zu finden: „Vormittags mit Flitners auf den Kernberg. […] Über meine Arbeit und das Grundproblem der Konstitution gesprochen.“ (TB 08.06.1924) Gespräche mit Flitner, Roh und Jonas Cohn über Konstitution sind im Tagebuch bis Oktober 1924 weitere vier Mal verzeichnet (TB 09.06.1924, 18.08.1924, 03.10.1924, 06.10.1924). Ab November 1924 spricht Carnap dann regelmäßig davon, an der „Konstitutionsarbeit“, ab Dezember 1924 an der „Konstitutionstheorie“, zu arbeiten bzw. darüber vorzutragen oder diese zu diskutieren (TB 10.–12.11.1924, 28.12.1924, 31.12.1924, 02.01.1925, 03.01.1925, 08.01.1925, 10.01.1925, 22.01.1925, 25.–27.01.1925). „Konstitutionstheorie“ bleibt der Titel des Buches, bis Schlick im April 1926 „Der logische Aufbau der Welt“ vorschlägt, „da auch ein chemisches oder medizinisches Werk ‚Konstitutionstheorie‘ heißen könnte“.Footnote 61 Carnap fügt diesem von ihm akzeptierten Titel jedoch den Untertitel „Versuch einer Konstitutionstheorie der Begriffe“ hinzu. Bei der Drucklegung wird dieser Untertitel des von Carnap privat weiterhin nur „Konstitutionstheorie“ genannten Buchs aber ungeplanterweise vom Verleger weggelassen. Carnap bemerkt nur lapidar: „[…] ich weiss nicht, ob mit Absicht oder aus Versehen. Merkwürdigerweise hab ichs bei der Korrektur des Titelblattes gar nicht bemerkt, sondern erst nachher, als es zu spät war. Vielleicht schadet es aber nicht viel.“Footnote 62

Bevor ich noch kurz auf die Entwicklung von Carnaps Manuskript nach 1925 eingehe, eine letzte Bemerkung in Sachen wichtiger Einflüsse auf Carnaps Buch. Die Schlüsselbedeutung Russells, trotz nur teilweiser Übernahme von dessen erkenntnistheoretischer Strategie, habe ich schon betont. Bleibt noch zu bemerken, dass, aufgrund der oben angesprochenen späten Berufung Carnaps zur Wissenschaftsphilosophie, dessen frühe Begegnungen mit Frege, Bauch und Rickert mit Bedacht zu gewichten sind. Die gelegentlich von Thomas Mormann behauptete intensive, über ein Jahrzehnt dauernde Rickert-Lektüre Carnaps hat, das zeigen die Leselisten und die Tagebücher, nie stattgefunden (Mormann 2010). Rickert war in Carnaps intellektueller Entwicklung eine Randfigur, wichtig allenfalls als Kontrastfolie, von der sich Carnap, ähnlich wie im Fall Husserls, durch Umdeutung einschlägiger Schlüsselbegriffe implizit distanziert.Footnote 63 Im Fall von Bauch ist zu sagen, dass dieser von Carnap offensichtlich nur deshalb als Dissertationsgutachter ausgewählt wurde, weil er der einzige Professor war, den Carnap kannte (er hatte vor dem Krieg bei ihm Vorlesungen gehört) und der in der Lage war, einen mit anspruchsvollen Bezügen auf physikalische und mathematische Theorien gespickten philosophischen Text zu begutachten. So wandte sich Carnap, der seinen Lebensmittelpunkt zu dem Zeitpunkt längst nicht mehr in Jena hatte, an Bauch. Anders gelagert ist natürlich die Situation mit Frege, obwohl auch hier anzunehmen ist, dass der unmittelbare Einfluss Freges auf die Entwicklung des Aufbau, durch die von Carnap besuchten Vorlesungen, eher gering gewesen ist. Carnap konnte in Freges Vorlesungen die authentische Luft der formalen Logik atmen, die für ihn jedoch erst in der Begegnung mit den Principia Mathematica im Mai 1920 die für seine Philosophie später charakteristische Schlüsselrolle erlangt hat. Trotz der somit nicht allzu großen Bedeutung Freges für den Aufbau ist klar, dass dieser für Carnaps intellektuelle Entwicklung insgesamt eine sehr wichtige Rolle gespielt hat, als Vorbild in Sachen einer mathematisch-rationalen Weltanschauung (Carnap 1993, S. 7–10; Flitner 1986, S. 125–128). Dass schließlich die Marburger Schule und die Dilthey-Schule, aber auch der Wiener Kreis und der frühe Logische Empirismus, für Carnaps intellektuelle Entwicklung im Allgemeinen und für die erkenntnistheoretische Perspektive des Aufbau im Besonderen von entscheidender Bedeutung gewesen sind, hat (wie ich an anderer Stelle, in Anknüpfung an die Arbeiten von Meike Werner, zu argumentieren versucht habe: Damböck 2017, S. 183; Werner 2014, 2015) folgenden Grund. Für Carnap waren Zeit seines Lebens distanzierte Kollegen- bzw. Lehrer-Schüler-Verhältnisse intellektuell weniger wichtig als von persönlichem Vertrauen getragene intellektuelle Freundschaften. So ist der Aufbau ein Produkt der intellektuellen Netzwerke Carnaps: In mindestens ebenso großem Ausmaß wie um Resultate der Lektüre von Büchern und Aufsätzen geht es um Resultate mündlicher Diskussionen. Zu diesen intellektuellen Netzwerken gehörte zunächst der aus dem Serakreis hervorgegangene intellektuelle Zirkel um Flitner, Roh, Freyer, in dessen Umfeld das Buchenbacher Treffen stattgefunden hat, aber auch viele weitere Diskussionen und Interaktionen, die für die Entwicklung des Aufbau wichtig gewesen sind. Hinzu trat ab 1922 der Kontakt mit Reichenbach und Schlick sowie, ein Jahr später auf Vermittlung Rohs, mit Neurath. Die Bedeutung der einschlägigen Interaktionen, per Brief, aber auch bei den persönlichen Treffen anlässlich der Erlanger Tagung 1923 (mit Reichenbach), des Esperantokongresses in Wien im August 1924 und der Vorträge im Schlick-Zirkel im Jänner 1925 (mit Schlick und Neurath), kann nicht überschätzt werden. Zumindest Schlick, Reichenbach und Neurath sind logische Empiristen, die den Aufbau, trotz des relativ späten Kontakts, beeinflusst haben.Footnote 64 Der dritte intellektuelle Zirkel, der hier erwähnt werden muss, ist die Szene des Bauhauses und der Neuen Sachlichkeit, in der Carnaps Freund Roh eine Schlüsselrolle eingenommen hat.Footnote 65 Roh war es auch, der ab Anfang 1925 Carnap in den Freundeskreis um den Architekturhistoriker Sigfried Giedion und den Künstler und Fotografen László Moholy-Nagy eingeführt hat. Diese bis Ende der 1920er-Jahre intensiven und regelmäßigen Interaktionen sind, neben den Interaktionen mit Neurath, mitverantwortlich dafür, dass der Aufbau mit gutem Recht als Manifest der Neuen Sachlichkeit in der Philosophie gesehen werden kann.Footnote 66

Mit den so gewichteten Einflüssen von Russell, Frege, Rickert, Bauch und Husserl sowie Repräsentanten der Dilthey-Schule, des Marburger Neukantianismus, des Wiener Kreises und des frühen Logischen Empirismus, der Bauhaus-Szene und der Neuen Sachlichkeit sind immer noch nicht alle wesentlichen Einflüsse auf den Aufbau abgedeckt. Zwar sind die von Carnap im Literaturverzeichnis des Aufbau angeführten Schriften nur mit Vorbehalt als „Einflüsse“ zu rezipieren, weil viele davon nach Carnaps eigener Aussage erst in der Spätphase der Manuskriptentstehung berücksichtigt wurden (vgl. das Zitat aus dem Flitner-Brief am Ende des vorigen Abschnitts). Auch sind bestimmte Einflüsse von heute fast völlig unbekannten Denkern wie Richard Gätschenberger letztlich schwer einzuordnen (Tatievskaya 2014). Jedenfalls sind außer den oben genannten Einflüssen zunächst ein paar weitere wichtige Einzelfiguren zu nennen, die sich nicht direkt in die genannten Netzwerke einfügen. Dazu gehören Alfred North Whitehead, Hans Vaihinger (Carus 2007), Hans Driesch, Broder Christiansen, Hugo Dingler, Kurt Lewin, Oswald Külpe, Hans Cornelius und Franz Brentano.Footnote 67 Vor allem aber ist hier die positivistische Tradition zu nennen. Von den relevanten nicht-deutschsprachigen Philosophen hat, neben Russell, vor allem Poincaré Carnap stark beeinflusst. Es waren (zumindest quantitativ) überwiegend deutschsprachige Denker, die für Carnaps frühe intellektuelle Entwicklung wichtig gewesen sind. Hervorzuheben ist vor allem Carnaps jahrelange intensive Lektüre von Wilhelm Ostwald (Dahms 2016); aber auch Ernst Mach, Richard Avenarius, Erich Becher, Karl Gerhards, Heinrich Gomperz, Heinrich Hertz, Max Kauffmann, Josef Petzold, Johannes Rehmke, Richard von Schubert-Soldern, Wilhelm Schuppe und Theodor Ziehen (Mormann 2016; Ziche 2016) sind im weitesten Sinn der positivistischen Tradition zuzurechnende Philosophen, die Carnap studiert hat und die für die Entstehung des Aufbau wichtig gewesen sind, auch wenn diese Bedeutung im Einzelnen zum Teil noch wenig erforscht ist (Carus 2007, S. 65–69). Dass Carnaps Buch ein Dokument eben dieser positivistischen Tradition sein kann und gleichzeitig in die oben genannten Traditionslinien, einschließlich Dilthey-Schule und Marburger Neukantianismus, passt, hängt am Ende wohl einfach damit zusammen, dass all diese Traditionen Spielarten einer „wissenschaftlichen Philosophie“ darstellen, die, jenseits von späteren Entwicklungen im 20. Jahrhundert, in ihren Grundanlagen weitgehende Übereinstimmungen aufgewiesen haben.Footnote 68

2.4 Die Entwicklung des Aufbau von Anfang 1926 bis zur Drucklegung

Wie ging die Entwicklung von Carnaps Manuskript nach 1925 weiter, bis zur Publikation des Buches im Jahr 1928? Ich kann diese Periode hier nur skizzenhaft schildern und beschränke mich dabei weitgehend auf die Frage, in welcher Beziehung sich die publizierte Fassung von 1928 von der Manuskriptfassung von 1925 unterscheiden könnte. Da die Manuskriptfassung leider bis heute nicht gefunden worden ist, sind wir hier letztlich auf Spekulationen angewiesen. Fest steht, aufgrund der oben teilweise bereits zitierten überlieferten Dokumente, dass zumindest folgende Manuskriptvarianten des Aufbau, bis hin zur Druckfassung, existieren:

  1. (1)

    Auf der Grundlage der oben erwähnten zwischen 1920 und 1925 entstandenen Manuskripte und Gliederungsentwürfe, in deren Zentrum „Vom Chaos zur Wirklichkeit“ steht, hat Carnap zunächst, vielleicht schon im Herbst, wahrscheinlich aber erst im Dezember 1924, mit einem ersten Entwurf der Habilitationsschrift begonnen, den er (im Anschluss an Reisen nach Wien, München und Davos) ab März 1925 weiterbearbeitet hat. Resultat dieses Entwurfs war vermutlich eine bis Ende Juni 1925 erstellte erste Kurzschriftfassung KS0.

  2. (2)

    Von Juli bis Dezember 1925 hat Carnap auf dieser Grundlage die finale Kurzschriftfassung der Habilitationsschrift KS1 verfasst, wobei diese letztlich nur eine redigierte und (um Literaturangaben u. dgl.) erweiterte Fassung von KS0 gewesen sein mag.

  3. (3)

    Diese Kurzschriftfassung hat Carnap von August bis Dezember 1925 auf der Schreibmaschine ins Reine geschrieben. Das Typoskript TS1 bestand aus zwei Bänden, mit insgesamt 566 Seiten, von denen der erste in Wien zur Habilitation eingereicht wurde. TS1 existierte in mehreren Kopien bzw. Durchschlägen, die Carnap nicht nur der Habilitationskommission, sondern einer Reihe von Kollegen (unter anderem Broder Christiansen, Hans Reichenbach, Walter Dubislav, Otto Neurath) zur Lektüre übermittelt hat.Footnote 69

  4. (4)

    Das Typoskript TS1 hat Carnap später, zwischen Dezember 1926 und April 1927 (in Wien), stark gekürzt und teilweise ergänzt und hat auf der Grundlage dieser Bearbeitungen zwischen November 1927 und Jänner 1928 (in Davos)Footnote 70 ein weiteres Typoskript TS2 erstellt, das die Grundlage der Druckfassung bildet. Diesem Typoskript wurden im Februar und März 1928 noch eine Zusammenfassung und ein Sachregister hinzugefügt,Footnote 71 im Mai 1928 ein Vorwort.Footnote 72 Die Druckfassung ist im August 1928 im randständigen Weltkreis Verlag in Berlin erschienen, nachdem Versuche, das Buch bei renommierteren Verlagen wie Springer oder Meiner unterzubringen, gescheitert waren.Footnote 73

Leider sind, im Unterschied zu den weiter oben aufgelisteten Vorstufen und Gliederungsentwürfen, die Manuskripte und Typoskripte KS0, KS1, TS1 und TS2 offenbar nicht überliefert. Es könnte dies mit einer vermutlichen Praxis Carnaps zu tun haben, im Fall von erschienenen und damit autorisierten Büchern die Vorstufen und Manuskripte zu vernichten.Footnote 74 Allerdings sind in den letzten Jahren einige kurzschriftliche Fragmente im Nachlass Carnaps gefunden worden, die eindeutig als Teile von Vorstufen oder Manuskripten der Druckfassung des Aufbau zu identifizieren sind, deren genaue Auswertung jedoch noch aussteht.Footnote 75

Zwischen Einreichung der Habilitationsschrift und Erscheinen der Druckfassung lagen gut zweieinhalb Jahre. Was ist in dieser Zeit geschehen? Zunächst ging die Habilitation Carnaps problemlos über die Bühne. Die Kommission, der unter anderem Karl Bühler, Heinrich Gomperz, Hans Hahn, Robert Reininger, Moritz Schlick und Walter Thirring angehörten, tagte am 6. Mai 1926 und nahm Carnaps Gesuch, obwohl „die Meinungen der Kommissionsmitglieder über die bleibende philosophische Bedeutung der Untersuchungen des Habilitationswerbers naturgemäß geteilt waren“, einstimmig an.Footnote 76 Carnap übersiedelte bereits Anfang Mai 1926 nach Wien; allerdings verlief die Ankunft in dieser Stadt für Carnap emotional nicht reibungslos.Footnote 77 Zum Einen bedeutete die Übersiedlung nach Wien den Anfang vom Ende der Beziehung zu seiner ersten Frau Elisabeth. Diese Trennung zog sich aber über weitere drei Jahre hin; erst 1929 kam es zur Scheidung (obwohl Carnap zwischenzeitlich zwei Kinder mit seiner zeitweiligen Lebenspartnerin Maue Gramm gezeugt hatte, die auch mehrmals länger in Wien anwesend gewesen ist und dort durchwegs als Carnaps Ehefrau wahrgenommen wurde). Carnap fühlte sich in Wien zunächst alles andere als wohl, wegen depressiver Verstimmung aufgrund der Trennung von der Familie, aber auch wegen schwierigeren Sozialkontakten im neuen Umfeld. Außerdem wurde bei Carnap, nach vermuteten „asthmatischen Beschwerden“ im September 1926, ein Pneumothorax bzw. Tuberkulose diagnostiziert. Die Lungenbeschwerden begleiteten ihn die folgenden Jahre und erforderten mehrere längere Kuraufenthalte. Von den 24 Monaten bis Mai 1928 verbrachte Carnap so nur 10 Monate in Wien; Lehrveranstaltungen bot er nur im Wintersemester 1926/1927 (Übungen Logistik) und im Sommersemester 1927 (Übungen Logistik, Vorlesungen Konstitutionstheorie) an. Was die Entwicklung des Aufbau in dieser Zeit anlangt, so hat Carnap, zwischen etwa Dezember 1926 und April 1927, offenbar vorwiegend Kürzungen von TS1 vorgenommen und nur eine sehr geringe Zahl von (teilweise allerdings wichtigen) neuen Textstellen formuliert. Was diese neu formulierten Textstellen betrifft, so lassen sich aus den verfügbaren Dokumenten bislang im Grunde nur zwei Passagen rekonstruieren. Das eine ist eine ziemlich vollständige Kurzschriftfassung des späteren § 179, „Die Aufgabe der Wissenschaft“. Dieser Paragraph ist offensichtlich im Juni 1926 entstanden (UCLA 02, CM04).Footnote 78 Ob die in der Druckfassung darauf folgenden (und das Buch abschließenden) Paragraphen 180–183 ebenfalls in dieser Zeit entstanden sind, lässt sich aus diesem Dokument nicht erschließen; es liegt aber nahe, befinden sich doch in diesem gesamten Teil E der Druckfassung die einzigen Bezüge auf Wittgensteins Philosophie im Aufbau: dessen Verifikationismus, die Idee der Entscheidbarkeit aller Fragen usw. Die zweite in Wien hinzugekommene Passage basiert auf Diskussionen mit Neurath im November 1926 (Uebel 2016), die zunächst durch folgenden Tagebucheintrag dokumentiert sind:

Abends bei Neurath, auch Frau Reidemeister da. Neurath sagt, dass mein Buch leider in der ethischen Einstellung nicht richtig auf die wirke, für die es eigentlich geschrieben sei, weil es dem Materialismus und Realismus schärfer gegenübertritt als dem Idealismus, der doch der schlimmere Feind sei. Er spricht davon, wie die Weltanschauung der neuen Zeit aussehen wird. Der Kollektivismus müsse in meinem Buch stärker hervorkommen, der „methodische Solipsismus“ gefällt ihm nicht. (TB 21.11.1926)

Zwei Wochen später schreibt Carnap lapidar: „Angefangen mit radikaler Kürzung der Konstitutionstheorie.“ Neurath scheint insbesondere die phänomenalistische Basis sowie die mangelnde Metaphysikkritik bzw. die mangelnde Distanz zu überlieferten Philosophietraditionen kritisiert zu haben, ganz konkret aber auch die aus seiner Sicht mangelnde Hervorhebung der objektivistischen Natur des Aufbau. Hier zeigt ein Nachlassdokument eine ganz konkrete Änderung im Text, auf der Grundlage der Diskussion mit Neurath im November 1926. Neurath kritisiert dort, dass sich Carnap „leider mehr gegen Realismus als gegen Idealismus“ wendet. „Zu starke Betonung des methodischen Solipsismus.“ Auf demselben Zettel fügt Carnap eine Passage ein, die in der Druckfassung den § 176 ergänzt und mit folgender Formulierung beginnt: „Der Realismus des Physikers bleibt bestehen, nur wird er korrigiert zu einem Objektivismus.“ (RC 029-19-04)

Ohne Zweifel war Neurath ein wichtiger Einfluss für die Überarbeitung des Aufbau. Aber auch die Rückmeldungen von Schlick, Reichenbach, Dubislav, Christiansen, Feigl, Waismann, Hahn, Marcel Natkin und Felix Kaufmann, die alle entweder Carnaps Manuskript gelesen und kommentiert oder seine Vorlesung im Sommersemester 1927 besucht haben, waren für Carnap von Bedeutung, wenngleich sie sich im Manuskript wohl vorwiegend durch Kürzungen und kaum durch Hinzufügung neuer Inhalte niedergeschlagen haben.

Wie radikal die von Carnap bis April 1927 vorgenommenen Änderungen bzw. Kürzungen gewesen sind, lässt sich nur quantitativ abschätzen. Während TS1 226 Paragraphen umfasst hat, besteht die Druckfassung aus 183 Paragraphen. Geht man davon aus, dass Carnap viele Paragraphen unverändert gelassen, manche bearbeitet und einige gestrichen hat, dann muss man annehmen, dass durch bloße Streichung von Paragraphen etwa ein Fünftel des ursprünglichen Umfangs gestrichen worden ist. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Streichungen noch umfangreicher ausgefallen sind, sollte Carnap bei einigen Paragraphen Teile weggelassen haben. Eine grobe Berechnung des vermutlichen Umfangs von TS1 in Zeichen ergibt im Vergleich mit der Druckfassung die Schätzung, dass ungefähr 25 Prozent des ursprünglichen Umfangs gestrichen worden sind, was bedeuten würde, dass zusätzlich zu den ganz gestrichenen Paragraphen etwa 5 Prozent des verbleibenden Textes gekürzt worden sind.Footnote 79

Die „radikalen Kürzungen“ sind zumindest teilweise auf Wünsche der angesprochenen Verlage zurückgegangen, das Manuskript kürzer zu halten.Footnote 80 Wie viel von den ursprünglich in TS1 formulierten philosophischen Positionen Carnap für die Druckfassung inhaltlich modifiziert hat, lässt sich am Ende schwer sagen. Die oben angeführten Kritikpunkte Neuraths – alle von ihm kritisierten Aspekte sind auch in der Druckfassung zu finden – legen nahe, dass Carnap wenig an der Substanz von TS1 verändert und eher nur einen Teil der dort enthaltenen Beispiele weggelassen bzw. formale Teile gekürzt hat, mit Ausnahme der oben erwähnten Zusätze über Realismus (als Reaktion auf Neurath) und Wittgensteinschen Verifikationismus (als Resultat der Debatten im Schlick-Zirkel). Interessant ist in diesem Zusammenhang folgende im Tagebuch dokumentierte Episode aus dem März 1927, also der ersten Phase der Überarbeitung:

Letzte Übung Logistik. Mit Waismann und Feigl und Natkin essen. Sie fragen nach verschiedenen Abschnitten der Konstitutionstheorie und bei beinahe allen sage ich, dass gerade diese gestrichen werden sollen; sie sind entsetzt. Waismann meint, ich soll mehr den Text überall kürzen und dafür solche Abschnitte retten. (TB 04.03.1927)

Nachmittags kommt Schlick. Wir überlegen wegen Konstitutionstheorie; die Kürzung vieler wichtiger Abschnitte scheint sehr schade. Wir wollen versuchen, das MS doch ungekürzt irgendwo unterzubringen, vielleicht mit Geldbeihilfe. Schlick glaubt sicher, dass das irgendwie gelingt. (TB 06.03.1927)

Leider ist es nicht gelungen, das Buch ungekürzt zu publizieren. Der 1927 begonnene Kürzungsprozess wurde in den Wintermonaten 1928 in Davos finalisiert, als Carnap einen Kuraufenthalt wegen seiner erneut akut gewordenen Tuberkuloseerkrankung zur Fertigstellung des Druckmanuskripts TS2 nutzen konnte. Er schrieb darüber an Flitner:

Also ich bin jetzt hier oben [in Davos], für das ganze Semester. Schlecht geht’s mir aber nicht. Doch riet der Arzt, lieber jetzt die Sache gründlich auszukurieren, als mit halber Besserung nach Wien zu gehen. Zum Glück kann ich hier arbeiten, sodass für mich keine Gefahr besteht, von der Zauberberg-Atmosphäre betäubt und verschlungen zu werden. Ich habe jetzt die (vor 2 J. geschriebene) Konstitutionstheorie überarbeitet und gekürzt (auf 20 Bogen). Nächste Woche wird sie hoffentlich ganz fertig sein und an den Verleger zum Druck abgehen. (RC 115-03-43, Carnap an Flitner, 10. Jänner 1928)Footnote 81

Es ist nicht anzunehmen, dass zwischen dem verlorenen Typoskript TS1 und der Druckfassung (mit Ausnahme der erwähnten kleineren Ergänzungen) grundlegende philosophische Unterschiede bestehen. Eine wichtige Änderung gegenüber TS1 ist dennoch zu konstatieren. Sie betrifft das im Mai 1928 hinzugefügte Vorwort. Einen Tag nach der Niederschrift dieses Vorwortes schreibt Carnap im Tagebuch:

Abends mit Waismann bei Neurath. Ich lese das Vorwort zum „Logischen Aufbau“ vor. Neurath ist erstaunt und höchst erfreut über mein offenes Bekenntnis. Er meint, dass das auf junge Menschen sehr anziehend wirkend muss. Ich sage, dass ich Schlick noch fragen will, ob es zu radikal und exponierend ist. (TB 26.05.1928)

Tatsächlich rät Schlick vier Tage später, „das Vorwort zu mildern“ (TB 30.05.1928). Ob Carnap aufgrunddessen Änderungen am Vorwort vorgenommen hat, lässt sich nicht mehr sagen. Fest steht aber, dass das Vorwort – deshalb Neuraths erfreute Reaktion – neben der 1929 erschienenen Programmschrift und Carnaps antimetaphysischen SchriftenFootnote 82 der wichtigste Ausdruck der im Kern politischen „Wissenschaftlichen Weltauffassung“ des „linken Flügels“ des Wiener Kreises (Uebel 2004) ist. Umso bemerkenswerter ist daher, dass das Vorwort nicht nur aus Diskussionen Carnaps mit Neurath hervorgegangen ist, sondern das unmittelbare Resultat des Austauschs mit der Bauhaus-Szene ist. Nach einem Treffen mit Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker in Frauenkirch bemerkt Carnap im Februar 1928: „Mit S[igfried] G[iedion] über Parallelität unsrer Philosophie mit der neuen Architektur usw. gesprochen (Zurückgehen auf die Elemente, Betonen des Handwerksmäßigen, Objektivität, Solidität).“ (TB 24.02.1928)Footnote 83 Diese Feststellung reiteriert Carnap im letzten Absatz des drei Monate später geschriebenen Vorworts (S. XVf.).

2.5 Resümee

Der Aufbau ist ein Buch, das mit sehr konkreten philosophischen Zielsetzungen verfasst wurde. Eine Strukturtheorie der Begriffe, deren Zweck darin besteht, die eine empirische Wirklichkeit zugänglich und intersubjektiv kommunizierbar zu machen, um damit gleichzeitig alle Konstruktionen auszuscheiden, die Wirklichkeitsbereiche behaupten, die jenseits dessen liegen, was die Alltagserfahrung als „in der Geschichte nach oben und unten in Fäden [hängend]“ erweisen kann. Mit dieser erkenntnistheoretischen Theorie dient der Aufbau den politischen Zielen der „Wissenschaftlichen Weltauffassung“ des linken Flügels des Wiener Kreises und stellt gleichzeitig eine (vielleicht die wichtigste) Spielart der Neuen Sachlichkeit in der Philosophie dar. Die Erkenntnistheorie des Aufbau wurzelt also in politischen, ethischen und ästhetischen Ideen, die für die jeweiligen Reformbewegungen dieser Zeit charakteristisch sind. Historisch sind diese Bezüge eingebettet in eine Reihe von Anknüpfungen an die empiristische Philosophie Russells, den Marburger Neukantianismus, die Dilthey-Schule, die Phänomenologie Husserls und die positivistische Tradition in Deutschland. Diese sehr weit gestreuten Bezüge sollten jedoch nicht dazu verleiten, den Aufbau, wie es manchmal geschieht, als ein rein eklektisches Buch zu identifizieren. Viele der Bezüge, die im Literaturverzeichnis des Aufbau hergestellt werden, sind, wie Carnap dies in dem oben zitierten Brief an Flitner vom August 1925 offen bekennt, erst nachträglich von ihm entdeckt und dem Buch einverleibt worden, um „den Leser, dem das Ganze sicher fremdartig u. stellenweise unsinnig vorkommt, etwas zu besänftigen, indem er bemerkt, daß alle einzelnen Gedanken eigentlich längst schon da sind“. Die Grenzen zwischen dem, was den Aufbau wirklich beeinflusst hat, und dem, was nachträglich als Beleg für historische Erdung hinzugetreten ist, sind fließend. Wo sie genau zu ziehen sind, kann dieser Aufsatz nicht im Detail angeben. Sein Ziel war nicht eine genaue Grenzbestimmung in allen systematischen und historischen Richtungen, sondern das Zeichnen einer groben Skizze der hier relevanten Zusammenhänge, unter Einschluss des ganzen Spektrums vom biographischen Hintergrund bis zur inhaltlichen Charakterisierung des Aufbau.

2.6 Nachlassdokumente

Die im Text zitierten Nachlassdokumente stammen aus folgenden Nachlässen und werden, wenn möglich, anhand der entsprechenden Kürzel plus Signatur zitiert:

  1. (1)

    Archives of Scientific Philosophy, Hillman Library, University of Pittsburgh:

    1. (a)

      Carnap Papers – Signatur (RC Box-Mappe-Dokument)

    2. (b)

      Reichenbach Papers – Signatur (HR Box-Mappe-Dokument)

  2. (2)

    Rudolf Carnap Papers (Collection 1029). UCLA Library Special Collections, Charles E. Young Research Library – Signatur (UCLA Box, Mappe)

  3. (3)

    Franz Roh Papers. Getty Research Library. Los Angeles – Signatur (FRG Box X, FY)

  4. (4)

    Nachlass von Moritz Schlick. Wiener Kreis Archiv, Noord-Hollands Archief, Haarlem/NL.

  5. (5)

    Nachlass Jonas Cohn. Salomon Ludwig Steinheim Institut für Deutsch-Jüdische Geschichte. Universität Duisburg-Essen.

  6. (6)

    Nachlass Hans Driesch. Universitätsbibliothek Leipzig.

Die Tagebücher und Leselisten Carnaps zitiere ich auf der Grundlage der gerade im Entstehen befindlichen Edition (Carnap im Erscheinen) – Signatur (TB Datum).