Abstract
Goethes Iphigenie, nach ihres Dichters eigenen Worten eine ,,tragédie en cinq actes, tout à fait selon les règles', ist um eine klassische Intrige zentriert, die den Geschwistern Orest und Iphigenie die Flucht aus der Gewalt des Taurerkönigs Thoas und den vermeintlich vom Delphischen Orakel geforderten Raub des Kultbildes der Diana ermöglichen soll. Aber zuletzt deckt Iphigenie das Komplott selbst auf und rettet gerade dadurch sich und die Ihren; nicht die Zwänge der Handlungsführung, sondern die Dispositionen der Protagonistin bestimmen den Ausgang des Dramas. Ein solcher Bedeutungsverlust der Stückintrige wäre kaum denkbar ohne die von den englischen Shakespeare-Apologeten des 18. Jahrhunderts lancierte Kritik an der Aristotelischen Doktrin vom Primat der Handlung, die im Umkreis des Straßburger Goethe, namentlich in Jakob Michael Reinhold Lenzens Anmerkungen übers Theater, ihren Höhepunkt erreicht. Der Weimarer Goethe findet die Legitimation für seine Normabweichung in einer analogen Aufhebung der tragenden Trughandlung am Ende des Sophokleischen Philoktet, der ihm wohl schon in seiner Straßburger Zeit von Herder nahegebracht worden war. Möglicherweise stößt er dabei auf ein authentisches Anliegen des ,,großen Meisters seiner frühen Jahre', den nur zu erahnenden Wunsch, der künstlichen Mechanik der Euripideischen Intrigenstücke eine (beinahe) letzte Tragödie entgegenzusetzen, in der die edle Natur des jugendlichen Helden über den ihm angesonnenen Betrug triumphiert.
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Maurer, K. 'Zwischen uns sei Wahrheit'. Neohelicon 29, 193–217 (2002). https://doi.org/10.1023/A:1015607815513
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DOI: https://doi.org/10.1023/A:1015607815513