Wir haben in Abschn. 1.2.1 aus dem d’Alembert’schen Prinzip (1.131) durch eine komplizierte Berechnung die Bewegungsgleichungen der Lagrange’schen Mechanik hergeleitet. Es ist anzunehmen, dass sich für den Sonderfall eines im statischen Gleichgewicht befindlichen Systems eine einfachere Beziehung als (1.131) ergibt.
Wenn sich das System im statischen Gleichgewicht befindet, dann besitzen alle seine Elemente (z. B. Teilchen, Bauelemente) die Beschleunigung null, d. h. es gilt
\( \overrightarrow {{\ddot{x}_{i} }} = 0 \) für alle
N Elemente des Systems. Damit gelten unter der Voraussetzung zeitlich unveränderlicher Massen für jedes Element des Systems auch die folgenden Beziehungen für die
beschleunigende Kraft und deren
virtuelle Arbeit:$$ m_{i} \cdot \overrightarrow {{\ddot{x}_{i} }} = \frac{\text{d}}{{{\text{d}}t}}\left( {m_{i} \cdot \overrightarrow {{\dot{x}_{i} }} } \right) = \frac{\text{d}}{{{\text{d}}t}}\overrightarrow {{p_{i} }} = \overrightarrow {{\dot{p}_{i} }} = \overrightarrow {{F_{i} }} = \overrightarrow {0} \,{\text{und}}\,\overrightarrow {{\dot{p}_{i} }} \, {\scriptstyle\bullet} \,\delta \overrightarrow {{r_{i} }} = \delta W_{i} = 0. $$
Da die letztgenannte Gleichung für jedes Element des Systems gilt, ist auch die Summe dieser Terme null:
\( \sum\limits_{i = 1}^{N} {\overrightarrow {{\dot{p}_{i} }} \, {\scriptstyle\bullet} \,\delta \overrightarrow {{r_{i} }} } = 0 \). Wir erkennen, dass deshalb die Beziehung (
1.131), die wir für das d’Alembert’sche Prinzip erhalten haben, für ein System im statischen Gleichgewicht tatsächlich in einen Sonderfall übergeht:
$$ 0 = \sum\limits_{i = 1}^{N} {\left( {\overrightarrow {{F_{i}^{e} }} - \overrightarrow {{\dot{p}_{i} }} } \right)\, {\scriptstyle\bullet} \,\delta \overrightarrow {{r_{i} }} } = \sum\limits_{i = 1}^{N} {\overrightarrow {{F_{i}^{e} }} \, {\scriptstyle\bullet} \,\delta \overrightarrow {{r_{i} }} } - \underbrace {{\sum\limits_{i = 1}^{N} {\overrightarrow {{\dot{p}_{i} }} \, {\scriptstyle\bullet} \,\delta \overrightarrow {{r_{i} }} } }}_{0}, $$
$$ \sum\limits_{i = 1}^{N} {\overrightarrow {{F_{i}^{e} }} \, {\scriptstyle\bullet} \,\delta \overrightarrow {{r_{i} }} } = 0. $$
(1.205)
Die letztgenannte Gleichung ermöglicht folgende
Interpretationen: -
Die gesamte von den eingeprägten Kräften verrichtete virtuelle Arbeit ist null.
-
Da sich für konservative eingeprägte Kräfte mit (1.21) die Beziehung \( 0 = \sum\limits_{i = 1}^{N} {\left( { - \frac{{\partial V_{i} \left( {\overrightarrow {{r_{i} }} } \right)}}{{\partial \overrightarrow {{r_{i} }} }}} \right)\, {\scriptstyle\bullet} \,\delta \overrightarrow {{r_{i} }} } = - \sum\limits_{i = 1}^{N} {\delta V_{i} \left( {\overrightarrow {{r_{i} }} } \right)} = - \delta \sum\limits_{i = 1}^{N} {V_{i} \left( {\overrightarrow {{r_{i} }} } \right)} = - \delta V \) ergibt, ist die gesamte potenzielle Energie des Systems extremal (in der Regel minimal).
Bei Systemen im statischen Gleichgewicht befinden sich außer den Kräften auch die Drehmomente im Gleichgewicht.
Um die
Bedingung des Momentengleichgewichts zu erfüllen, wird der Gedankengang, der zu (
1.205) geführt hat, analog auf Momente bei virtuellen Verdrehungen übertragen:
-
Bei virtuellen Verdrehungen ist die gesamte von den Zwangsmomenten verrichtete virtuelle Arbeit null.
-
Im Momentengleichgewicht ist die gesamte von den eingeprägten Momenten verrichtete virtuelle Arbeit null.
Bei Verwendung generalisierter Koordinaten können die beiden Bedingungen einzeln oder gemeinsam betrachtet werden, da diese Koordinaten unabhängig voneinander sind. Wir verwenden im anschließend vorgestellten Beispiel 1.20 folgende spezielle Fassung des d’Alembert’schen Prinzips für Systeme im Gleichgewicht:
Im Gleichgewicht ist die gesamte von den eingeprägten Kräften und Momenten verrichtete virtuelle Arbeit null:
$$ 0 = \sum\limits_{i = 1}^{N} {\left( {\overrightarrow {{F_{i}^{e} }} \, {\scriptstyle\bullet} \,\delta \overrightarrow {{r_{i} }} + \overrightarrow {{M_{i}^{e} }} \, {\scriptstyle\bullet} \,\delta \overrightarrow {{\varphi_{i} }} } \right)} . $$
(1.206)
Dabei geben wir die Verschiebungen und Verdrehungen in Abhängigkeit der generalisierten Koordinaten und der Zeit an, um analog zu (1.129) die virtuellen Verschiebungen und die virtuellen Verdrehungen für alle \( i \in \left\{ {1,\; \ldots ,\;N} \right\} \) zu bestimmen:
Verschiebungen: \( \overrightarrow {{r_{i} }} = \overrightarrow {{r_{i} }} \left( {q_{1} ,\; \ldots ,\;q_{s} ,\;t} \right) \),
Verdrehungen: \( \overrightarrow {{\varphi_{i} }} = \overrightarrow {{\varphi_{i} }} \left( {q_{1} ,\; \ldots ,\;q_{s} ,\;t} \right) \),
virtuelle Verschiebungen: \( \delta \overrightarrow {{r_{i} }} = \sum\limits_{j = 1}^{s} {\frac{{\partial \overrightarrow {{r_{i} }} }}{{\partial q_{j} }} \cdot \delta q_{j} } + \frac{{\partial \overrightarrow {{r_{i} }} }}{\partial t} \cdot \delta t = \sum\limits_{j = 1}^{s} {\frac{{\partial \overrightarrow {{r_{i} }} }}{{\partial q_{j} }} \cdot \delta q_{j} } \),
virtuelle Verdrehungen: \( \delta \overrightarrow {{\varphi_{i} }} = \sum\limits_{j = 1}^{s} {\frac{{\partial \overrightarrow {{\varphi_{i} }} }}{{\partial q_{j} }} \cdot \delta q_{j} } + \frac{{\partial \overrightarrow {{\varphi_{i} }} }}{\partial t} \cdot \delta t = \sum\limits_{j = 1}^{s} {\frac{{\partial \overrightarrow {{\varphi_{i} }} }}{{\partial q_{j} }} \cdot \delta q_{j} } \).