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De_formatio_ne corporis oder: Unbilden des Körpers

Natologische und topologische Aspekte der Lacan’schen Psychoanalyse

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Part of the book series: Abhandlungen zur Philosophie ((ABPHIL))

Zusammenfassung

Der Aufsatz sondiert Konsequenzen, die sich aus der Feststellung, dass für Lacan Geometrie und Topologie auseinanderklaffen, für seine Auffassung des Körpers ergeben: Die Geometrie geht vom Auge aus und von der Perspektive, ihr entgeht der Blick, insofern, was sie erblickt, stets eine bestimmte Gestalt ist (und sei sie auch verzerrt), ein Eines; sie verfehlt (bzw. exkludiert bewusst) die Gestalt als Fehlen, als Mangel: die Form, wobei unter Form topologisch das Ensemble jener Eigenschaften von Körpern zu verstehen wäre, die ungeachtet der Veränderung ihrer jeweiligen Gestalt (vulgo Verformung) gleich bleiben. Als Anamorphose etwa weist solche Verformung jenen Bezug zum Fehl/Mangel an Gestalt auf, um den es Lacan geht: Es bedarf eines Lochs – de facto oder im übertragenen Sinn (was den Blickwinkel betrifft) –, d. h. der Kastration, −ϕ (minus phi), um sie zu erblicken. Worum es Lacan also geht, ist – sit venia litterae – „Verphormung“. Er führt die Form/Phorm (–ϕ als „tätowiertes Phallusphantom“) mit dem einzigen Zug/trait unaire – dem un des Unbewussten – zusammen und bringt sie mit dem Subjekt als Zählendem in Verbindung: Als Zählen ist die Form/Phorm nicht Gestalt bzw. Bild (das Eine), sondern „Gestalt*funktion“. An diese, so Lacan, sollte man sich in allen Fragen der Topologie streng halten. Das will besagen: Sie wirft Formen ab, die man ungeachtet ihrer darstellungsbedingten (geplätteten) Ähnlichkeit mit (natürlichen) Gestalten nicht für das Wahre halten darf. Während Gestalten unveränderlich sind in dem Sinn, dass ihre Verformung eine jeweils andere Gestalt (mit neuen Eigenschaften) zeitigt, ergibt die Verformung von topologischen Figuren (Formen) keine Veränderung ihrer jeweiligen Eigenschaften. Bei einer Gestalt ist klar/eindeutig, was innen und was außen ist (was Figur und was Hintergrund); topologische Figuren sind Formen, deren Innen auch ihr Außen ist und vice versa. Ob Innen und Außen mit Blick auf den Torus nun Begriffe der Struktur oder der Form sind (in Kohärenz mit dem oben Gesagten: Begriffe der Phorm oder der Gestalt), hänge, so Lacan weiter, davon ab, welche Konzeption vom Raum man habe; es gebe sicherlich eine Wahrheit des Raums, die jene des Körpers sei, welcher seinerseits auf dieser Wahrheit gründe. Insofern Lacan diese torische Dialektik von Innen und Außen in eins mit dem Körper und seiner Wahrheit sowie mit der Asymmetrie von Signifikant und Signifikat verknüpft (welche freilich rätselhaft bleibe), kehrt an dieser Stelle auch die Beziehung zum (Seins-)Mangel und damit zur Kastration, zum −ϕ wieder, m. a. W.: der Vorrang der Phorm/Struktur vor der Gestalt, oder in der Terminologie des Beitrags gesprochen: des Un-Bilds vor dem Bild.

Die Tatsache, dass die Kette, die unbewusste Kette beim Verhältnis der Eltern Halt macht, ist begründet oder nicht, Verhältnis des Kindes zu den Eltern.

(Lacan 2009 , S. 15)

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Notes

  1. 1.

    Für die Geburt als biologische Tatsache, d. h. als Gegenstand naturwissenschaftlicher Betrachtung, gilt das freilich nicht oder nur insofern, als Geburt schon früh als nur noch biologisches Phänomen interpretiert worden ist, dass also eine gewisse semantische und ideelle Engführung vonstattengegangen ist, die die Themen möglichen Wissens und möglicher Wissenschaft eindeutig zugeteilt und disziplinär verortet hat: Geburt ist ein Thema für die Naturwissenschaft, nicht aber für die Geisteswissenschaften.

  2. 2.

    In einem Brief an Jochen Wagner, zitiert im Programmfolder zur Tagung Auf Leben und Tod. Philosophische Passagen um Jacques Derrida (Evang. Akademie Tutzing, 20.–22. März 1998).

  3. 3.

    Dessen ungeachtet – d. h., ohne dass er deswegen die Natur als Ursprung o. Ä. ansetzen würde – spricht Lacan „von früh bis spät“, von den ersten bis zu den letzten Seminaren, von der Natur als „Lieferantin“ der so verstandenen differenziellen Formen/Signifikanten; vgl. z. B. Sem IV (dt. Lacan 2011, 54–57), Sem XI (dt. Lacan 1987, 26 und 112 f.), Sem XXIV (12. Sitzung vom 17.05.1977: „Unsere Signifikanten werden stets empfangen“, frz. Lacan 2009).

  4. 4.

    Dieser Text entstand im Rahmen des vom Österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung/Austrian Science Fund (FWF) geförderten Forschungsprojekts „Topographien des Körpers“ (P25977-G22).

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Boelderl, A.R. (2020). De_formatio_ne corporis oder: Unbilden des Körpers. In: Kadi, U., Unterthurner, G. (eds) Macht - Knoten - Fleisch. Abhandlungen zur Philosophie. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04957-5_8

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