1 Einführung

Die Entstehung und Ausbreitung des Coronavirus haben verdeutlicht, wie intensiv, aber auch ökologisch problematisch Mensch-Tier-Beziehungen heute (noch) sind. Dies liegt an dem immer engeren Kontakt zwischen Menschen und Wildtieren, der durch das Vordringen des Menschen in entlegene Regionen und den globalen Tierhandel begünstigt wird. Die COVID-19-Pandemie verdeutlicht mit ihren weltweiten gesundheitspolitischen, wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Auswirkungen zudem, wie schnell nicht-menschliche Tiere als Krankheitsüberträger und Zwischenwirte ins Zentrum der epidemiologischen Ursachenforschung rücken. Dabei stellt sich sowohl die Frage nach der Rolle der Tiere im Ausbruchsgeschehen der Pandemie als auch die nach der Berücksichtigung des Virus selbst. Welche Methoden müssen gewählt werden, um ihnen beizukommen?

Unabhängig davon, wo genau in der langen Kette der Mensch-Tier-Beziehungen der Ursprung der aktuellen Pandemie zu finden ist, sind Epidemien und Pandemien zentrale Punkte in der zeitgemäßen Reflexion über das Verhältnis von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Während Infektions- und Gesundheitskrisen entstehen, entwickeln sich medizinische und gesundheitspolitische Aufmerksamkeitsökonomien sowie kulturspezifische Deutungs- und Interpretationsspielräume rund um die Koexistenz und Interaktion von Menschen und Tieren.Footnote 1 Die diskursiven und praktischen Grenzziehungen zwischen menschlichen Gesellschaften und anderen Tieren variieren offenkundig deutlich je nach soziokulturellem Kontext. Diese Unterschiede stehen wiederum in einem spannungsreichen Wechselverhältnis zu politisch-gesellschaftlichen Debatten um ökologische Fragen und methodische Zugriffe. Tiere und die Beziehungen, die Menschen zu ihnen haben, tauchen aber nicht nur als wirkmächtige Linsen auf, um die heutigen Gesellschaften neu auszudeuten, sondern sind zweifelsfrei potente Kräfte, die Gesellschaften überhaupt erst formen beziehungsweise formten. So sind das Leben, die Erfahrungen und der Tod von Tieren einerseits Repräsentationen dessen, was menschliche Geschichten, Ideen und Praktiken ausmacht, gleichzeitig sind sie Teil von Beziehungsgeflechten, die diese Geschichten, Ideen und Praktiken hervorbringen. Tiere überschreiten nicht nur die Grenze zu menschlichen Gesellschaften, sie sind darüber hinaus untrennbar mit ihnen verwoben. Sie stellen damit eine Art Prisma für die Erforschung von Geschichte per se dar. Geschichte ist somit für Tiere von Bedeutung, so wie Tiere ihrerseits für die Geschichte von Bedeutung sind.Footnote 2 Diese Erkenntnis hat mittlerweile ihre eigene wissenschaftliche Disziplin entwickelt: Das aufstrebende Gebiet der human-animal studies, das sich bemüht, die Wirkmächtigkeit und die Verflechtung von Tieren in menschlichen Gesellschaften nachzuverfolgen und sichtbar zu machen, und dessen Schwerpunkt auf der Analyse der kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen der Betrachtung von nicht-menschlichen Tieren und den Mensch-Tier-Beziehungen liegt.

Dieser animal turn hat dazu geführt, dass Wissenschaftler_innen vermehrt die Rolle und Bedeutung von Tieren aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln, wie dem der Geschichte, der Soziologie, der Philosophie, der Literaturwissenschaft und der Umweltstudien, untersuchen. Harriet Ritvo, die diesen turn bereits 2007 ausgerufen hatte, setzte sich etwa für eine stringent historisch-historisierende Perspektive auf das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren ein.Footnote 3 Sie betonte, dass die Art und Weise, wie Menschen Tiere wahrnehmen, behandeln und in ihre Lebenswelt integrieren, tiefgreifende soziale, kulturelle und politische Auswirkungen hätten, die jeweils historisch spezifisch seien, deren Untersuchung jedoch noch am Anfang stünde. Als Pascal Eitler in diesem Journal kurz nach Ausrufung des turns das Forschungsfeld vorstellte, konnte er ebenfalls noch zahlreiche Monita in der Forschung benennen. Nicht nur würden nach wie vor empirische Studien fehlen, auch würde der emotionshistorischen Perspektive noch viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.Footnote 4 In der Frage nach dem Akteursstatus der Tiere sah er besonders Potenziale für die historische Tierforschung und antizipierte das Ende des Fokus auf die Repräsentation von Tieren zugunsten einer praxeologischen Annäherung an gelebte Tier-Mensch-Verhältnisse. Vielversprechende Perspektiven sah er auch in der Medizingeschichte als Knotenpunkt für eine tierintegrierende Wissenschaft.

Vieles von dem, was Eitler anregte, konnte sich inzwischen in der Forschung durchsetzen. Wohl kaum eine Arbeit, insbesondere im Bereich der historischen Tierforschung, kam in den letzten Jahren ohne die Thematisierung des agency-Begriffes aus, zahlreiche Sammelbände und Aufsätze fokussieren allein auf ihn.Footnote 5 Gefühle zu und von Tieren werden nicht mehr nur en passant erwähnt, sondern auch hier hat eine Neuperspektivierung stattgefundenFootnote 6; Praktiken und die Performanz der Mensch-Tier-Beziehungen haben den Repräsentationsansatz längst abgelöstFootnote 7, etwa auch in der TierbiografieforschungFootnote 8; die physische Begegnung wurde wichtigFootnote 9, nicht zuletzt in Eitlers eigenen ArbeitenFootnote 10; und die Medizingeschichte (ebenso wie die Veterinärmedizingeschichte) hat nicht erst seit der Corona-Pandemie die Tiere als wirkmächtige Subjekte entdeckt.Footnote 11 Die Explosion der Literatur in den letzten Jahren im Bereich der Tierstudien, die hier die empirischen Arbeiten einlösen, die Eitler eingefordert hatteFootnote 12, hat es inzwischen sogar fast schwierig gemacht, eine spezifische Forschungsfrage im Bereich der human-animal studies zu erkennen – abgesehen von der Tatsache, dass es um Tiere geht. Die Anziehungskraft von Tieren als Forschungsthemen erscheint insgesamt wenig überraschend. Menschen interessieren sich für Tiere genau deshalb, weil sie einen zentralen Platz in menschlichen Kulturen haben, und tierzentrierte Projekte eignen sich für attraktive Forschungsmonografien im Wettstreit um akademische Sichtbarkeit. Doch der Nachteil dieses Wachstums kann eine Verwischung der Fragen, Ansätze und Herausforderungen sein, die von den human-animal studies als Forschungsgegenstand angegangen werden. Was genau ist also der Forschungsgegenstand?

Der Schwerpunkt der human-animal studies liegt auf der Beforschung kultureller, sozialer und gesellschaftlicher Aspekte der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren. In dieser Hinsicht handelt es sich bei den human-animal studies weniger um ein eigenständiges Fachgebiet, sondern vielmehr um eine multidisziplinäre Forschungsagenda.Footnote 13 Diese Agenda zielt darauf ab, mithilfe eines interdisziplinären Forschungsansatzes und verschiedener Methoden die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Lebensbedingungen nicht-menschlicher Lebewesen zu untersuchen. Gleichzeitig wird betont, wie Tiere die menschlichen Gesellschaften beeinflussen. Die Diskussionen drehen sich um die Fragen nach dem Leben und Dasein von Tieren sowie darum, wie diese Erfahrungen zugänglich gemacht werden können. Hier wird etwa auf Überlegungen einer „new“ beziehungsweise „political ethology“ zurückgegriffen.Footnote 14 Gleichzeitig wird untersucht, welchen Einfluss und welche Abhängigkeit menschliche Kulturpraktiken und Institutionen in Bezug auf Tiere haben und wie diese in Übereinstimmung mit ihren Wünschen und Bedürfnissen leben können.

Im Verlauf der Entwicklung der human-animal studies nach dem animal turn wurden – bei aller scheinbaren Verwässerung – die methodischen Ansätze differenzierter gestaltet, wobei insbesondere Multispezies-Ansätze hervortraten. Diese Ansätze richten die Beobachtungsperspektive auf gleichzeitig auftretende Interaktionen zwischen zwei oder mehr Arten.Footnote 15 Ebenso werden interspezifische Herangehensweisen untersucht, die auf Beziehungen zwischen Individuen oder Populationen unterschiedlicher Arten fokussieren. Diese Ansätze wirken in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die von den human-animal studies beeinflusst werden, unterschiedlich nach und bewirken jeweils spezifische Verschiebungen des Fokus. In den human-animal studies mit historischem Schwerpunkt liegt zum Beispiel das Interesse darin, die dynamische und interaktive Beziehung zwischen Menschen und Tieren aus historischer Sicht zu beleuchten. Dabei wird die Einflusskraft der Tiere in ihrer historischen Dimension betrachtet und die konkreten Auswirkungen des Zusammenlebens auf die Tiere einerseits und auf die gesellschaftlichen Verhältnisse andererseits werden einer genaueren Untersuchung unterzogen. Selbstverständlich kann in diesem Aufsatz nicht alles gezeigt werden – längst ist das Feld so diversifiziert, dass einzelne Disziplinen, so die GeografieFootnote 16, die GeschichtswissenschaftenFootnote 17, die LiteraturwissenschaftenFootnote 18, oder auch die ReligionswissenschaftenFootnote 19 eigene Handbücher oder Einführungen herausgegeben haben.Footnote 20 Allerdings scheint der Schwerpunkt auf die unterschiedlichen Betrachtungen der Beziehungen ein einendes Moment zu sein, weswegen sie im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags stehen. Der Aufsatz konzentriert sich ferner auf die jüngsten Neuerscheinungen der Jahre 2021 und 2022 und nimmt hier vor allem Sammelbände in den Blick. Er verortet das Feld zudem primär in der englischsprachigen Welt, auch wenn wichtige Impulse zuletzt etwa aus den frankophonen Wissenschaften kamen. Er versucht schließlich nicht die programmatischen Differenzen und Spannungen zwischen einer posthumanistischen kritischen Wissenschaftstheorie, die den Dualismus zwischen Mensch und Tier konsequent abzulösen gedenkt, und einer eher empirisch orientierten, historisch-historisierenden ‚Bestandsaufnahme‘ aufzulösen. Vielmehr wird dieses ‚Nebeneinander‘ als konstitutiv für das Feld angesehen.

2 Relationalitäten und Subjektivität: Gemachte Tier-Mensch-Beziehungen und -Verhältnisse

Der Historiker Chris Pearson hat darauf hingewiesen, dass die Merkmale und Handlungen von Tieren oft in einer wechselseitigen und hybriden Art und Weise mit denen von Menschen verbunden sind.Footnote 21 Diese Vorstellung eines ‚Verwobenseins‘ geht auf Donna Haraway zurück, wie sie es in ihrem „Manifest für Cyborgs“ bereits 1985 (deutsche Übersetzung: 1995), noch deutlicher aber in dem für die human-animal studies bedeutsamen Werk „When Species Meet“ (2007) dargestellt hat.Footnote 22 Sie strich hier heraus, dass menschliche und tierliche Spezies grundsätzlich nur in Relation zueinander existieren, besonders im Rahmen von kulturell geprägten Lebens- und Gesellschaftsformen. Vom Standpunkt der Relationalität aus betrachtet – also der konkreten, materiellen Beziehung zwischen Individuen verschiedener Spezies – legen die human-animal studies den Fokus auf die Komplexität der Verbindungen, Wahrnehmungen und Abgrenzungen zwischen Menschen und Tieren in verschiedenen Konstellationen sowie auf ihre Wechselwirkungen. Bei jeder Form dieser Wahrnehmung, Nutzung oder Interpretation würden, so die Annahme, Beziehungen zwischen Menschen und Tieren hergestellt. Da die Beziehung zwischen Tieren und Menschen jedoch der am besten erfassbare Aspekt ist, erscheint es ihnen notwendig, die Beziehung selbst genauer zu untersuchen, um die Akteure dann besser definieren zu können. Aus einer relationalen Forschungsperspektive heraus erscheinen die herkömmlichen Fragen, die den bisherigen Diskurs beherrschen – insbesondere in Bezug auf die Rolle von Tieren als handelnde Akteure – lediglich als Teile eines umfassenderen beziehungsorientierten Geflechts. Durch die Ausrichtung auf Beziehungen soll zudem eine Einbettung und Differenzierung der Debatten über die Verhältnisse zwischen Tieren und Menschen erreicht werden.

In dem von der Kommunikationswissenschaftlerin Gala Argent und der Kulturwissenschaftlerin Jeannette Vaught herausgegebenen Sammelband „The Relational Horse“Footnote 23 ist es die Beziehung von Mensch und Pferd, die untersucht wird, wobei die Perspektive des Pferdes durch eine den Band durchziehende Zuspitzung auf die Kommunizierbarkeit der Praxis der Beziehung eingeholt werden soll. Zugleich ist es Anliegen des Bandes, die Beziehung zwischen Mensch und Pferd gerechter darzustellen, die Pferdeperspektive in den gemeinsam geteilten Welten angemessener zu berücksichtigen und auf die Bi-Direktionalität der Relation hinzuweisen. Dabei greifen die Aufsätze, die vorwiegend case studies aus der Soziologie, Psychologie, der (Multispezies‑)Ethnologie und Ethologie präsentieren, Fragen nach der Abbildbarkeit von Intentionalität und Perspektivenberücksichtigung, von equider agency bei gleichzeitiger Einschränkung der Autonomie der Tiere auf und plädieren hier für einen intersektionalen Zugang, der die multiplen, besonders auch geschlechtlichen Abhängigkeiten von Mensch-Tier-Beziehungen berücksichtigt.Footnote 24 Dazu wird die Frage nach dem Personenstatuts der Tiere, die insbesondere von der TierethikFootnote 25 und der juristischen Teildisziplin des animal lawFootnote 26 bereits breit diskutiert worden ist, aufgegriffen. Dabei wird auch der Versuch einer doppelten Dezentrierung vorgenommen, einerseits mit Bezug auf die einseitige Fixierung auf Menschen als auch auf eine hegemonial westliche Sicht. Was die Aufsätze vereint, ist eine gewisse Abkehr von einer auf rein körperliche Relationalität bezogene Untersuchung, wie sie vor allem von den Pionier_innen des Feldes auf Grundlage theoretischer Rahmungen – etwa der Akteurs-Netzwerk-Theorie (vor allem von Bruno Latour) beziehungsweise des new materialism – vorgenommen wurden, hin zu einer Analyse, die die Subjektivität und die Transspezies-Kommunikation sozialer Lebewesen berücksichtigt. Um dies zu erreichen, wird auch auf „informed speculation“ (S. 39) oder die Berücksichtigung von „instrumental expressions of anthropomorphism“ (S. 94) gesetzt. Joseph L. Lancia nutzt in seinem Beitrag etwa das Besteck psychiatrischer Intrasubjektivitätsforschung, um herauszustellen, dass die Bedeutungskonstitution des Selbst auf der Ko-Kreation mit anderen, zum Beispiel Pferden, fußt, die in gemeinsamen Routinen geschaffen werden, die wiederum Bindungen hervorbringen (S. 62–74). Überzeugend ist jedoch vor allem der Beitrag von Kristin Armstrong-Oma, die anhand archäologischer Ausgrabungsfunde und mythologischer Überlieferungen die materielle Kultur von Pferd-Mensch-Beziehungen in der skandinavischen Eisenzeit beschreibt. Sie hebt hervor, dass interspezifische Kommunikation eben über Gegenständliches – sie nimmt hier das Zaumzeug als Beispiel – ausgetragen beziehungsweise vollzogen wurde (S. 77–89). Dieser Beitrag besticht auch deshalb, weil er die eher spekulativen Subjektivitätsforschungen mit den sehr viel handfesteren material culture studies in Verbindung bringt, die einen weiteren Schwerpunkt der Tier-Mensch-Forschung ausmachen.Footnote 27 Jeannette Vaughts Kapitel über künstliche Reproduktionstechnologie in der Pferdezucht verkompliziert darüber hinaus auf beeindruckende Weise die Frage nach der Materialität interspezifisch-sexueller Handlungen beziehungsweise der speziesspezifisch scheinbar recht unterschiedlichen Wahrnehmung sexueller Befriedigung, die auch bei künstlicher Befruchtung relevant bleibe (S. 135–146). Rachel Hogg gelingt es schließlich in ihrem ethnografischen Beitrag zum Reitspitzensport, die ambivalente Beziehung zwischen Reiter_innen und Pferden zu skizzieren, die einerseits eine klare Machtasymmetrie darstelle, anderseits aber das Verstehen des Pferdes als Akteur und Persönlichkeit voraussetze (S. 161–176).

Personenstatus ist auch wichtig für die Literaturwissenschaftlerin Josephine Donovan. In „Animals, Mind, and Matter“ befragt sie vor allem Subjektivität von Tieren aus der Perspektive der feministischen Fürsorge-Theorie.Footnote 28 Das Ziel dabei ist, beständige Konstruktionen von Tieren als Objekte in offiziellen Diskursen infrage zu stellen. Donovan hebt insbesondere drei solcher Konstruktionen hervor: Recht (Tiere als Eigentum), Handel (Tiere als Waren) und Wissenschaft (Tiere als ‚seelenlose‘ Körper). Damit hat Donovan ihrem Œuvre ein weiteres Werk hinzugefügt, das sich speziell mit der Verbindung zwischen Geschlecht, Ökologie und Ethik auseinandersetzt und eine Brücke zwischen feministischer Theorie und Umweltbewusstsein schlägt.Footnote 29 Sie ist damit als eine der führenden Vertreter_innen ökofeministischen Denkens einzuschätzen – ein Feld, das sich selbst durchaus kritischen Stimmen ausgesetzt sieht. Stereotype Vorstellungen über das ‚weibliche‘ oder ‚naturverbundene‘ Wesen wurden hier in der Vergangenheit durchaus perpetuiert und die Komplexität der Geschlechterrollen und die Vielfalt von Frauen und ihren Ansichten vernachlässigt, zum Teil wurde einfach auch unterkomplex argumentiert.Footnote 30 Im Einklang mit der ökofeministischen Schule kritisiert Donovan den kartesianischen Objektivismus und den wissenschaftlichen Reduktionismus und bietet verschiedene animistische Perspektiven als Alternativen zum Nachdenken über die Subjektivität von Tieren an. Damit möchte sie aufzeigen, wie epistemologische Ansätze, die Tiere miteinbeziehen, in westlichen Gesellschaften delegitimiert und marginalisiert wurden, aber dennoch fortbestehen.

Auch Donovan steht dem Projekt des new materialism und ihren Vertreter_innen kritisch gegenüber. Das titelgebende „Matter“ bezieht sich eben nicht auf die Materialität der Tiere, sondern auf das Verb matter (zu Deutsch: „von Bedeutung sein“). Ihre Einwände basieren auf ihrer Opposition gegen das, was sie als Aufhebung der ontologischen Unterscheidung zwischen der trägen Materie und dem lebenden Wesen im Kontext des new materialism sieht, sowie auf dessen Versäumnis, „Geist, Bewusstsein oder Subjektivität in der natürlichen Welt anzuerkennen oder einen Platz dafür zu bieten“ (S. 74). Trotzdem konzentrieren sich ihre direktesten Kritikpunkte nicht auf den theoretischen Anspruch des new materialism, sondern vielmehr auf die Positionen einiger Forscher_innen in diesem Feld in Bezug auf die Gentechnik, die diese entweder befürwortet haben oder es nach Donovans Ansicht versäumt haben, sie eindeutig zu verurteilen. Nicht nur hier fällt auf, dass in den human-animal studies die Grenzen zwischen Wissenschaft und Aktivismus durchaus fließend sind, beziehungsweise dass sich einige Vertreter_innen eher den sogenannten critical animal studies zurechnen lassen.Footnote 31 Dies dürfte auch für Donovan zutreffen. Critical animal studies verlangen eine politische Positionierung, wobei die Befreiung der Tiere von menschlicher Herrschaft zielgebend für diesen Ansatz ist.

Relativ unbeachtet von den primär anglophonen human-animal studies, in denen etwa die Frage nach den materiell-semiotischen Knotenpunkten ein wichtiger Forschungsansatz ist und häufig in Bezug auf die Arbeiten Donna Haraways beantwortet wird, hat sich auch in Frankreich zuletzt ein lebendiges Feld in den Tierstudien mit durchaus eigenen Ideen und Positionen entwickeln können. Für die Tiergeschichte fordert beispielsweise Éric Baratay von Historiker_innen, sich quasi auf die Seite der Tiere zu schlagen, ihre geografische Perspektive zu übernehmen und sich selbst in das Tier hineinzuversetzen, um dessen Standpunkt einzunehmen und zu antizipieren, was es sieht und fühlt. Er plädiert gar für eine Um- beziehungsweise Neuschreibung der Geschichte.Footnote 32 Zuletzt hat auch der Pariser Historiker Pierre Serna, Experte für die französische Geschichte des 18. Jahrhunderts und insbesondere der Französischen Revolution, mehrere Werke vorgelegt, die sich speziell mit der Frage der Tiere in der Revolution und den sich aus der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte für sie ergebenden Rechten befassen.Footnote 33 Auch die Sondernummer der Zeitschrift Parlament[s], „Le Parlament des Animaux“, die Serna gemeinsam mit Malik Mellah, ebenfalls in diesem Forschungsbereich ausgewiesen, herausgegeben hat, befasst sich mit diesem Thema, allerdings in einer longue-durée-Perspektive und über die Grenzen Frankreichs hinaus.Footnote 34 Wie für die Zeitschrift üblich, teilen sich die Beiträge in ausführliche „Recherche“ sowie eher abrissartige „Quellen- und Literaturbesprechungen“, wobei fünf der insgesamt 18 Beiträge der ersten Kategorie zugeordnet werden können. In der Einleitung dieser Ausgabe bemühen sich Mellah und Serna zunächst darum, die Verbindung zwischen Tieren und politischer Geschichte zu rechtfertigen: Die Parlamente seien eben keineswegs nur Institutionen für Veränderungen in der öffentlichen Meinung und Sensibilität, sondern trügen selbst dazu bei, den Status der Tiere in der Gesellschaft zu verändern. Mit den Menschenrechtsrevolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts und der sich veränderten Sensibilität gegenüber „Arbeitsgefährten“ oder „niederen Brüdern“ sei allmählich ein neuer Blick auf Lebewesen außerhalb der menschlichen Spezies geworfen worden. Die Konzepte des Tierschutzes, der Schutzpflicht und der Berücksichtigung des inneren Lebens der Tiere hätten das Recht zu einem wesentlichen Element für das Bewusstsein über das Leiden der Tiere und die unerträgliche Natur von Misshandlungen gemacht, die ihnen zugefügt wurden.

Der Literaturwissenschaftler Sylvain Ledda beschreibt in seinem Beitrag, wie in der romantischen Literatur im Nachklang der Revolution sichtbare und unsichtbare Gewalt vermittelt wurde. Anhand der Thematisierung der Tierkörperverwertung in Montfaucan, was hernach als Ort des Abscheus und der Faszination gedeutet wurde und die literarische Vorstellungskraft befeuerte, zeigt er, dass über die Sensibilisierung von Tierleid klassistische Einteilungen verfestigt wurden.Footnote 35 Dies wird etwa auch von den Juristen Jacques Leroy und Jean-Pierre Marguénaud betont, die sich mit der Aufnahme von Tieren in den Code civil im Jahr 2015 als „Lebewesen mit Empfindungsfähigkeit“ befassen.Footnote 36 Diese Veränderung brach mit dem traditionellen Ansatz des Agrarrechtes, das Tiere nur als Eigentum sah, und ebnete laut den Autoren den Weg für die rechtliche Einstufung von Tieren, sowohl wilden als auch gezähmten, als Personen.

In historischer Perspektive werden jedoch auch die Grenzen der Interpretation von „Tierrechten“ dargelegt. So zeigt François Jarrige in seinem Beitrag über die Nutzung und den Einsatz von sogenannten Karrenhunden, dass das Ziehen von Wägen die Industrialisierung begleitete und trotz der Einwände der 1845 gegründeten Gesellschaft zum Schutz der Tiere kein entsprechendes Gesetz verabschiedet wurde.Footnote 37 Erst mit der Elektrifizierung verschwand die Hundearbeit allmählich. Der Aufsatz von Giulia Guazzaloca analysiert schließlich die Entwicklungen in der italienischen Tierschutzgesetzgebung als Ergebnis erfolgreichen Agitierens, das auch in Italien im 19. Jahrhundert mit der Entstehung von Tierschutzbewegungen einherging.Footnote 38 Beginnend mit dem ersten Gesetz gegen Tierquälerei (1890) untersucht sie insbesondere die Debatte, welche die Verabschiedung des Gesetzes von 1913 begleitete, auch dahingehend, wie sich dieses Gesetz zur faschistischen Gesetzgebung stellte. Der Aufsatz nimmt hier eine zeithistorische Perspektive ein und legt dar, wie in Italien, sicherlich auch unter Einfluss weltweiter sozialer Bewegungen, ab 1970 das Thema Tierrechte in den öffentlichen Diskurs und in die Gesetzgebung einfloss. Insgesamt schließt diese Ausgabe der Zeitschrift damit Lücken in der Geschichte von Tierschutz und Tierbewegungen, allerdings auf eher traditionelle, sozialhistorische Art und Weise. Es wird höchstens implizit verhandelt, wie tierliche Subjektivität in Gesetzestexten, literarischen Zeugnissen und Parlamentsdebatten auftaucht, nicht aber wird die Rolle der Tiere in dem Vorgang selbst zum Thema gemacht.

Die besprochenen Quellen sind ebenfalls nicht auf die französische Geschichte beschränkt. Neben Besprechungen der 1844 verabschiedeten Jagdgesetze in Italien oder dem Eintrag zu den sogenannten „boschimanne“ im Lexikon der „Naturgeschichte der Säugetiere“ von Frédéric Cuvier, findet sich etwa auch eine Verordnung von 1792 über die Schweinehaltung in Mexiko und ein Ausschnitt aus dem Codex Florentinus, der im 16. Jahrhundert die tierliche Eroberung der Neuen Welt beschrieb. Solche Quellensammlungen sind sicherlich begrüßenswert und vor allem für die akademische Lehre gut nutzbar, wie Lena Kugler, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann mit ihrer Quellenedition gezeigt haben.Footnote 39

3 Interspezifische Gemenge und Geschichten

Im Kontext der human-animal studies bedeutet Interspezifität, die Beziehungen zwischen Individuen oder Populationen unterschiedlicher Arten zu untersuchen. Es handelt sich somit um einen erweiterten Relationalitätsbegriff. Allerdings unterscheidet sich diese Bedeutung von derjenigen in der Ökologie, aus der der Begriff stammt. In der Ökologie bezieht sich Interspezifität darauf, wie nicht-menschliche Spezies miteinander interagieren, wobei oft ihr spezifisches Konkurrenzverhalten betrachtet wird. Hier hingegen wird Interspezifität von Anfang an im gesellschaftlichen Kontext betrachtet, was menschliche Beziehungen zu anderen Tieren einschließt. Dabei darf natürlich auch in dieser gesellschaftlichen Perspektive der Wettbewerb als sozialer Ausdruck nicht außer Acht gelassen werden. Laut den Herausgeber_innen des Sammelbands „Animal Remains“, den Literaturwissenschaftler_innen Sarah Bezan und Robert McKay, träumte etwa der Humanismus davon, dass die Menschheit sich von den tierlichen Überresten sauber trennen könne (S. 5).Footnote 40 Tiere waren hier somit auch gesellschaftlich gesehene Konkurrenz. Die Botschaft an ihre Leser_innen ist jedoch, dass tierliche Überreste überall vorhanden sind und somit Tiere überall präsent bleiben. Tierliche Überreste werden hier in einem weiten Sinne als materielle Objekte wie Nahrung, Medizin und Kleidung oder auch Fleisch definiert, als Spuren der Lebenswelten und Ökologien von Tieren sowie als Orte politischer Konflikte, visuelle Zeichen und Erinnerungsstätten.

Um all diesen vielfältigen Formen des materiellen Fortbestands von Tieren Sinn zu verleihen, bringt dieses Buch interdisziplinäre Perspektiven aus Literaturkritik und -theorie, Kulturwissenschaften, Anthropologie und Ethnografie, Filmgeschichte sowie zeitgenössischer Kunstpraxis zusammen, um über die Langzeitperspektive hinweg und unter unterschiedlichen räumlichen Gegebenheiten die Hartnäckigkeit des tierlichen Materials, anschaulich anhand von Fossilien eingeführt, zu unterstreichen. Animal remains, so sagen sie, seien eine interspezifische Beziehung, die eben noch nicht gut genug ergründet worden sei. Sie plädieren deshalb auch für eine stärkere Berücksichtigung von Tiefenzeit und indigenen Wissenssystemen. Nicht alle Texte sind gleich gut lesbar, manche verfangen sich in der oftmals anstrengenden Diktion der Literaturtheorie. Die ersten Beiträge im Buch greifen die Fossilien auf, wobei insbesondere Ana María Gómez López mit ihrem Beitrag über die Nutzung der Fotografien toter Pferde des Paläontologen Johannes Weigelt für die Anti-Kriegspropaganda der Zwischenkriegszeit die Bedeutung der Visualität von Gerippen, gerade auch der von Tieren, zu akzentuieren hilft (S. 34–49). Die im zweiten Teil des Buches unter der Überschrift „Extinction Futures“ aufgeführten Aufsätze gehen der Frage nach den Spuren der Tiere nach, die irgendwo zwischen Leben und Tod angesiedelt sind. Sie orientieren sich damit zumindest implizit auch an dem Feld der extinction studies, die unter anderem untersuchen, wie das Aussterben von Arten in Literatur, Kunst, Medien und populärer Kultur dargestellt wird und welche Auswirkungen diese Darstellungen auf das öffentliche Bewusstsein und den Naturschutz haben.Footnote 41 Dolly Jørgensen und Gitte Westergaard thematisieren in ihrem Beitrag etwa die museale Ausstellung der „Letzten ihrer Art“ anhand der Riesenschildkröten Cų Rùa und Solitario Jorge in Hanoi beziehungsweise Pinta, Galapagos und wie sie durch ihren liminalen Status sakralisiert werden (S. 68–86). Ein Hauptanliegen der human-animal studies besteht darin, die etablierten Grenzen zwischen Natur und Kultur zu überwinden und stattdessen die kulturelle Dimension des tierlichen Lebens hervorzuheben. Dies wird in diesem Beitrag ganz besonders deutlich. Sie interessieren sich auch dafür, welche Bedeutung die Grenzen zwischen den Arten tatsächlich haben und welche sozialen und oft ethischen Konsequenzen damit verbunden sind. Der Bezug zur Liminalität soll, wie Clemens Wischermann und Philip Howell herausgestellt haben, letztendlich feste Grenzen und Kategorien infrage stellen, den Schwerpunkt auf das Hybride und Provisorische legen und sich an dem kreativen Potenzial erfreuen, das durch das ‚Zwischen-den-Welten-Sein‘ entfesselt wird.Footnote 42

Ebenso wird in „Animal Remains“ erkundet, ob und auf welche Weise es möglich ist, Tiere aus einer nicht-anthropozentrischen Perspektive zu betrachten. Die Beiträge in dem Buch sind deutlich kapitalismuskritisch. Das wird insbesondere im nächsten Abschnitt deutlich, der sich mit Fleisch und Fleischwerdung befasst, oder, wie in Dinesh Joseph Wadiwels Kapitel, mit der Arbeitskraft von Tieren, hier erzählt anhand der Pferde in den Minen in Emile Zolas „Germinal“ (S. 158–182). Marxistische Kritik in Anschlag zu bringen, ist nicht erst seit John Bergers häufig zitiertem Text „Why Look at Animals?“Footnote 43 ein Zugang, der vor allem die politikwissenschaftlich orientierten human-animal studies prägt. Hier geht es vor allem um die proklamierte Entfremdung des Menschen in kapitalistischen Gesellschaften, die durch die Kommodifizierung von Arbeit und Produkten entstehe und, auf Tiere angewendet, diese oft als bloße Ressourcen für menschlichen Nutzen betrachte. Dafür stehen Wadiwels Arbeiten durchaus paradigmatisch und der hier abgedruckte Aufsatz gibt einen guten Einblick in sein Œuvre.Footnote 44 Er lässt auch in einen Bereich blicken, der in den human-animal studies in letzter Zeit zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen hat, nämlich die Konzeption von Arbeit von Tieren.Footnote 45 Allerdings bleibt hier fraglich, ob die Kritik an der Degradierung zur Ressource durch ihre analytische Behandlung als Ressource nicht geradezu unterlaufen wird.

Herausragend ist schließlich der Beitrag von Sundhya Walther über die prekäre Rolle von (toten) Kühen im modernen Indien und die politische Gewalt gegen jene, die sich um ihre Beseitigung kümmern müssen – in der Regel Angehörige der niederen Kaste der Dalit (S. 185–200). Walther zeigt hier, wie schmal der Grat zwischen heilig und unantastbar ist und wie die Biopolitik der Kuh auf den Erhalt des Lebens, aber nicht auf ein lebenswertes Leben zielt. Ihre Analyse baut auf politischen Berichten über Gewalttätigkeiten von höherkastigen Hindus an Dalits auf, denen die Ermordung von Kühen angelastet wurde, und zeigt, wie diese Gewalttätigkeiten nach der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Hindu-Nationalisten um Narendra Modi angestiegen sind. Dass tierliche Körper nach ihrem Tod unrein werden, und zwar nicht im religiösen Sinne, sondern im hygienischen, und damit umgegangen werden müsse, zeigt auch Jane Desmonds Beitrag zur Kremation von Haustieren in den USA und der Frage, wie an Tiere gedacht wird, wenn sie nur noch Asche sind, dafür aber portabel werden (S. 244–263).

Dem Themenkomplex der Spurensuche nach Tieren, die längst tot sind, hat insbesondere Historiker_innen angeregt, grundsätzlich über den Quellenwert und die Quellenfähigkeit von Tieren nachzudenken.Footnote 46 Auch der auf eine 2019 an der Universität von Ontario zurückgehende Konferenz und 2022 erschienene Sammelband „Traces of the Animal Past. Methodological Challenges in Animal History“ greift die Gretchenfrage nach der scheinbaren Stimmlosigkeit tierlicher Akteure auf.Footnote 47 Er verbindet dabei traditionelle Forschungsmethoden mit interdisziplinären theoretischen Ansätzen, welche Menschen in historischen Erzählungen zumindest ein wenig dezentrieren helfen sollen. Dabei thematisieren die Beiträge, die zum Teil von führenden Vertreter_innen aus dem Bereich der Tiergeschichte, wie Nigel Rothfels, Joanna E. Dean, Dolly Jørgensen und Harriet Ritvo, verfasst worden sind, die grundlegende methodologische Herausforderung, die Vergangenheit aus nicht-anthropozentrischen Perspektiven besser zu verstehen.Footnote 48 Wie die Herausgeber_innen der Anthologie, Jennifer Bonnell und Sean Kheraj, in ihrer Einleitung betonen, geht es ihnen und den im Sammelband vertretenen Autor_innen deshalb nicht so sehr um die Darstellung empirischer case studies, sondern um eine methodische Reflexion über ihr jeweiliges Vorgehen. Dabei werden neue methodische Vorschläge gemacht, die etwa auch oral history und digitale Methodiken berücksichtigen. Das Buch ist in fünf Unterkapitel mit insgesamt 18 Beiträgen gegliedert und folgt dabei den in der neueren Tiergeschichte prominenten Diskursfeldern Körper, Spuren, Raum und Visualität. Anstatt einer Reihe unzusammenhängender Texte, findet man beständige intertextuelle Verbindungen zwischen den Aufsätzen, die sich darüber hinaus durch die Reflexionsebene auszeichnen. Erfrischend klar sprechen sich die Herausgeber_innen, wie auch viele der Autor_innen, gegen eine Reiteration der agency-Frage aus: Diese sei selbstevident und analytisch nicht mehr hilfreich (S. 7). Auch die südafrikanische Historikerin Sandra Swart, die mit ihrem Beitrag zur Körpergeschichte mongolischer Pferde (und ihrer Reiter_innen) einen furiosen Auftakt macht, gibt zu bedenken, dass die Frage nach der Akteursmacht dazu neige, Machtasymmetrien zu reproduzieren, anstatt sie zu historisieren. Sie spricht sich deshalb dafür aus, danach zu fragen, was agency für die Zeitgenoss_innen bedeutet haben könnte und mit welchen Methoden und Quellen wir diese Informationen einfangen könnten (S. 26). Swart schlägt vor, das Pferd selbst zum Archiv zu machen, das Reiter_innen zum Beispiel über Körpersprache anzeigt, welche Kultur des Gerittenwerdens es kenne, wie sich dies auch in Narben und Abzeichen ablesen lassen könnte. Ferner gelte es, neben den materialen Überresten – den Häuten, Schweifen – auch dem fossilierten Dung, auch den Gerüchen nachzugehen. Pferde und ihre Flatulenzen seien Marker, die allerdings eines neuen Methodenrepertoires bedürften, die das Olfaktorische stärker berücksichtigen. Dazu sollten auch vernakulare und indigene Wissensarchive mehr Berücksichtigung finden.Footnote 49 Eine Dekolonisierung der Tiergeschichte ist auch Anliegen weiterer Beiträge im Buch, die fast alle aus Nordamerika und hier vor allem Kanada stammen, wo die indigenous studies inzwischen einen wichtigen Beitrag zu den Tierstudien liefern.Footnote 50 So beschreibt Lindsay Stallones Marshall die relationalen und kommunikativen Verbindungen, die Comanchen und Oceti Sakowin-Stämme mit Pferden aufgebaut hätten, die auf der Prämisse fußen, dass es keinen epistemischen Unterschied zwischen den Spezies gibt. Ihr Versuch, eine „Horse-Centred Lens of Inquiry“ (S. 75) einzunehmen, führt auch sie ins Archiv und zu der Feststellung, dass diejenigen Euroamerikaner_innen, die die (kolonialen) Archive konstruierten und bestückten, einfach nicht in der Lage waren, die Pferde zu berücksichtigen, da sie einem autoritär-hierarchischen Denken verhaftet waren, das deren Berücksichtigung von vornherein ausschloss. Die „Battle of the Greasy Grass“ von 1876, auch bekannt als „Schlacht am Little Bighorn“ oder „Custer’s Last Stand“, hatte bedeutende Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den Ureinwohner_innen Nordamerikas und den Vereinigten Staaten. Sie wird oft als Symbol des indigenen Widerstands gegen die Eroberung des Westens betrachtet. Eine Berücksichtigung der Pferde in dieser Auseinandersetzung – einige Armeepferde gingen durch und wechselten so die Seiten – könnte helfen, so die Autorin, neue Perspektiven auf erstarrte Erzählungsmuster zu werfen. Im Vergleich zu den Aufsätzen im Sammelband von Argent und Vaught gibt es auch andere Tiergeschichten außerhalb der Mensch-Pferd-Beziehung: Bienen, Delfine, Meerschweinchen sind ebenso zu finden wie Grizzlybären und Lamas. Susan Nance widmet ihren Beitrag einer besonderen Hunderasse, den Windhunden, die für Hunderennen gezüchtet werden, und ihrer Transition von einem Leben auf der Rennbahn zu einem Leben in Familien nach ihrer ‚Pensionierung‘ (S. 91–116). Sie stellt heraus, dass dieser Sport für eine bestimmte Periode der amerikanischen Unterhaltungsindustrie steht, deren beste Zeit aber vorbei sei. Ihre Frage an den Gegenstand ist, wie Zeithistoriker_innen im Zeitalter der „Informationsflut“ eigentlich mit den diversen ephemeren und fragilen digitalen Zeugnissen von Tieren umgehen sollten, die insbesondere, aber nicht nur, durch soziale Medien verbreitet werden, und ruft deshalb Tierhistoriker_innen dazu auf, ihre eigenen digitalen Archive zu gründen, bevor die Spuren verloren gehen. Um das Verschwinden von Spuren geht es auch im Aufsatz von Catherine McNeur über die Entomologin Margaretta Hare Morris und ihre Arbeiten zur cecidomyia culmicola beziehungsweise zur sogenannten Hessenfliege, die im 19. Jahrhundert für zahlreiche Getreideausfälle verantwortlich gemacht wurde (S. 157–173). Anders als das Verschwinden tierlicher Spuren aus den Archiven aufgrund des Anthropozentrismus, der auch von Swart und Marshall dargelegt wurde, weist McNeur nach, wie misogyne Vorurteile von Farmern und Naturkundlern dazu führten, dass die von Morris gesammelten Spezimen es nicht in die naturkundlichen Sammlungen schafften und Morris selbst quasi aus dem Archiv herausgeschrieben wurde. Worauf McNeur also hinweist, ist, dass das Archiv selbst aus intersektionaler Perspektive dekonstruiert werden muss und dass die Tiergeschichte hierfür sensibilisiert.

Besonders hilfreich sind auch die Beiträge in dem Buch, die neue Methoden der räumlichen Vermessung für die Nutzung der Tiergeschichte vorstellen. Mitherausgeber Sean Kheraj stellt vor, wie Geoinformationssysteme genutzt werden können, um den interspezifischen Relationen räumlich näherzukommen (S. 269–290). Dies zeigt er zunächst anhand der räumlichen Veränderung von Toronto im 19. Jahrhundert und der jeweiligen Nähe der Menschen zu geschlachteten und lebenden Nutztieren. Unter Verwendung einer umfassenden Analyse von Zeitungsartikeln, tierärztlichen Aufzeichnungen und Berichten von Gesundheitsbehörden konnte Kheraj zudem präzise die Ausbreitung der Pferdegrippe in Toronto 1872/1873 verfolgen. Insbesondere im Fall von synanthropen Tieren ergeben sich zahlreiche Wechselwirkungen aufgrund ihrer Nähe zu Menschen, die mit der von ihm hier präsentierten Software untersucht werden könnten. Diese Interaktionen sind in verschiedenen Quellen zu finden, wobei räumliche Zuordnungen den ersten wichtigen methodischen Ausgangspunkt bilden sollten, wie auch das weitere Feld der historical animal geography eindrücklich gezeigt hat.Footnote 51 Im Kapitel „Creatures on Display. Making an Animal Exhibit at the Archives of Ontario“ legt der Kurator und Archivar Jay Young schließlich dar, welche Überlegungen die public history im Hinblick auf die Ausstellbarkeit und narrativen Strukturen von Quellen anstellt, um interspezifische Relationen eindrücklich widerzuspiegeln.Footnote 52 Indem er die verschiedenen Schritte, insbesondere auch mit Bezug auf die Auswahl der Tiere, transparent macht, lässt sich dieser Beitrag wie eine Anweisung zur Gestaltung entsprechender Ausstellungen nutzen. Wieso sich Hunde besser als Katzen eignen, wieso die ökologische Krise die museale Erzählung herausfordert und braucht, wird auch hier an bestimmten „Flagship Species“ festgemacht. Allerdings sind dies erwartbare Kandidaten wie Bären, die im spirituellen Kosmos der sechs Nationen der Haudenosaunee eine wichtige Rolle spielen, aber eben auch Neunaugen, als parasitär eingestufte, invasive fischähnliche Wesen. In einem lesenswerten Epilog resümiert Harriet Ritvo den Weg der Tiergeschichte und ihre eigenen Erfahrungen mit deren Institutionalisierung. Sie beschreibt Erfolge und Herausforderungen und attestiert ihr einen festen Platz in den akademischen Rängen.Footnote 53

Dieser feste Platz zeigt sich auch darin, dass sich Historiker_innen mit anderer Spezialisierung dem Thema zuwenden. Der Historiker des Amerikanischen Bürgerkriegs Earl J. Hess etwa hat mit „Animal Histories of the Civil War Era“Footnote 54 einen Sammelband vorgelegt, der die Grundlagen des Konflikts durch die Perspektive nicht-menschlicher Tiere, wilder und domestizierter, betrachtet. Jedes der Kapitel ist ein gutes Beispiel für die Anwendung eher traditioneller historischer Methoden durch die Brille der Tiergeschichte und bringt sowohl gut gewählte wie auch pointierte Primärquellen ein, von denen einige schon bekannt waren und nun einer tiergeschichtlichen Lesung unterzogen wurden, während andere neu gehoben worden sind. Die meisten der Beitragenden, acht von insgesamt elf, sind in erster Linie als Bürgerkriegshistoriker_innen einzustufen, die sich in ihrer Arbeit nun den Tieren zugewandt haben; andere kommen aus den Bereichen der Tier- oder Umweltgeschichte zum Bürgerkrieg. Dies ist beim Lesen durchaus zu merken, so scheinen erstere sich zunächst immer noch einmal der Sinnhaftigkeit der Tiergeschichte vergewissern und viel Grundsätzliches hervorheben zu müssen. Das tut der hohen Qualität der Beiträge aber keinen Abbruch. Das Buch besteht aus einer Einleitung und 13 Kapiteln und ist in sechs Abschnitte unterteilt, die sowohl zeitliche Zäsuren beschreiben wie auch einzelnen Tieren gewidmet sind, diesmal aber der Forderung Eitlers nach empirischen case studies wirklich nachkommen, wenn auch hier wieder überwiegend Pferde und Hunde betrachtet werden. Michael E. Woods einführender Aufsatz zu „Antebellum Camel Capers and the Global Slave Power“ hat aber beispielsweise gleich eine Spezies zur Grundlage, die Teil einer vorkriegerischen Initiative zur Eroberung des Westens war: Kamele (S. 23–41). Wie er aber auch zeigt, ging das relativ kurze Experiment, Kamele von 1856 bis 1866 vor allem nach Texas einzuführen, noch mit anderen Geschichten einher, die der Trivialisierung der Thematik, wie sie sich in Geschichtsbüchern häufig findet, eindeutig zuwiderliefen. Die Kamele sollten nämlich auch auf den Baumwollplantagen des Südens eingesetzt werden, um die Produktivität zu steigern – als Tiere, die nach Meinung einiger Plantagenbesitzer von den Sklav_innen beherrscht werden könnten. Außerdem ging der sogenannte „Camel Craze“ mit dem Versuch einher, neue Menschen aus Afrika zu verschleppen, nach Verabschiedung des britischen „Slave Trade Acts“ 1807 jetzt auf illegalem Wege. Tiergeschichte ernst zu nehmen, so ließe sich mit Woods sagen, hilft auch die Geschichte der amerikanischen Sklaverei anders zu erzählen.

Zwar ist der Titel von Abraham Gibsons Aufsatz, „War Horses. Equine Perspectives on the Confederacy“, vielleicht etwas zu hoch gegriffen – eine Pferdeperspektive wird hier nicht angeboten –, dennoch zeigt er eindrücklich, wie abhängig die Kriegsführung von Pferden war (S. 84–98). Der Norden hatte ungefähr doppelt so viele Tiere zur Verfügung wie die konföderierten Staaten, indes waren die Pferde im Süden vornehmlich Reittiere, nicht Zugtiere, und konnten somit viel leichter im Krieg eingesetzt werden. Allerdings waren diese Tiere auf den Weiden Kentuckys oder Ohios groß geworden und so stand mit Kriegsausbruch der Nachwuchs nicht mehr zur Verfügung. Die Kriegsführung auf beiden Seiten beinhaltete deshalb auch, wenn möglich Pferde zu erbeuten oder aber sie zu töten, sodass der Feind keinen weiteren Zugriff auf die Tiere haben würde. Dies traf insbesondere Pferde der Südstaaten und so ist Gibsons Feststellung zentral, dass die Erfahrungen der Tiere im Krieg alles andere als uniform waren, und könnte hier weitere Forschungen anregen.

In einem von insgesamt drei selbst beigesteuerten Beiträgen nimmt sich Herausgeber Hess den wildlebenden Tieren an, die in multiplen interspezifischen Beziehungen zu den Soldaten standen (S. 101–120). Grundlage von Hess’ Aufsatz sind Selbstberichte von Soldaten in Form von Tagebüchern, Briefen und Memoiren, denen er diese verschiedenen Beziehungen entnimmt. So zeigt er, dass über Vögel, Schlangen und Alligatoren geschrieben wurde, als würden sie eine andere Welt bewohnen. Tatsächlich, und dies herauszustellen ist der große Gewinn dieses Aufsatzes, fanden sich die Soldaten, die längst an eine feine Aufteilung von Natur und Zivilisation – auch diskursiv – gewöhnt waren, nunmehr in einer Umgebung wieder, die ihnen fremd war. Die meisten Kämpfe fanden nämlich außerhalb von bewohnten Gebieten statt. Gleichzeitig zeigt er, wie die Tiere selbst im wahrsten Sinne des Wortes in die Schusslinie der Konfliktparteien gerieten – insbesondere Truthähne und Hasen wurden in großer Zahl getötet, indem die Armeen zur Versorgung auf die Jagd nach Tieren gingen –, aber auch, dass bestimmte Spezies eindeutig profitierten, in erster Linie Insekten. Die sogenannte „Armee-Krätze“ war, wahrscheinlich ausgelöst durch Milben, eine chronische, stark juckende Dermatose, die erstmals bei Soldaten und einigen Zivilist_innen zu Beginn des Bürgerkriegs auftrat. Mit dem Fortschreiten des Krieges nahm auch die Verbreitung der Armee-Krätze zu und erreichte 1862 im Potomac-Tal von Maryland sowie 1864 in Virginia ein epidemisches Ausmaß. Aber auch Mücken, Flöhe, Läuse, „gray-backs“ genannt, und Zecken tauchten als Kontaktspezies in den Berichten der Soldaten auf.

Eine Tierart, die ebenfalls zwischen die Fronten geriet, waren Schweine, deren Geschichte Jason Phillips in seinem sehr interessanten Beitrag nachspürt (S. 135–148). Sie lebten deshalb prekär, weil die sogenannten „Southern Hogs“ traditionell freilaufend in Gemeindeland und Wäldern gehalten wurden. Vor Beginn des Krieges war diese Art der Tierhaltung gar zu einer Identitätsfrage der konföderierten Staaten geworden und Sklavenbesitzer argumentierten, dass sie, genau wie die Schweine, einen freien Zugriff auf das Land bräuchten, damit der Süden überleben würde. Diese Gleichsetzung mit den Schweinen war aber nur eine scheinbare, weil es in der fein säuberlichen Taxonomie der Sklavenhalter Afroamerikaner_innen und Indigene waren, die kontrolliert werden mussten. Emblematisch für die Kontrolle der schwarzen Bevölkerung waren auch Hunde, die in dem sehr gut recherchierten Kapitel von Lorien Foote im Mittelpunkt stehen, die auf die hoch ambivalente Funktion der Caniden als sowohl Garanten weißer Suprematie wie auch Gefährten der Marginalisierten hinweist (S. 186–207). Am Beispiel South Carolinas, das schon vor Ausbruch des Krieges eine sehr hohe Population von Hunden hatte, die analog zur rassistischen Hierarchie der menschlichen Bevölkerung ebenfalls nach Rasse unterschieden und entsprechend behandelt wurden, weist Foote zunächst nach, wie versucht wurde, mithilfe der Steuer – weiße Plantagenbesitzer waren davon befreit – die Hundepopulation zu formen. Zentral ist auch die Feststellung, dass mit der zunehmenden Konskription der weißen Bevölkerung in die konföderierte Armee die Bluthundemeuten das einzige Mittel waren, das System der Sklaverei aufrechtzuerhalten. Der Beitrag zeigt jedoch auch deutlich, wie wichtig es ist, denjenigen Tieren genauer auf die Spur zu kommen, die zwar zumeist im Sinne des herrschenden Systems handelten, und als solche auch gesehen und entsprechend bekämpft wurden, gleichzeitig aber nicht immer berechenbar waren, Chaos stifteten und auch für Widerständigkeiten stehen konnten.

Daniel Vandersommers tierhistorischer Beitrag über den 1888 in Washington gegründeten National Zoological Garden schließlich zeigt, wie in der Ära der Restauration nationale Symboliken, die schon in europäischen Zoos Umsetzung gefunden hatten – hier aber bestückt mit Tieren aus den Kolonien –, über Tiere vermittelt werden sollten (S. 228–239). Er blättert auf, wie sich das durch den Sezessionskrieg gespaltene Land schwertat, sich auf den Ort – Washington wurde schon im 19. Jahrhundert als Ort der politisch abgehobenen Elite gesehen – oder über die auszustellenden Tiere zu einigen, und wie Sarkasmus und eine gewisse Tierfeindlichkeit die Debatte prägten. Insbesondere Affen wurden zur Zielscheibe einer Diskussion, die, wie Vandersommers zeigt, wenig mit den realen Tieren zu tun hatte, sondern die diese bloß als diskursive Projektionen gegenüber einem als übergriffig empfundenen föderalen Staat nutzte. Dabei seien die meisten Tiere ‚nationale‘ Tiere gewesen und vor allem von Bürger_innen des Südens und Westens an den Zoo geschickt worden. Vandersommers Ansatz illustriert, wie wichtig es für die Tiergeschichte ist, Diskursives und Materielles miteinander ins Gespräch zu bringen. Er zeigt auch, dass Historiker_innen gut damit fahren, die Interspezies-Ebene in den Blick zu nehmen.

4 Multispezifische Zukünfte und Krisen: Neue Tierethiken im Anthropozän

In Anlehnung an die bereits beschriebenen critical animal studies fordern auch die Philosophinnen Alice Crary und Lori Gruen, beide bekannte Tierethikerinnen, eine politisch-revolutionäre Intervention und bezeichnen dies als critical animal theory. Allerdings ist das, was sie in „Animal Crisis. A New Critical Theory“ aufzeigen, nicht unbedingt neu, sondern wird besonders von den sich als intersektional verstehenden Tierstudien seit geraumer Zeit diskutiert; es ist zudem definitiv eine kritische Theorie mit einem kleinen „k“, obwohl die Vertreter der Frankfurter Schule immerhin Erwähnung finden (S. 157–174).Footnote 55

Ihre „neue kritische Tiertheorie“ zielt darauf ab, die soziale und politische Isolation der traditionellen Tierethik und der Tierstudien im Allgemeinen zu überwinden. Sie gehen davon aus, dass die Nöte marginalisierter Menschen und Tiere strukturell miteinander verbunden sind und deshalb auch gemeinsam betrachtet werden sollten. In sieben Kapiteln diskutieren Crary und Gruen wichtige philosophische Konzepte der Tierethik, an denen sie sich gleichzeitig abarbeiten, wie zum Beispiel Leiden und Utilitarismus, der Geist der Tiere (animal minds) und Würde. Sie tun dies anhand konkreter Fallstudien. Diese bilden den Versuch ab, ethische Fragestellungen aus Sicht von Ratten, Papageien, Oktopussen und Schlachthausarbeiter_innen zu reflektieren und umfassen die Rolle von Schweinen in der Corona-Pandemie, Orang-Utans im Massenartensterben und Zecken bei der Verbreitung von Krankheiten. Vor allem ist dieses schmale Buch eine tour de force durch 200 Jahre Tierethik, verbunden mit kritischen Einwänden der marxistischen oder feministischen Theorie, vor allem wiederum des Ökofeminismus.

Diese kritische Tiertheorie bietet analog zu dem, was zurzeit unter dem Label der Multispezies-Studien firmiert, einen anderen Ansatz, um über diese Machtverhältnisse nachzudenken und zu sprechen. Die Trennung zwischen „Menschen“ und „Tieren“ privilegiere zwar immer den Menschen über Tiere, schließe dabei aber eben nicht einmal alle Menschen ein, so lautet ihr Hauptargument. Diese Kluft diene dazu, die Unterdrückung von Tieren und von Menschen, die als ‚näher‘ an Tieren betrachtet werden, zu rechtfertigen, was oft Frauen, BIPoCs (black, indigenous, and people of color), Menschen mit Behinderungen und andere betrifft, die außerhalb der privilegierten Norm stünden. Daher stellt diese kritische Tiertheorie hierarchische Strukturen infrage, die sowohl Tieren als auch vielen Menschen schaden würden, und geht dabei vor allem mit den bis dato vorherrschenden Prinzipien der Tierethik, vor allem Peter Singers Utilitarismusprinzip oder klassischen Tierrechtspositionen, ins Gericht. Stattdessen beziehen sich Crary und Gruen explizit auf Dinesh Wadiwels Arbeiten und jene der Politolog_innen Will Kymlicka und Sue Donaldson, die 2011 eine neue Art von Staatsbürgerschaftsrecht vorschlugen, das die Bedürfnisse und Interessen verschiedener Tierarten respektiert und in die Gestaltung politischer Strukturen einbezieht.Footnote 56 Das Buch plädiert für eine radikale Neugestaltung unserer Beziehung zu Tieren in „Revolutionary Commons“ (S. 143), ohne allerdings die kritische Tiertheorie letztendlich auszubuchstabieren. Durch Praktiken der Multispezies-Solidarität, davon zeigen sich Crary und Gruen dennoch überzeugt, könnten wir die Krise, in der wir uns befinden (Klima, Seuchen, Artensterben), transformieren, aber wir müssten dazu bereit sein, die Vormachtstellung des Menschen zu überwinden, um überhaupt eine Verbindung zu den Bedürfnissen der Tierwelt herzustellen. In Erweiterung des interspezifischen Ansatzes versuchen die multispecies studies die komplexen Interaktionen und Beziehungen über Menschen und Tiere hinaus (Pflanzen, Pilze, Mikroorganismen) als vernetzte Geschichte wechselseitiger Abhängigkeit zu erzählen und betonen die Koexistenz aller Lebewesen, die sich etwa bei Seuchenausbrüchen zeigt.

Auch in dem Buch „Artenübergreifende Fürsorge“, aus einem studentischen Forschungsprojekt entstanden, geht es um die Auswirkungen der Corona-Pandemie und um die Bloßlegung der fragwürdigen Arbeitsstrukturen in der Fleischindustrie sowie die globalen Folgen der (industriellen) Tierhaltung.Footnote 57 Hier ist die Sichtweise aber eine soziologische.Footnote 58 Karla Groth, Stefan Laser, Isabelle Sarther und Jennifer Schirmmacher skizzieren hierin anhand der Kontroversen um Schweine und Nerze die komplexe Verflechtung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Arten. Unter Zuhilfenahme der Latour’schen Konzepte von Kollektiven und der Methode des „Mapping of Controversies“ greifen sie empirisch den Skandal um die Tönnies-Fleischfabrik und die Nerzkeulungen in Dänemark 2020 auf, um hieran deutlich zu machen, was eine umfassende Sorge für alle Arten, im Englischen auch unter dem Begriff der multispecies justice und multispecies care bekanntFootnote 59, in konkreten Fällen heißen könnte. Multispecies care bedeutet, dass die Sorge um Tiere nicht auf eine anthropozentrische Perspektive beschränkt ist, sondern eine breitere Sichtweise einnimmt, die die Bedürfnisse und Interessen aller beteiligten Arten berücksichtigt. Dies kann in verschiedenen Kontexten relevant sein, sei es in der Tierhaltung, im Naturschutz, in der ethischen Betrachtung von Tieren oder in der Anerkennung der Wechselwirkungen zwischen Mensch und Tier in einer zunehmend vernetzten Welt. Konkret geht es den Autor_innen um die Diskriminierungsformen des KarnismusFootnote 60, also die Normalisierung von Fleischkonsum, und des Pellismus, ein von den Autor_innen erschaffener Begriff, der das Zunutzemachen tierlicher Häute umreißt (S. 79). Deutlich wird aus ihrer Datenanalyse, dass es ein Ungleichgewicht in den Fürsorgeabsichten gibt und dass Nerze, zumindest diskursiv, einen höheren Anspruch auf Fürsorge verbuchen können als Schweine. Auch wenn man dem Buch seine studentische (Mit‑)Autor_innenschaft durchaus anmerkt – vieles wird noch einmal grundsätzlich definiert und schwankt zwischen sozialwissenschaftlichem Spezialdiskurs und Alltagssprache – steht es gleichzeitig paradigmatisch sowohl für die von Eitler eingeforderte empirische Ausrichtung und Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien als auch für die von den human-animal studies protegierte Überwindung klassischer Hierarchien, eben auch in der Wissenschaft. Zudem gelingt es den Autor_innen in Anlehnung an die science and technology studies und die feministischen Care-Theorien, konkrete Dimensionen der artübergreifenden Fürsorge auszuformulieren und caring als eine „situative Praktik“ herauszustellen (S. 125).

Beide Bücher nehmen also Krisen als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen zu „Multispezies Zukünften“ und greifen damit, wenn auch teilweise eher implizit, die Diskussion um nachhaltige Entwicklung auf. Insgesamt sind Tiere integraler Bestandteil eines nachhaltigen Entwicklungsansatzes, der 2015 im Rahmen der „Sustainable Development Goals“ (SDGs) von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde und Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft und Ethik in Einklang bringen möchte. Eine umfassende Diskussion über nachhaltige Entwicklung soll in diesem Rahmen die Interaktionen zwischen Mensch und Tier berücksichtigen und Lösungen finden, die sowohl ökologische als auch soziale und ethische Belange berücksichtigen. Die Bewältigung dieser Krisen, die Tiere ganz klar miteinbeziehen und die auch schon in den anderen hier besprochenen Werken thematisiert werden (Klimawandel, der Verlust an Biodiversität und Pandemie), ist also von entscheidender Bedeutung für den Übergang zur nachhaltigen Entwicklung. Trotzdem werden die Diskussionen über nachhaltige Entwicklung und das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren oft separat geführt. Darauf macht auch Leonie Bosserts mehrfach ausgezeichnete Dissertationsschrift „Gemeinsame Zukunft für Mensch und Tier. Tiere in der Nachhaltigen Entwicklung“ aufmerksam.Footnote 61

Bossert, ebenfalls Philosophin, versucht dabei insbesondere die Gerechtigkeitsphilosophie hinsichtlich der Frage nach den Tieren neu aufzurollen, und schaut sich hier die „Theorie starker Nachhaltigkeit“ von Konrad Ott und Ralf DöringFootnote 62 unter deren Berücksichtigung von John Rawls Theorie der Gerechtigkeit und Martha Nussbaums Fähigkeitsansatz an.Footnote 63 Es ist vor allem die von Ott und Döring proklamierte Idee des „graduellen Sentientismus“, also der Balance zwischen moralischer Berücksichtigung und den unterschiedlichen Fähigkeiten zur Empfindung, die Bossert in Anschlag bringt. Es ist ihr Weg, die Komplexität der Empfindungsfähigkeit und des Bewusstseins in die ethische Überlegung einzubeziehen, die hier stets an das Individuum, nicht an ganze Spezies gerichtet ist. Allerdings geht Bossert weiter. Sie plädiert für einen egalitären Sentientismus, der keine moralischen Abstufungen mehr kennt. Auch dieses Buch kommt, wie auch das von Crary und Gruen, ohne eine grundlegende Analyse der gängigen tierethischen Theorien (Utilitarismus/Rechtstheorie) nicht aus, macht dies aber systematischer und unter Einbeziehung beispielsweise neuerer tierethischer Positionen wie Clare Palmers Pflichtenethik.Footnote 64 Es bietet darüber hinaus auch einen Einblick in die Nachhaltigkeitstheorien an, die Tiere berücksichtigen. Was „gutes menschliches Leben“, eine zentrale Position in der Nachhaltigkeitsdebatte, konkret auch für Tiere heißen könnte, beziehungsweise inwieweit insbesondere Nussbaums Positionen hier anschlussfähig sind, wird jedoch nicht in Bezug auf das buen vivir diskutiert, sondern bleibt innerhalb der euroamerikanischen Diskussion um kritischen Anthropomorphismus und der Berücksichtigung ethologischer Beobachtungen verhaftet, wie sie vor allem von den Ethnolog_innen Dominique Lestel, Florence Brunois und Florence Gaunet stark gemacht worden sindFootnote 65, auch wenn diese nicht explizit Erwähnung finden. Anders als Crary und Gruen liefert Bossert allerdings im sechsten Kapitel des Buches „eine tierethisch erweiterte normative Theorie nachhaltiger Entwicklung“, die diesen Namen auch verdient. Sie verdeutlicht hier, dass eine nachhaltige Praxis, die auf tierethischen Prinzipien basiert, eine radikale Umgestaltung unserer bisherigen Ansätze zu Natur- und Tierschutz erfordern würde. Diese müsste sich an einem sehr starken Nachhaltigkeitsbegriff orientieren, weil nur dieser tatsächlich physiozentrisch sei, also einer Ethik folgt, die dem Menschen nicht per se eine Sonderrolle zuspricht.

Interspezies-Gerechtigkeit bedeutet für diese Theorie faktisch das Ende des Anspruchs auf Besitz von Tieren: Eine Wirtschaft, die auf der Nutzung von Nutztieren basiert, ist daher nicht mit dem Konzept der „gerechten Interspezies-Gesellschaft“ (Bossert: S. 279) vereinbar: Bio-vegane Landwirtschaft müsse daher als Standard etabliert werden, Ökosysteme müssten auch für das (Über‑)Leben von Tierspezies erhalten bleiben. Die von Bossert normativ formulierte Theorie stellt einen Versuch dar, die nachhaltige Entwicklung aus Sicht der Tierethik neu zu betrachten, und bietet Vorschläge dafür an, wie die philosophischen Grundlagen der nachhaltigen Entwicklung auf Tiere angewendet werden können. Ihr Werk positioniert sich klar und unterstreicht, dass die Integration der Tierethik in den Diskurs zur Nachhaltigkeit keineswegs nur akademisches Interesse betrifft. Vielmehr handelt es sich um ein äußerst politisches Vorhaben, das die Gesellschaft stärker umwälzen könnte als beispielsweise der Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energien und ähnliche Großprojekte, die bisher vor allem mit dem Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ assoziiert werden. Vielmehr geht es Bossert um die Durchsetzung eines „Post-Nutztier-Narrativs“ (S. 289) und um die gerechte Entlohnung jener Tiere, die weiterhin Arbeit für den Menschen leisten. Die philosophisch-soziologischen Ausarbeitungen, die hier, wie gezeigt, dem Ansatz der multispecies justice folgen, dürfen dennoch nicht einfach den critical animal studies zugerechnet werden. Ihr Zugang ist systematischer, holistischer, im Fall von Bossert auch komplexer.

5 Fazit

Das Feld der Tierstudien hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem festen Bestandteil akademischer Diskussionen entwickelt. Kaum ein sozial- und geisteswissenschaftliches Forschungsgebiet hat nicht in der ein oder anderen Weise auf den von Harriet Ritvo ausgerufenen animal turn reagiert. Insbesondere die in Folge der Corona-Pandemie und der Klimakrise offen zutage tretende enge Verbindung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Spezies hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Tier-Mensch-Beziehungen noch einmal befeuert. Dabei ist ein Trend zu beobachten, der sich von der Untersuchung einzelner tierlicher Spezies und deren Bedeutung für die menschliche Geschichte und Gesellschaft hin zu einer Interspezies- beziehungsweise Multispezies-Interaktion entwickelt hat. „Multispezies“ nimmt, so könnte man resümieren, das große Ganze in den Blick, berücksichtigt damit Beziehungen, Ökosysteme und soziale Umgebungen, die aus mehreren verschiedenen Tierarten, menschlichen und nicht-menschlichen, bestehen. Es fokussiert das kollektive Zusammenspiel und die Interaktionen zwischen verschiedenen Spezies innerhalb eines bestimmten Ökosystems, einer Gemeinschaft oder eines sozialen Gefüges. Das Konzept der Multispezies-Beziehungen betont die Idee, dass Arten in einem Ökosystem oft miteinander verflochten sind und sich gegenseitig beeinflussen, was zu komplexen ökologischen, sozialen und kulturellen Dynamiken führt.

Dies zeigt sich insbesondere in den sozialwissenschaftlichen und philosophischen Beiträgen, die hier besprochen wurden. Dass die Geschichtswissenschaften hinter dieser Entwicklung in gewisser Weise zurückbleiben, ist jedoch nicht der eher konservativen Haltung des Faches geschuldet, sondern der Tatsache, dass – wie in den hier besprochenen Beiträgen in den Sammelbänden von Jennifer Bonnell und Sean Kheraj sowie Earl J. Hess gezeigt, Methodisches, Quellenbasis und Empirisches generell erst noch auf der Mikroebene zu erforschen sind. Zudem ist die Frage nach den Zeitlichkeiten noch längst nicht ausdiskutiert. Das Anthropozän als Epoche etwa betont die tiefgreifenden Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die gesamte Erde und stellt somit auch nicht-menschliche Akteure und ökologische Systeme in den Mittelpunkt der Analyse. Dies erfordert eine Anpassung der historischen Narrative und eine Anerkennung der komplexen Wechselwirkungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt. Die Diagnose des Anthropozäns ist wiederum eng mit den multispecies studies verknüpft und stellt ebenso eine Herausforderung für die human-animal studies dar, vor allem in Bezug auf deren Fokus auf Relationalität und Interspezifik.

Analog zu Pascal Eitlers Liste an Feldern, die noch einer gründlicheren Bearbeitung bedürfen, beziehungsweise in denen Potenzial für die Tierstudien gesehen wird, möchte ich dies als Leerstelle benennen. Auch die Untersuchung der Kommunikation und des Verständnisses zwischen verschiedenen Tierarten und zwischen Menschen und Tieren, die bei Gala Argent und Jeannette Vaught in Bezug auf Pferde zur Sprache gekommen ist, ist ein Bereich mit vielen offenen Fragen, ebenso wie die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren in nicht-westlichen Kulturen, besonders in indigenen Gemeinschaften, sieht man einmal von den Arbeiten von Philippe Descola und anderen zum Neoanimismus ab.Footnote 66 Dies ist in Bezug auf Indigene in den Amerikas schon ansatzweise untersucht worden, müsste allerdings globaler gefasst werden. Das Gleiche gilt für die Wechselwirkungen zwischen Mensch-Tier-Beziehungen und anderen sozialen Kategorien insbesondere der Kategorie von race. Dafür bedarf es einer tierzuchtkritischen Herangehensweise, die die Ideologie von breedism genauer fasst. Schließlich offenbart sich, wie diese Besprechung auch gezeitigt hat, durchaus ein wissenschaftsideologischer Graben zwischen human-animal studies und critical animal studies. Es wird also Zeit, dass das Feld selbst einer Untersuchung unterzogen wird.

6 Auswahlbibliografie

  • Argent, Gala/Vaught, Jeannette (Hrsg.): The Relational Horse. How Frameworks of Communication, Care, Politics and Power Reveal and Conceal Equine Selves (Human-Animal Studies, Bd. 24), 226 S., Brill, Leiden/Boston, MA 2022.

  • Bezan, Sarah/McKay, Robert (Hrsg.): Animal Remains, 294 S., Routledge, London/New York 2021.

  • Bonnell, Jennifer/Kheraj, Sean (Hrsg.): Traces of the Animal Past. Methodological Challenges in Animal History, 428 S., Calgary UP, Calgary 2022.

  • Bossert, Leonie N.: Gemeinsame Zukunft für Mensch und Tier. Tiere in der Nachhaltigen Entwicklung (Lebenswissenschaften im Dialog, Bd. 27), 322 S., Alber, Baden-Baden 2022.

  • Crary, Alice/Gruen, Lori: Animal Crisis. A New Critical Theory, 136 S., Polity, Cambridge u. a. 2022.

  • Donovan, Josephine: Animals, Mind, and Matter. The Inside Story, 148 S., Michigan State UP, East Lansing, MI 2022.

  • Groth, Karla u. a.: Artenübergreifende Fürsorge? Die Corona-Pandemie und das Mensch-Tier-Verhältnis (Human-Animal Studies, Bd. 30), 214 S., transcript, Bielefeld 2022.

  • Hess, Earl J. (Hrsg.): Animal Histories of the Civil War Era, 280 S., Louisiana State UP, Baton Rouge, LA 2022.

  • Mellah, Malik/Serna, Pierre (Hrsg.): Parlement[s]. Revue d’histoire politique 17 (2022), H. 3: Le parlement des animaux.