Zusammenfassung
Lange Zeit ist die Figur des Flüchtlings in der politischen Theorie als Defizit- und Verlustfigur gefasst worden. In diesem Beitrag soll mit dem Begriff der Grenzfigur eine alternative Beschreibungs- und Analyseperspektive angeboten werden. Dabei setzt sich der Begriff ab vom „methodologischen Nationalismus“, der die Figur des Flüchtlings der des (demokratischen) Staatsbürgers entgegengesetzt hat. Galt der Staatsbürger als jemand, der in revolutionären Akten die Volkssouveränität erkämpft hatte, so stand der Flüchtling für den Verlust jeglicher Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Symbolisierte der Bürger in Demokratien also Freiheit, Gleichheit und Partizipation, so stand der Flüchtling für Unfreiheit, Ungleichheit und Ohnmacht. Eine andere Forschungsrichtung setzt sich dagegen von diesem Dualismus ab und erhebt Geflüchtete zu den eigentlichen Citizens – wobei sie Bürgerschaft als Praxis im Sinne einer Störung der etablierten Ordnung verstehen. Als politische Praxis par excellence gelten ihnen die Proteste undokumentierter Migrant*innen, die neue Akteure des politischen Handelns hervorbringen und die Dichotomie von politisch teilhabenden Bürgern und unpolitischem, ohnmächtigen Flüchtling unterlaufen. Mit dem Begriff der Grenzfigur wird beiden Zugängen Rechnung getragen, ohne ihren jeweiligen Vereinseitigungen zu erliegen. So werden ‚Flüchtlinge‘, ganz anders als die tradierten Opferfiguren, als produktive Figuren verstanden, die neue Perspektiven auf althergebrachte Überzeugungen entwerfen und unhinterfragte Gewissheiten irritieren können.
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Schulze Wessel, J. (2020). Flüchtlinge als Grenzfiguren. In: Kersting, D., Leuoth, M. (eds) Der Begriff des Flüchtlings. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04974-2_12
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