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Kollektive Fürstin AKP oder EU?

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Part of the book series: Globale Politische Ökonomie ((GPÖ))

Zusammenfassung

Als im November 2002 turnusgemäß die Parlamentswahlen stattfanden, hatte die Türkei die Talsohle der Wirtschaftskrise bereits durchschritten und erste politische Liberalisierungen im Zuge des Nationalen Programms zur Adoption des Aquis Communautaire waren in Kraft getreten. Die Regierung aus konservativ-liberaler ANAP, sozialdemokratisch-kemalistischer DSP und faschistischer MHP hatte sich in der vorangegangenen Legislaturperiode zu weiteren politischen Liberalisierungen verpflichtet (siehe Abschn. 7.7). Auch der Kurs der türkischen Wirtschaftspolitik war durch das mit dem IWF vereinbarte GEPG-Programm (siehe Abschn. 7.4) auf Jahre hinaus festgelegt. Über das EU-Projekt – das politische Reform und Neoliberalisierung im Sinne des GEPG-Programms miteinander verband – bestand ein weitgehender Elitenkonsens. Vor diesem Hintergrund bildeten die Wahlen vor allem die Möglichkeit, ein Votum über die Regierung abzugeben – nicht aber über den grundlegenden politischen Kurs. So schien es zumindest.

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Notes

  1. 1.

    Obwohl bereits 1923 gegründet, war die auch die CHP seit ihrer Schließung nach dem Putsch von 1980 und auch nach ihrer Neugründung 1992 nicht mehr im Parlament vertreten gewesen.

  2. 2.

    Die kemalistisch-sozialdemokratische CHP (einzige Oppositionspartei im Parlament) und zahlreiche Angehörige innerhalb der Bürokratie und des Militärs begegneten der Partei auf Grund ihres Ursprungs innerhalb der Milli Görüş Bewegung mit offener Ablehnung und sahen in ihr eine islamistische Partei, die ihre islamistische Identität taktisch gekonnt verbarg.

  3. 3.

    Ferner gab es eine fragmentierte türkische Linke mit begrenztem Einfluss vor allem auf die linken und säkularen Gewerkschaften. Im kurdischen Raum war die Lage seit der Inhaftierung Öcalans (1999) und dessen Aufruf an die PKK, ihren Kampfe gegen türkische Sicherheitskräfte einzustellen, nicht mehr von offenem Bürgerkrieg, wohl aber von gewaltförmigen Spannungen geprägt, während die PKK eine Periode der Schwäche und inneren Reorganisation durchlebte (vgl. McDowall, 2004, 442).

  4. 4.

    Dies galt dabei auch im umgekehrten Sinne: Eine schwache Entwicklung des Baussektors oder gar dessen Schrumpfung korrelierte mit einem geringen Wachstum des BIP beziehungsweise dessen Rückgang.

  5. 5.

    Im Falle einer einfachen parlamentarischen Mehrheit hätten sie nach der Verfassung der wahlberechtigten Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden müssen.

  6. 6.

    Inwieweit der Druck durch ebendiese Bewegung ausschlaggebend war, kann allerdings bezweifelt werden, denn das EU-Projekt wurde von der Mehrheit der gesellschaftlichen Eliten ohnehin als zentral betrachtet (siehe Kap. 7 und 8). Gesetzesänderungen, welche die Rechte von Frauen stärkten, können daher im Kontext der Gesamtkonstellation der späten 1990er und der 2000er Jahre nur bedingt als Erfolge der Frauenbewegung erklärt werden. Zum Bild einer liberalen und aufgeklärten AKP trugen sie gleichwohl nicht unerheblich bei (exemplarisch: ESI, 2007).

  7. 7.

    Selbst die EU-Kommission, die mit ihren sogenannten Türkei-Fortschrittsberichten im Wesentlichen den Neoliberalisierungsprozess überwacht (das Gros der Berichterstattung betrifft nicht etwa die Implementierung demokratischer Grundrechte, sondern Adoption des gemeinsamen ökonomischen Besitzstandes), bemängelte in ihrem Bericht von 2007, dass weder die Rechtslage noch die Rechtsprechung im Einklang mit den Richtlinien von EU und der International Labor Organization (ILO) ständen (vgl. Gehring, 2009a, 88; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2007, 22).

  8. 8.

    Mit der von Niccolò Machiavelli entlehnten Metapher des Fürsten beschreibt Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften (1991 ff.) die zentrale Rolle der modernen (revolutionären) Partei bei Schaffung eines neuen popularen Konsenses.

  9. 9.

    Bezeichnenderweise gelang es der Gülen-Bewegung in einem erheblichen Maße, den akademischen Diskurs über politischen Islam in der Türkei gerade in den westlichen Staaten zu beeinflussen. So wiesen zahlreiche wissenschaftliche Publikationen erhebliche Intertextualitäten zu den Narrativen der Bewegung auf (exemplarisch: Yavuz, 2003). Die hegemoniepolitischen Erfolge der Bewegung in den USA wurden in säkularen Segmenten der türkischen Gesellschaft argwöhnisch beäugt.

  10. 10.

    Die Farbgebung ‚grün‘ ist in diesem Kontext nicht zufällig gewählt, symbolisiert diese Farbe doch den Islam.

  11. 11.

    Der Präsident der Republik hatte laut Verfassung vom Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt zu werden, wobei zwischen AKP und CHP umstritten war, ob dies zwei Drittel der Stimmen oder der Abgeordneten meinte. Im dritten Wahlgang reichte die absolute Mehrheit. Die CHP blieb bereits dem ersten Wahlgang weitgehend fern und argumentierte vor dem Verfassungsgericht, das mindestens zwei Drittel der Abgeordneten am ersten Wahlgang hätten teilnehmen müssen. Das Verfassungsgericht gab der Argumentation der CHP statt.

  12. 12.

    Besonders prominente Vertreter_innen dieses Diskurses, der damals bis weit in die kemalistisch-sozialdemokratische CHP wirkmächtig war, waren die Zeitungen Sözcü und Aydınlık sowie der ehemalige Maoist Doğu Perincek.

  13. 13.

    Interessanterweise hatte die kemalistisch-sozialdemokratische CHP in den neunziger Jahren nie Alleinregierungen gestellt, sondern ihre de facto Vorgängerin DSP war als Koalitionspartnerin an Regierungen beteiligt gewesen. Diese Regierungen hatten sich ironischerweise aus jenen konservativ-liberalen Parteien gebildet, die nunmehr in der AKP aufgegangen waren. Wichtige Teile der AKP waren also selbst jenen ‚alten Eliten‘ entsprungen, die gerade auch vom populistischen Diskurs der AKP gezielt mit den Entbehrungen der neunziger Jahre assoziiert wurden.

  14. 14.

    2002 waren beinahe 50 % aller Stimmen an Parteien gegangen, die die 10 Prozenthürde verpasst hatten. Das erklärt, warum die AKP damals mit einen Wahlergebnis von etwa einem Drittel der Stimmen fast zwei Drittel der Mandate erhalten hatte.

  15. 15.

    Die Besetzung des Präsidentenamts durch Abdullah Gül, war ein einschneidendes Ereignis – ungeachtet der Tatsache, dass es eine wichtige Rolle bei der Auswahl der höchsten Justizposten spielte, waren allerdings weiterhin zahlreiche AKP-kritische Richter im Amt, die noch von seinem Amtsvorgänger Necdet Sezer berufen worden waren. Und so sollten in den folgenden Jahren auch weiterhin einzelne Gesetze vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben werden. Auch wenn die Richtung der Transformation nunmehr klar schien, blieb die Justiz damit für die Regierung eine Baustelle und nicht zuletzt sollten im Zuge einer Verfassungsreform im Jahr 2010 weitere Änderungen im Rekrutierungsmechanismus erfolgen (siehe Abschn. 8.5).

  16. 16.

    In Folge des – von der griechischen Junta unterstützten – Putsches auf Zypern im Jahr 1974, auf den die Türkei mit einer Invasion auf Zypern reagiert hatte, erstreckt sich die effektive Souveränität der Republik Zypern nur über den griechisch besiedelten Süden der Insel. Im seit der Teilung überwiegend türkisch besiedelten Norden Zyperns übt die Türkische Republik Nordzypern (Kuzey Kıbrıs Türk Cumhuriyeti) seit ihrer Proklamation 1984 eine international nur von der Türkei anerkannte Souveränität aus.

  17. 17.

    Das Beitrittsbegehren der Türkei nahmen die Regierungen Österreichs und Frankreichs zum Anlass, etablierte Prozeduren bei der Aufnahme von Staaten in Frage zu stellen. Die Erfüllung der Konvergenzkriterien allein sollte nicht mehr reichen – das letztinstanzliche Votum sollten Volksentscheide haben. In Deutschland wird seit der Abwahl der Koalition aus Sozialdemokratischer Partei Deutschlands (SPD) und Grünen im Jahr 2005 nicht mehr von Beitrittsverhandlungen mit dem Ziel der Aufnahme der Türkei gesprochen. Die ihr nachfolgenden Regierungen reden stattdessen von „Ergebnisoffenheit“ (exemplarisch: Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 2005, 151).

  18. 18.

    Inwieweit überhaupt eine Korrelation zwischen Realitätsgehalt der Beitrittsperspektive und Durchführung von EU-Reformen unter der AKP bestand, ist für jene Perspektiven, die auf eine glaubwürdige politische Beitrittskonditionalität der EU gegenüber der Türkei pochen, von zentraler Bedeutung. Aber auch hier weist zum Beispiel Saatçioğlu (2010) auf eine weitaus stärkere Korrelation der EU-Reformen mit den machtpolitischen Opportunitätskosten der AKP hin: Solange die EU-Reformen die Stellung der AKP in den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen stärkten, waren rege Reformaktitivitäten zu verzeichnen gewesen, obgleich die Beitrittsperspektive auch damals zweifelhaft gewesen war. Nachdem die AKP ihre Position konsolidiert hatte und weitere Reformen mit hohen machtpolitischen Opportunitätskosten verbunden waren, kam es zu einer deutlichen Verlangsamung des EU-Reformprozesses – eine Korrelation zwischen EU-Reformen und Beitrittsperspektive ist also nicht nachweisbar. In diesem Sinne hatte die AKP – so betont Saatçioğlu – die EU-Reformen ungeachtet der (geringen) Glaubwürdigkeit der Beitrittsperspektive primär aus machtpolitischen Gründen vollzogen. Es kann daher in Frage gestellt werden, inwieweit für die führenden AKP-Akteur_innen jemals eine reale Aussicht auf einen türkischen EU-Beitritt ausschlaggebend gewesen war.

  19. 19.

    Kalaycıoğlu (2011, 268) spricht an dieser Stelle gar vom Wechsel weg vom semiparlamentarischen hin zum semipräsidentiellen System, da der Präsident nunmehr seit der Verfassungsänderungen von 2007 direkt von der wahlberechtigten Bevölkerung zu wählen war.

  20. 20.

    Insbesondere die hohen Eigenkapitalquoten, die türkische Banken seit der Krise von 2001 vorzuhalten hatten, galten als vorbildlich und ermöglichten so auch konservativen Anleger_innen Geschäfte.

  21. 21.

    Im Jahr 2003 waren türkische Privathaushalte mit 8 Mrd. Türkischer Lira verschuldet gewesen – 2010 waren diese Verbindlichkeiten auf 159 Mrd. gestiegen. Das heißt ihr Anteil am BIP war von weniger als 5 % des BIP auf mehr als 15 % des BIP gestiegen (vgl. Babacan, 2012, 26).

  22. 22.

    57 % der langfristigen Schulden des Privatsektors in Höhe von 120 Mrd. US$ waren dabei im Jahr 2010 gegenüber ausländischen Banken (vgl. Babacan, 2012, 23 f.).

  23. 23.

    Dies bedeutet gleichwohl nicht, das auf dem Höhepunkt der Krise auf markökonomischer Ebene keine Gefahr einer Kapitallücke bestanden hätte oder zumindest nicht von den Akteur_innen befürchtet worden wäre – 2008 waren immerhin Portfolioinvestionen in Höhe von netto 5 Mrd. US$ abgeflossen (vgl. Gümüş et al., 2013, 213). So verkaufte die Türkische Zentralbank Devisen in Wert von 5,9 Mrd. US$ und die Summe der Kapitalzuflüsse unbekannten Ursprungs (net errors and omissons) schnellte in der Kapitalbilanz auf (offiziell) 14,3 Mrd. empor. Um die Herkunft dieser ominösen Gelder ranken sich eine Reihe von Spekulationen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Dennoch ist ihre Bedeutung nicht zu unterschätzen, hatte doch die Türkei bereits die Bedingungen für einen IWF-Kredit ausgehandelt, auf den sie nun verzichten konnte (vgl. Babacan, 2012, 12). Diese net errors and omissons die bis zum Antritt der AKP 2002 relativ gering geblieben waren und positive wie negative Werte hatten, sind in AKP-Periode durchgehend positiv und ansteigend. Auch noch im Jahr 2011 beliefen sie sich auf 11,4 Mrd. US$, was 1,5 % (!) des (offiziellen) BIP entsprach (vgl. Subaşat, 2015, 9).

  24. 24.

    Türkische Banken hatten ihre Kredite vorwiegend auf dem türkischen Markt an Unternehmen und Privatkund_innen vergeben, die mindestens der Mittelschicht angehörten. Der türkische Finanzmarkt war dabei in den 2000er Jahren so profitabel gewesen, dass kein Anreiz bestanden hatte, in Übersee Kredite oder Kreditverbriefungen von zweifelhafter oder unbestimmter Bonität zu erwerben, die sich nach 2007 als nicht performend beziehungsweise toxisch herausstellten (vgl. Öztürk, 2011, 215).

  25. 25.

    Auf Grund des hohen Importanteils der türkischen Ökonomie stellen Jahre starken Wirtschaftswachstums zugleich Jahre mit besonders hohen Handelsbilanzdefiziten dar. Umgekehrt nehmen in Krisenjahren die Defizite in aller Regel ab.

  26. 26.

    So gab das Generalsekretariat der TÜSİAD zum Beispiel für das Jahr 2012 an, dass die in „seinem“ Verband organsierten Firmen 50 % der Wertschöpfung, 65 % der Industrieproduktion und (mit Ausnahme von Energie) 80 % des Außenhandels erwirtschafteten und dabei 50 % der registrierten Beschäftigung sowie 80 % der Unternehmenssteuern generierten (vgl. TÜSİAD, 2015, Online).

  27. 27.

    Im Turkish Industrial Strategy Document 2011–2014 wird eingangs darlegt, von welchen Organisationen, privatwirtschaftlichen Verbänden und Regierungsbehörden das Dokument erarbeitet wurde: „The Industrial Strategy Paper for Turkey draws upon various studies, including the Ninth Development Plan with the contribution and involvement of the State Planning Organization Undersecretariat, Undersecretariat of Treasury, Undersecretariat for Foreign Trade, Secretariat General for EU Affairs, Ministry of Finance, Revenues Administration, Ministry of National Education, Ministry of Energy and Natural Resources, Ministry of Environment and Forestry, Ministry of Labor and Social Security, Ministry of Transportation, Investment Support and Promotion Agency, the Scientific and Technological Research Council of Turkey (TÜBİTAK), Information and Communication Technologies Authority, Small and Medium Industry Development Organisation (KOSGEB), Turkish Patent Institute, Turkish Standards Institution (TSE), Turkish Accreditation Agency, The Union of Chambers and Commodity Exchanges of Turkey (TOBB), the Confederation of Turkish Tradesmen and Craftsmen, Turkish Industrialists’ and Businessmen’s Association (TÜSİAD), Istanbul Chamber of Industry, Gaziantep Chamber of Industry, Kocaeli Chamber of Industry, Economic Development Foundation, Economic Policy Research Foundation of Turkey (TEPAV), and other relevant industrial organizations and NGO, and taking into account the evaluations and contributions of the members of the Permanent Committee for the Development of Industrial Competitiveness.“ (Republic of Turkey Ministry of Industry and Trade, 2010, 18).

  28. 28.

    Obgleich es die Zollunion der Türkei mit der EU insgesamt äußerst positiv im Hinblick auf Handelsvolumen, Marktzugang für türkische Produkte und Qualitätssteigerung durch Wettbewerbsdruck diskutiert, formulierte das Strategiedokument Kritik an der Handhabung der Zölle gegenüber Drittstaaten, mit denen die EU Freihandelsabkommen geschlossen hatte: Während die Türkei im Rahmen der Zollunion die in diesen Abkommen kodifizierten Einfuhrzölle übernehmen musste, bestand seitens der Drittstaaten keine Verpflichtung der Türkei die gleichen Präferenzen einzuräumen, die sie im Rahmen der Freihandelsabkommen der EU gewährten (vgl. Republic of Turkey Ministry of Industry and Trade, 2010, 70 ff.). Aus diesem Problem heraus sollte in den folgenden Jahren das Bestreben der türkischen Regierung konstituieren, dem TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) direkt beizutreten: Im Falle einer unveränderten Fortführung der Zollunion der Türkei mit der EU, würde die Türkei keinen verbesserten Zugangs zu den transatlantischen Märkten bekommen, müsste aber selbst Importen aus dem transatlantischen Raum einen solchen einräumen. Als direkte Vertragspartei käme sie dagegen in den Genuss eines verbesserten Marktzugangs. Diesem Ziel der türkischen Regierung, dem in Verhandlung befindlichen TTIP als direkte Vertragspartei beizutreten, wurde Anfang 2015 stattgegeben, nachdem sie in den Monaten zuvor mit einer Auflösung der Zollunion gedroht hatte (vgl. Eraz in Daily Sabah 11.11.2014; Erkuş in Hürriyet Daily News 06.12.2014). Hinter der Drohung sich handelspolitisch von der EU abzuwenden, hatte letztlich ein Interesse an tieferer euroatlantischer Handelsintegration der Türkei gesteckt, um auf diesen Märkten nicht diskriminiert zu werden. Bezeichnenderweise diskutiert sie es als „Update der Zollunion“ nicht aber als Beitritt zum TTIP, was es im Eigentlichen darstellt.

  29. 29.

    Diese Verbindung zwischen Kapitalakteur_innen und politischen Akteur_innen auf der Ebene des gesellschaftlich umkämpften Prozesses der Regulation macht es überhaupt erst möglich, von so genanntem ‚anatolischem‘ oder ‚grünen‘ Kapital beziehungsweise ‚säkularem‘ Kapital zu sprechen. Kennt Kapital als solches keine Religion, so gilt doch festzuhalten: Die verschieden Fraktionen haben im Prozess ihrer Genese ihre ökonomischen Interessen in Gestalt unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Projekte prozessiert. Eine Ausnahme bilden gleichwohl Firmen, die sich als solche direkt im Besitz Islamischer Orden befinden. Ihnen fehlt auf Grund ihrer Eigentumsstruktur eine derartige Flexibilität. Sie stellen im strengen Sinne des Wortes Grünes Kapital dar.

  30. 30.

    Selbst zahlreiche Arbeitslose beziehungsweise Unterbeschäftigte sahen in den 2000er Jahren vor dem Hintergrund der nominalen Wachstumsraten die allgemeine ökonomische Lage als gut an und den Moment, an dem auch sie partizipieren würden, noch kommen. Jene Angehörigen der sich kemalistisch definierenden Mittelschichten schätzen vor dem Hintergrund der Kultur, Bildungs- und Kaderpolitiken der AKP ihre eigenen Aussichten deutlich schlechter ein. Das von der AKP organisierte klassenübergreifende Bündnis vom gläubigen Pauper bis zur laizistischen Großindustriellen hatte sich gerade vor dem Hintergrund der Melange aus Wirtschaftswachstum und tiefen kulturellen Cleavages als außerordentlich zugkräftig erwiesen. Entgegen eurozentrisch Rezeptionen von Hegemonie, die letztere am Grad fordistischer Homogenisierung messen, gilt zu betonen, dass gerade eine solche kulturelle und soziostrukturelle Heterogenität die Ankerpunkte von Hegemonie ausmacht (vgl. Babacan/Gehring, 2013).

  31. 31.

    Das 2005er Agreement hatte das 2002 noch mit der DSP-ANAP-MHP-Koalition geschlossene Stand-by-Agreement abgelöst, welches das GEPG-Programm begleitete. Die AKP-Regierung hatte sich damit verpflichtet den von ihrer Vorgängerin ‚geerbten‘ Verpflichtungen zumindest für die nächsten drei Jahre weiter fortzuführen (vgl. Arconian, 2013).

  32. 32.

    Genau darüber waren die Verhandlungen mit dem IWF über ein weiteres Stand-by-Agreement (zur Unzufriedenheit der TÜSİAD) gescheitert: Der IWF hatte auf eine strengere Kontrolle der kommunalen Haushalte bestanden und auf eine Erweiterung der Besteuerungsgrundlage gedrängt. Beiden Wünschen hatte sich die türkische Regierung verweigert (vgl. Arconian, 2013, 134).

  33. 33.

    Letzteres tat der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan in einer Weise, die tendenziell über das hinausreicht, was mit dem Begriff der Richtlinienkompetenz umschrieben werden kann. Erdoğan entstammte der Milli Görüş Bewegung, in der sich den siebziger Jahren und bis zur Gründung der AKP 2001 engagiert hatte. Von März 1994 bis November 1998 hatte für den damaligen politischen Arm der Bewegung – die islamistische Refah Partisi (RP) – das Amt Bürgermeisters von İstanbul bekleidet. Aus dieser Zeit stammen seine Verbindungen zu eben diesen Kapitalfraktionen.

  34. 34.

    Dies heißt nicht, dass sie eine derartige Rolle nicht auch schon vor Beginn der 2007/2008 einsetzenden Krise gespielt hatten. Staatliche Stimuli spielten im Grundsatz immer eine Rolle, diese aber wuchs mit nachlassender privatwirtschaftlicher Dynamik.

  35. 35.

    Beispielweise wird die TUSAŞ-Türk Havacılık ve Uzay Sanayii A.Ş. (TUSAŞ Aerospace Industries, Inc.) zu 54,49 % von Türk Silahlı Kuvvetlerini Güçlendirme Vakfı (Stiftung zur Stärkung der Türkischen Streitkräfte) und zu 45,45 % vom Untersekretariat für Rüstungsindustrie gehalten (vgl. TUSAŞ, Online). Primär ist die staatlich forcierte Schaffung einer türkischen Rüstungsindustrie für komplexere Rüstungsgüter allerdings keine Erfindung der AKP, sondern geht (von ersten Versuchen im Spätosmanischen Reich einmal abgesehen) hauptsächlich auf die siebziger Jahre und die damals sehr ausgeprägte Konkurrenz mit Griechenland zurück.

  36. 36.

    Eine grundsätzliche Aufgabe des seit den 1960er Jahren betriebenen EU-Projektes stand allerdings nie zur Debatte, fußte doch die Zollunion der Türkei mit der EU und daraus folgend weite Teile des türkischen Wirtschaftsrecht historisch eben darauf (siehe Abschn. 6.3). Es kann vereinfacht gesagt werden: Während die Zollunion den türkischen Neoliberalismus als solchen extern verankerte, legten die danach folgenden Reformen (Nationales Programm etc.) konkretisierten sein Gestalt in Richtung Post Washington Konsensus (siehe Abschn. 7.4). Die Zollunion als solche stand für alle Kräfte innerhalb des Machtblocks außer Frage.

  37. 37.

    So hatte zum Beispiel Ali Babacan, in der ersten Legislaturperiode der AKP als Wirtschaftsminister maßgeblich die Regulierung der Ökonomie nach dem Washington-Konsensus betrieben. 2007 löste er den zum Präsidenten gewählten Abdullah Gül als Außenminister ab. Nach der Ernennung des Islamisten Ahmet Davotuğlu zum Außenminister im Mai 2010, wurde Babacan stellvertretender Ministerpräsident und hatte damit keinen eigenen explizit ausgewiesenen Geschäftsbereich mehr. 2015 verlor er auch diesen Posten.

  38. 38.

    Spätestens seit dem Scheitern des Verbotsverfahren gegen die AKP 2008 (siehe Abschn. 8.2), den laufenden Ergenekon-Ermittlungen sowie den daraus folgenden Verhaftungswellen und juristischen Verfahren (siehe Abschn. 8.3), konnte von der Existenz konkurrierender kemalistischer Machtzentren innerhalb der Staatsapparate effektiv ohnehin nicht mehr die Rede sein.

  39. 39.

    Die de jure Möglichkeit der Klageerhebung war de facto vollkommen wirkungslos, da die Mitglieder der Junta entweder bereits verstorben oder hochbetagt und daher verhandlungsunfähig waren.

  40. 40.

    Abdullah Gül war als Präsident de jure parteilos, aber ein Gründungsmitglied der AKP.

  41. 41.

    Bis dahin hatte die Justiz eine ausgeprägte Autonomie in der Rekrutierung ihres Spitzenpersonals gehabt. Nicht zuletzt deshalb hatte sie innerhalb des Machtblocks ein konkurrierendes Zentrum bilden können, dessen Rekrutierungsmechanismen sich dem unmittelbaren Zugriff der AKP entzogen hatten. Für die AKP stellte diese Spielart der Gewaltenteilung eine Form bürokratisch-kemalistischer Bevormundung des Volkswillens dar, den sie selbst als gewählte Partei verkörpere (vgl. Gehring/Karatepe, 2011).

  42. 42.

    Die externen Regulierungsagenturen (Zentralbank, etc.) haben im Grunde keine eigenen Machtressourcen und Mittel, um ihre Entscheidungen durchzusetzen. Sie sind auf eine unabhängige Justiz angewiesen, welche die juristische Bindekraft ihrer Entscheidungen bestätigt. Ein stärkerer politischer Einfluss auf die Justiz kann daher mittelbar auch eine stärkere Politisierung der ökonomischen Regulierung durch die Exekutive ermöglichen.

  43. 43.

    Die AKP hatte 49,83 % der abgegebenen Stimmen erreicht und damit 3,17 Prozentpunkte hinzugewonnen; die CHP steigerte ihren Anteil um 5,13 % auf 25,98 %, die MHP erzielte ein Ergebnis von 13,01 %, womit sie 1,28 % verlor; das kurdisch- und türkisch-linke Wahlbündnis Emek, Demokrasi ve Özgürlük Bloku (Block der Arbeit, Demokratie und Freiheit) stellte unter Führung der kurdisch-linken BDP (Barış ve Demokrasi Partisi, dt. Partei für Frieden und Demokratie) 65 Kandidat_innen auf, von denen 29 gewählt wurden (vgl. YSK.gov.tr, 2011, Online). Mit diesem Ergebnis entfielen auf die AKP 327 von 550 Mandaten.

  44. 44.

    Diese häufig als Davutoğlu-Doktrin bezeichnete außenpolitische Identität flankierte zudem politisch eine Entwicklung, die sich bereits seit den 2000er Jahren auf ökonomischer Ebene andeute: Die türkische Industrie hatte ihre Export in Richtung der Staaten des arabisch-mediterranen Raumes aber auch in den Iran und in den Irak stärker gesteigert als in Richtung der EU, die gleichwohl weiterhin den größten Absatzraum für türkische Produkte darstellten. Hatte sich der Anteil der EU an den türkischen Exporten noch 2005 auf 56,5 % belaufen, so war dieser bis 2012 auf 39 % gesunken. Demgegenüber hatte der Export in den Nahen und Mittleren Osten im gleichen Zeitraum seinen Anteil von 13,9 auf 27,8 % ausgebaut. Beispielsweise war allein gegenüber dem Irak das Handelsvolumen bis 2010 auf sechs Milliarden US-Dollar angestiegen, während es 2002 (noch zur Zeit der internationalen Sanktionen gegen den Irak) noch nicht einmal offizielle Zahlen gab (vgl. Müftüler-Baç/Gürsoy, 2010, 418). Diese Entwicklung war durch die Krise der europäischen Ökonomien seit 2008 beschleunigt worden. Nach dem Ausbruch der Rebellionen im Jahre 2011 sowie der sich zum Teil daraus entwickelnden Bürgerkriege in einigen der arabisch-mediterranen Staaten, brachen die türkischen Exporte in diese allerdings wieder ein und der Trend schien sich nicht mehr fortzusetzen. An ihre zwischenzeitlich hohen BIP-Wachstumsraten von 9,2 % in 2009, 8,8 % in 2010 (berechnet in nominalen Preisen) konnte die Türkei nicht mehr anknüpfen (Quelle: TUİK, gesichert im Oktober 2015).

  45. 45.

    So spottete Rainer Herrman, Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in İstanbul, am 25 Mai 2013 über Kritik an der Alkoholgesetzgebung mit einem Artikel, den er mit „Das Ayran-Komplott“ betitelte, wie folgt: „Gut 1200 renommierte Nichttrinker aus 53 Staaten lauschten dort Erdogans Eröffnungsrede. Dieser kündigte zusätzliche Maßnahmen seiner Regierung zur Bekämpfung des Alkoholkonsums an und stellte fest, das Nationalgetränk der Türkei sei ohnehin nicht Raki (…), sondern Ayran (…). Solche an sich harmlosen Meinungsäußerungen bringen zuverlässig die sich kemalistisch nennende Opposition in Wallung. Denn Kemal Atatürk, Gründer der modernen Türkei, war nicht nur energischer Reformer, sondern auch ein dem Raki ergebener Alkoholiker“. Bis zum Ausbruch der Revolte sollten da nur noch wenige Tage vergehen.

  46. 46.

    2010 hatte es in der Kleinstadt Hopa am Schwarzen Meer bei Protesten gegen ein Staudammprojekt in Folge des massiven Einsatzes von Tränengas seitens der Polizei sogar einen Toten gegeben, obgleich es sich bei den Demonstrierenden weder um militante Linke noch um Angehörige der kurdischen Bewegung gehandelt hatte. Dies war bereits damals als Indikator für die Entgrenzung staatlicher Gewalt diskutiert worden.

  47. 47.

    Tatsächlich koinzidierten die kurzeitigen Abflüsse von ausländischen Kapital dabei als allgemeine Marktreaktion auf sich politisch eintrübendes Umfeld in der Türkei zeitlich sowohl um einige Tage versetzt mit dem Ausbruch der Revolte, als auch mit einer Zinsanhebung der Federal Reserve, welche im Kontext genuin US-amerikanischer Geldpolitik vollzogen wurde und überhaupt nichts mit der Lage in der Türkei zu tun hatte.

  48. 48.

    Obgleich eigene Interessen und politstrategische Erwägungen die Feder führten, galten bis dato nicht wenigen Journalist_innen und auch Wissensschaffenden die Türkei-Fortschrittsberichte der EU-Kommission als objektive Quelle über die Reformfortschritte und die allgemeine politische Lage im Land. Dementsprechend distanzlos wurden sie zur Produktion eigener Texte herangezogen, z. B. zur Einordnung des Verfassungsreferendums von 2010 – wie die Berichterstattung großer Printmedien zumindest indiziert, insofern sie zumeist die Einordnungen der Berichte reproduzierte.

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Gehring, A. (2019). Kollektive Fürstin AKP oder EU?. In: Vom Mythos des starken Staates und der europäischen Integration der Türkei . Globale Politische Ökonomie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24572-6_8

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