Zusammenfassung
Wir wollen die Frage diskutieren, was von einem Existenzbeweis in der Mathematik erwartet werden darf. Darf man erwarten, daß ein Objekt, das die Existenzbehauptung erfüllt, explizit angegeben wird, oder muß man damit zufrieden sein, daß nur gezeigt wird, daß es ein erfüllendes Objekt „an sich“ geben muß? Es geht also um die Frage, welche Information der Existenz-Quantor ∃x (gelesen: es existiert ein x) liefern kann und soll.
„ … Come l’araba fenice, Che vi sia ciascun lo dice
… Dove sia … nessun lo sa.“
[… damit ist es wie mit dem arabischen Phönix; daß
es ihn gibt, sagt jeder, aber wo er ist, weiß niemand.]
Lorenzo Da Ponte /Wolfgang Amadeus Mozart:
Così fan tutte, 1. Akt, Szene1, Nr. 2: Terzetto.
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Notes
- 1.
Dedekind hatte dies am 1. Dez. 1873 bewiesen und Cantor mitgeteilt. Cantor gelang daraufhin am 7. Dez. 1873 der Beweis, daß die Menge aller reellen Zahen überabzählbar ist und publizierte beide Resultate in Crelles Journal (Bd. 77 (1874), S. 258–262) unter seinem eigenen Namen. Den Namen Dedekinds erwähnte er an keiner Stelle. Dedekind war von Cantors Verhalten enttäuscht, protestierte aber nicht öffentlich.
- 2.
Das Wort spielt an Eris, die griechische Göttin der Zwietracht, an. Der Sage nach warf sie, weil sie nicht zur Hochzeit der Thetis eingeladen war, einen goldenen Apfel mit der Aufschrift „der Schönsten“ unter die Hochzeitsgäste. Dadurch kam es zum Streit zwischen Aphrodite, Athene und Hera. Sie wählten Paris zum Schiedsrichter. Er entschied sich für Aphrodite, die ihm Helena versprochen hatte. Mit Aphrodites Hilfe entführte er Helena. Daraus entstand der Sage nach der Trojanische Krieg.
- 3.
Auf die These von David Hilbert (1899, 1900) und Henri Poincaré (1902), daß Existenz im mathematischen Sinne nichts anderes als Widerspruchsfreiheit bedeute, wollen wir nicht eingehen, da sie vermutlich etwas anderes meint als sie dem Wortlaut nach auszusagen scheint. In welcher Sprache dürfen die Aussagen formuliert sein, deren Widerspruchsfreiheit behauptet wird? Aus der Widerspruchsfreiheit würde sich bestenfalls nur die Existenz der fraglichen Objekte in einer Erweiterung (!) der untersuchten Struktur (des untersuchten Modells) ergeben. Vergleiche dazu Paul Bernays, op. cit., und Jacqueline Boniface , op. cit.
- 4.
R. Argand: ‚Réflexions sur la nouvelle théorie des imaginaires, suivies d’une application à la démonstration d’un théorème d’Analyse‘, Annales de Math. de Gergonne 5 (1814/1815), S. 197–209.
- 5.
L. Euler: ‚Recherches sur les racines imaginaires des équations‘, Mémoires de l’Acad. Sci. de Berlin (1749), S. 222–288. Nachdruck in den ‘Opera Omnia’ I,6 (1921), S. 78–147.
J.L. Lagrange: ‚Oeuvres‘, Paris 1867–1892, Band III, S. 479–516. Siehe auch Pierre Samuel: ‚Algebraic Theory of Numbers‘, Paris 1972, S. 44–45.
P.S. Laplace: ‚Leçons de Mathématique données à l’École Normale‘, : École polytechn., sept. et huitième Cahier, Band 2 (Paris 1812), S. 1–278 (dort: S. 56–58).
C.F. Gauss: ‚Demonstratio nova altera theorematis omnem functionem algebraicam rationalem integram unius variabilis in factores reales primi vel secundi gradus resolvi posse‘, 1815, Nachdruck in Band III der Werke (Göttingen 1876), S. 31–56.
- 6.
Von „Körpern“ hat zuerst Richard Dedekind 1871 gesprochen. Ohne Verwendung dieser Bezeichnung traten Körper zuerst bei Gauss (1801), Evariste Galois (1830) und Leopold Kronecker (circa 1850) auf. Gauss hat jedoch schon 1801 den Begriff der Kongruenz zweier Zahlen eingeführt und die Rechengesetze festgestellt, die dem Rechnen in Kongruenzen zugrunde liegen.
- 7.
n-äre Formen sind Polynome in n Variablen x1, … , xn mit Koeffizienten aus einem kommutativen Körper K, in denen alle Summanden die gleiche Exponentensumme haben.
- 8.
Beweise findet man in van der Waerden: Algebra II (Berlin 1959), S. 61, oder Emil Artin: Algebraische Geometrie, Vorlesung Hamburg 1962, Seite 5.
- 9.
Wenn n eine hundert-stellige Zahl ist, dann müßte man aufgrund des Primzahlsatzes etwa \( \sqrt{\mathrm{n}} \)/ln(\( \sqrt{\mathrm{n}} \)) ≈ 8.1047 Primzahlen testen, ob sie Teiler von n sind. Selbst eine elektronische Rechenmaschine, die 1012 Divisionen pro Sekunde (also 3.1019 Divisionen pro Jahr) ausführen kann, würde im allgemeinen mindestens 1028 Jahre benötigen.
Literatur
Baire, René – Borel, Émile – Hadamard, Jacques – Lebesgue, Henri: ‚Cinq lettres sur la théorie des ensembles‘, Bulletin de la Société Math. de France, Band 33 (1905), pp. 261–273. Nachdruck in Émile Borel: ‚Leçons sur la théorie des fonctions‘, Paris 1911 (2. Auflage), pp. 150–160.
Becker, Oskar: ‚Mathematische Existenz, Untersuchungen zur Logik und Ontologie mathematischer Phänomene‘. Halle a.d. Saale 1927 [Sonderdruck aus dem ‚Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung‘, Band 8 (1927), pp. 441–809].
Beeson, Michael: ‚Foundations of Constructive Mathematics: Metamathematical Studies‘, Springer Verlag Berlin 1985.
Bernays, Paul: ‚Mathematische Existenz und Widerspruchsfreiheit‘, Etudes de Philosophie des Sciences, Hommage à F. Gonseth, Neuenburg/Schweiz, Édition du Griffon 1950. Nachdruck in ‚P. Bernays, Abhandl. zur Philosophie der Mathematik‘, Wiss. Buchgesellschaft Darmstadt 1976, pp.92–106.
Bishop, Erret: ‚Foundations of Constructive Analysis‘, McGraw-Hill, New York 1967.
Boniface, Jacqueline: ‚Hilbert et la notion d’existence en mathématique‘. Librairie Philosophique J. Vrin, Paris 2004.
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Hilbert, David: ‚Gesammelte Abhandlungen‘, Band 2, Springer Verlag Berlin 1933.
Knorr, Wilbur R.: ‚Construction as Existence Proof in Ancient Geometry‘. Ancient Philosophy 3 (1983), pp. 125–148.
Peckhaus, Volker: ‚Impliziert Widerspruchsfreiheit Existenz? Oskar Beckers Kritik am formalistischen Existenzbegriff‘. In: ‚Oskar Becker und die Philosophie der Mathematik‘ (V. Peckhaus, Herausgeber), Wilhelm Fink Verlag München 2005, pp. 79–99.
Thiel, Christian: ‚Becker und die Zeuthensche These zum Existenzbegriff in der antiken Mathematik‘. In: ‚Oskar Becker und die Philosophie der Mathematik‘ (V. Peckhaus, Herausgeber), Wilhelm Fink Verlag München 2005, pp. 35–45.
von Freytag gen. Löringhoff, Bruno: ‚Zur Seinsweise der mathematischen Gegenstände‘, Deutsche Mathematik 4 (1939), pp. 238–240.
Zeuthen, Hieronymus G.: ‚Die geometrische Konstruktion als „Existenzbeweis“ in der antiken Geometrie‘. Mathematische Annalen 47 (1896), pp. 222–228.
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Felgner, U. (2020). Das Problem der nichtkonstruktiven Existenzbeweise. In: Philosophie der Mathematik in der Antike und in der Neuzeit. Birkhäuser, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-030-35934-8_17
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Publisher Name: Birkhäuser, Cham
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