An einem Samstag im Jahr 2030 wird Jörg Müller, Profi-Fotograf aus Hessen, wieder zu einem Hochzeits-Shooting fahren, es scheint wieder die Sonne. Er kann immer noch nicht fassen, wie technisch, aber gleichzeitig auch emotional seine Jobs geworden sind. Die meisten seiner ehemaligen Kollegen sind ausgestiegen. Es gibt zu wenig zu tun. Viele Aufträge gehen heute an Informatiker und Techniker, nicht mehr an Fotografen. Jörg weiß aber ganz genau, warum er so gefragt ist. Und warum ihm seine Arbeit immer noch so viel Spaß macht: Das liegt an seinen Nutzenversprechen und der entsprechenden Kombination seiner Wertschöpfungsarchitektur.
Hochzeitspaare kaufen bei ihm „Sicherheit“, „Ungestörtheit“ und „Ruhm am wichtigsten Tag des Lebens“ sowie vor allem „Emotionen“, die sie gemeinsam immer wieder aufleben lassen können.
Sicherheit erreicht Jörg durch KI und Redundanz: Bilder und Filme werden bereits bei der Aufnahme von der KI automatisch auf Schärfe und Belichtung geprüft, optimal bearbeitet und sofort lokal und mehrfach in der Cloud gespeichert. Die Sicherung wird ebenfalls laufend kontrolliert. All das läuft im Hintergrund. Jörg bekommt davon nichts mit. Er konzentriert sich ganz auf die Momente der Hochzeit.
Schon am Vorabend hat sein Assistent einige Roboterkameras in der Kirche angebracht. Die KI nimmt am Tag der Hochzeit selbstständig Bilder und Filme auf. Die KI analysiert laufend Millionen von Hochzeitsfotos in den sozialen Medien. Viel besser als Jörg weiß sie genau, welche Bilder die meisten Likes bekommen. Gleichzeitig liest sie die Kommentare und sucht nach Begriffen wie „einzigartig“ oder „noch nie gesehen“. So erzeugt sie am heutigen Tag Bilder, die zwar den allgemeinen Geschmack treffen, sich aber trotzdem wohltuend von Standard-Hochzeitsfotos abheben. Wie genau die KI das macht, ist nicht nur Jörg völlig schleierhaft – auch die Firma, die die KI vertreibt, gibt offen zu, dass es ihr nicht möglich ist vorherzusagen, für welches Foto sich die KI als nächstes entscheidet. Im Endeffekt ist es Jörg auch völlig egal. Er freut sich an der Zeremonie, weiß, dass er sich auf seine Systeme verlassen und das Paar seine Trauung genießen kann, ohne dass der Fotograf ständig durch die Kirche rennt. Paar und Gäste sind ungestört.
Durch seine erfolgreiche Arbeit und seine atemberaubenden Inszenierungen hat Jörg eine viertel Million Follower auf Instagram, durchaus einige davon sind prominent. Noch während der Hochzeit bekommt Jörg von seiner KI die besten Fotos und Filme vorgeschlagen. „Tränchen im Gesicht“, „Zauberhaftes Lächeln“ und „Glückliche Kinder“ hat Jörg dafür in der Software eingestellt. Alle paar Minuten kommt ein neuer Vorschlag von der KI, der die Vorgaben perfekt erfüllt. Die besten Vorschläge postet Jörg direkt und in Echtzeit mit einem Klick auf seinem Instagram-Kanal. Dafür hat er genug Zeit: Die Hochzeitsinszenierung hat er mit dem Paar schon lange vorher durchchoreografiert und seine digitalen Helfer machen die Arbeit fast alleine. Viele Tausend Likes machen das Paar an diesem Tag berühmt.
Kaum kommt das Paar aus der Kirche, ist es von mehreren Verfolgerdrohnen und 360-Grad-Kameras umgeben. Ein Transponder steckt im Hochzeitskleid. Ein anderer im Sakko des Bräutigams. Weitere Transponder hat Jörg vorher den wichtigsten Gästen zugesteckt. Von der ganzen Technik bekommt die Hochzeitsgesellschaft aber kaum etwas mit. Die Drohnen fliegen hoch und die Roboter- und 360-Grad-Kameras verrichten ihren Dienst still und leise. Die konfigurierte KI kennt durch die Transponder die wichtigsten Personen und steuert die Technik so, dass das Paar auch nach Jahren noch alle Emotionen der Hochzeit nachfühlen kann. Als Bild, als 3‑D-Film und mit Ton.
Jörgs Assistent checkt kontinuierlich alle Systeme und Jörg selbst schlendert über die Hochzeit und macht ab und zu ein paar Bilder mit seinem Smartphone. Fotografieren hat er schließlich mal gelernt.
Nach der Hochzeit steigt er in sein Auto und freut sich, dass das Hochzeitspaar so zufrieden war und er noch auf der Feier gleich zwei weitere Aufträge von begeisterten Hochzeitsgästen erhalten hat. Für ihn ist das Shooting damit abgeschlossen. Eine Nachbearbeitung ist nicht nötig. Alle Bilder und Filme liegen, von der KI optimal entwickelt und kuratiert, in der Cloud. Für das Paar und seine Freunde jederzeit abrufbar.
Jörg hat mit seinen Nutzenversprechen genau das Bedürfnis seiner Kunden getroffen. Er war noch nie so gefragt. Er hat noch nie so gut verdient.
Eine normale Fotokamera hat er schon lange nicht mehr.