In seiner 2023 veröffentlichten Dissertationsschrift widmet sich Avner Ofrath dem ambitionierten Ziel, die Ideologie und Politik der Staatsbürgerschaft im kolonialen Algerien über mehr als ein Jahrhundert nachzuvollziehen. Auf Basis einer breiten Archivrecherche, der Analyse zeitgenössischer Quellen wie Petitionen und Zeitungsartikeln in mehreren Sprachen, sowie nicht zuletzt der Synthese der einschlägigen Forschungsliteratur, gelingt Ofrath dies – um es vorwegzunehmen – auf beeindruckende Weise. Den von zahlreichen politischen Umbrüchen in der ‚Metropole‘ zwischen der Zweiten und Fünften Französischen Republik und bisweilen gewaltsam ausgetragenen ethnoreligiösen Konflikten geprägten Zeitraum unterteilt der Autor in sechs chronologische Abschnitte. Ein Hauptziel der Untersuchung Ofraths ist das Verständnis von Staatsbürgerschaft als einer „ideology of belonging“, der sich jene Menschen zu unterwerfen hatten, die sich als Bürger_innen Rechte und Repräsentationen versprachen (S. 7). Im Fall Französisch-Algeriens betraf dies konkret nicht-französische europäische Siedler_innen sowie jüdische und muslimische Personen, die sich nach der Eingliederung Algeriens ins französische Staatsgebiet 1848 Hoffnungen auf den staatsbürgerlichen Status machten.

Im ersten Abschnitt legt der Autor dar, wie Algerien durch die französische Herrschaft zum politischen und juristischen Grenzgebiet wurde, in dem sich ein komplexes Geflecht von Hierarchisierungen und Diskriminierungen etablierte. Dass die Errungenschaften und Gleichheitsversprechen der Französischen Revolution im ausgedehnten Second Empire nie wirklich für alle Menschen unter der Tricolore galten, ist keine neue Erkenntnis. In der Mikrobetrachtung Ofraths treten die feinen Mechanismen dieses nie aufgelösten Widerspruchs aber besonders augenfällig zutage. Überzeugend kann der Autor dies im zweiten Kapitel belegen, das sich den folgenreichen Transformationen der 1860er bis 1880er Jahre widmet. In diesem Zeitraum fand ein Übergang von Landnahme und Besiedlung zu einer flächendeckend durchdringenden Rechtspraxis statt. Als Herrschafts- und Hierarchisierungsinstrument trafen die Exklusionsbemühungen des französischen Verwaltungsapparats fortan die rassifiziert verstandene muslimische Bevölkerung Algeriens. So definierte der sénatus-consulte von 1865 – in absteigender Hierarchie – den Rechtsstatus dreier Gruppen: europäischer Ausländer_innen, der indigenen jüdischen und schließlich der indigenen muslimischen Bevölkerung.

Die beiden Dichotomien „Europeanness/Muslimness“ und „citizenship/subjecthood“ (S. 44) wurden in den folgenden beiden Jahrzehnten durch zwei berüchtigte Rechtsakte festgeschrieben. Zunächst bestimmte das sogenannte Décret Crémieux von 1871, dass die jüdische Bevölkerung Algeriens – ob sie dies wollte, oder nicht – nun die französische Staatsbürgerschaft erhielt. Wie Ofrath ausführlich beschreibt, war dieser Masseneinbürgerung ein jahrelanges Lobbying auf beiden Seiten des Mittelmeers vorausgegangen. Hier vermag es der Autor, die Aushandlungsprozesse in den interdependenten politischen Arenen in ‚Metropole‘ und ‚Siedlungskolonie‘ zielführend miteinander in Beziehung zu setzen. Mit dem Décret Crémieux, einem der „wichtigsten und umstrittensten Rechtstexte in der Geschichte des kolonialen Algerien“ ging die Gleichsetzung von ‚indigen‘ und ‚muslimisch‘ einher (S. 55). Verschärft wurde die Diskriminierung der muslimischen Bevölkerung 1881 durch die Kodifizierung des repressiven Code de l’indigénat sowie die Einbürgerung aller nicht-französischen Europäer_innen 1889. Dies betraf in erster Linie Siedler_innen aus Italien, Spanien und Malta, die von der französischen Verwaltung aufgrund ihres bisweilen lokal abgeschotteten Zusammenlebens kritisch beäugt wurden. Insbesondere aus den italienisch und spanisch geprägten Gemeinden speiste sich ein eng mit dem französischen ‚Mutterland‘ verknüpftes Phänomen der Jahrhundertwende: ein vulgärer, die koloniale Ordnung infrage stellender Antisemitismus. Wie Ofrath in Kapitel 3 ausführt, schadete die Krise der 1890er Jahre dem Ansehen der europäischstämmigen Bevölkerung in Algerien nachhaltig: „[…] Algerian settlers would become the enfants terribles of the French Empire [Hervorh. im Orig.]“ (S. 89).

Für die Kapitel 4 und 5 unternimmt der Autor einen kleinen Zeitsprung in die Zwischenkriegszeit, um die ausbleibenden Reformen sowie das Aufkommen einer algerischen Massenpolitik in den Fokus zu rücken. Zunächst stehen dabei die Debatten um eine kolonialpolitische Reform und die Gewährung staatsbürgerlicher Rechte für die muslimische Bevölkerung im Zentrum. Ofrath kann hier differenziert darlegen, dass in der ‚Metropole‘ kontrovers über eine Enthierarchisierung der algerischen Gesellschaft diskutiert wurde – gewissermaßen als Zeichen der Dankbarkeit für den Einsatz im Ersten Weltkrieg. Als diese Reformen allerdings ausblieben, war die Konsequenz „the rapid politicization and radicalization of hundreds of thousands of Algerians“ (S. 94). Mit dem retrospektiven Wissen um das Ende der französischen Herrschaft im Hinterkopf, wird in diesen Kapiteln deutlich, welche (Fehl‑)Einschätzungen auf französischer Seite zum algerischen Wunsch nach Unabhängigkeit beitrugen. Eindrücklich kann Ofrath in Kapitel 6 zeigen, dass die ab 1944 in Aussicht gestellte französische Staatsbürgerschaft für die mittlerweile hochpolitisierte muslimisch-algerische Bevölkerung derart an Attraktivität eingebüßt hatte, dass ein Großteil sich vielmehr nach einer von Frankreich losgelösten dezidiert algerischen Staatsbürgerschaft sehnte. Als Instrument der Hierarchisierung, Exklusion oder quasi als pazifizierender Köder hatte das französische Konzept von Staatsbürgerschaft in Algerien spätestens zum Ende der 1950er Jahre ausgedient.

Ofraths Studie kann die komplexen Debatten um die Vorenthaltung und die teilweise Gewährung staatsbürgerlicher Rechte sowie das letztliche – aber nie alternativlose – Scheitern der französischen „ideology of belonging“ erhellend erklären. Dabei will und kann sein Buch kein Einführungswerk sein; Vorkenntnisse des französischen Kolonialismus und der Geschichte von Staatsbürgerschaftskonzepten erleichtern die Lektüre erheblich. Auch kommt die auf dem Buchdeckel angekündigte globale Perspektive etwas kurz; so hätte man gerne mehr über intra- und interimperiale Wissenstransfers erfahren. Doch können diese Kritikpunkte den positiven Gesamteindruck einer auf Kenntnisreichtum und profunden Literatur- und Quellenarbeit fußenden Studie nur geringfügig schmälern.