Der Augsburger Historiker Dietmar Süß hat nach einem Jahr Ampel-Koalition zu ergründen versucht, wie die SPD im Jahr 2021 vom „Auslaufmodell zum Wahlsieger“ werden konnte und was das „für die Zukunft der Partei und der Bundesrepublik“ (Buchrücken) bedeuten könnte.

Ausgehend vom Wahlabend skizziert der Autor knapp den Verlauf des Wahlkampfes 2021. Er wirft einen Blick auf das kontinuierliche Abschmelzen der einstigen SPD-Hochburgen und sucht eine Antwort auf die Frage, wer die Partei heute überhaupt noch wählt. Anschließend umreißt er die Geschichte der SPD-Kanzlerkandidaturen seit Willy Brandt und beschreibt den organisatorischen Zustand der SPD, vor allem den rasanten Mitgliederschwund. Bevor er sich mit der Agenda-Politik der 2000er Jahre und ihren Folgen auseinandersetzt, skizziert Süß die programmatischen Schwerpunktverlagerungen seit den 1980er Jahren. Kurz geht er auf das Wiederaufgreifen des Fortschrittsbegriffs nach der Bildung der Ampel-Koalition ein, der mit Beginn des Kriegs in der Ukraine wieder verschwand und Süß schließlich zur Reflexion über die Russlandpolitik der SPD seit den 1980er Jahren führt.

In erster Linie ist das Buch keine historische Darstellung sui generis, sondern eher eine Art Reformschrift, die Fehler und politische Erfolgsfaktoren der Vergangenheit analysiert, um Anstöße für eine zukünftig erfolgreiche Politik der SPD zu geben. Hier spielt sicherlich eine Rolle, dass der Autor bis zu deren Auflösung 2018 Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD war, was er aber leider nicht offenlegt. Die besonderen Schwerpunkte und Akzente seiner Darstellung liegen,

  1. a.

    auf der eingehenden Beschreibung des Niedergangs der SPD als Volkspartei. Süß erinnert insbesondere daran, dass die SPD auch heute von den Wahlergebnissen der Ära Schröder weit entfernt ist. Grund sei „der Verlust wichtiger sozialer Gruppen“ (S. 32). Dazu gehören in erster Linie die Jung- und Erstwähler_innen, unter denen die SPD 2021 hinter den Grünen und der FDP rangierte, sowie die Wählerschichten, die zu den Verlierern der neoliberalen Wirtschaftspolitik seit den 2000er Jahren gehören (Arbeiter_innen, einfache Angestellte, Arbeitslose). Stattdessen habe sich die SPD auf die aufstiegsorientierten Mittelschichten, die von dieser Politik begünstigt wurden, konzentriert. Auch unter Eingewanderten ist die Unterstützung seit 2005 zurückgegangen; in Ostdeutschland blieb die Partei schwach; das Abschmelzen der städtischen SPD-Hochburgen im Westen setzte sich auch 2021 weiter fort. Der Wahlerfolg 2021 sei letztlich nur einer Bevölkerungsgruppe zu verdanken gewesen: Die SPD ist zur „Rentnerpartei“ (S. 44) geworden.

  2. b.

    auf den Wandlungen des Olaf Scholz vom marxistischen Stamokap-Juso der 1980er Jahre über den Hartz-IV-Verteidiger als SPD-Generalsekretär der Ära Schröder hin zum Kanzlerkandidaten und Kritiker der Leistungsgesellschaft des Jahres 2021: „Scholz redete über diesen Teil seiner eigenen politischen Biografie, als hätte es ihn gar nicht gegeben, […] dieses Kunststück aus Verdrängung und Verarbeitung war es, […] hinter dem sich die unterschiedlichen Strömungen und Charaktere der SPD im Wahlkampf einträchtig versammeln konnten“ (S. 138).

  3. c.

    auf der Schilderung der programmatischen Wandlungen der SPD seit den 1980er Jahren, insbesondere in dem Bedeutungswandel, den das Wort „Solidarität“ und die Idee der sozialen Gerechtigkeit in der SPD-Politik der ‚Neuen Mitte‘ unter Gerhard Schröder erfuhren. Süß widmet sich auch den Versuchen, das sozialdemokratische Trauma der Hartz-IV-Politik seit 2019 zu überwinden.

  4. d.

    auf der Bedeutung, die der von Scholz ins Zentrum seiner Kampagne gestellte Begriff „Respekt“ für den Erfolg des Wahlkampfs hatte. Es sei der Versuch gewesen, den Gedanken der sozialen Gerechtigkeit als Zentrum der SPD-Politik zu reaktualisieren und mit der Frage der Anerkennung zu verknüpfen – was sowohl im Westen wie auch im Osten erfolgreich gewesen sei, wo er als Anerkennung von zu gering gewürdigten Lebensleistungen verstanden werden konnte.

  5. e.

    auf den politischen Verschiebungen infolge des Krieges in der Ukraine. Süß skizziert die Nachwirkungen der Entspannungspolitik der 1960er und 1970er Jahre auf die Russlandpolitik der SPD bis 2022, die selbst durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die russische Intervention in der Ostukraine 2014/2015 nicht reflektiert wurden. Zudem streicht er heraus, dass seit dem 24. Februar 2022 nicht einmal mehr die Optimisten an die Hoffnungen der Entspannungspolitik glauben.

Die stärksten Teile der Darstellung bei Süß sind seine Analysen der ideologischen Begründung der Agenda-Politik, der Folgen dieser Politik für große Teile der traditionellen SPD-Stammwählerschaft, des Rückgangs des Wählerzuspruchs und der Versuche der SPD, durch die Respekt-Kampagne im Wahlkampf 2021 ein sozialpolitisches Kompetenzimage zurückzugewinnen.

Zusammenfassend hält Süß fest, dass der Wahlerfolg der SPD 2021 „Ausdruck einer sehr besonderen historischen Konstellation“ (S. 186) gewesen sei. Umso bedauerlicher ist es, dass er keine minutiöse Analyse des Wahlkampfverlaufs 2021 und vor allem der Gründe für das Abstürzen der Konkurrent_innen Armin Laschet von der CDU und Annalena Baerbock von den Grünen liefert, die doch essenziell für den Erfolg der SPD gewesen sind.

Ebenso bemerkt er, dass die „Geschichte der SPD eingebettet [sei] in einen viel grundlegenderen Veränderungsprozess, den wir seit den 1970er Jahren beobachten können“ (S. 11). Doch genau diesen Wandel des historischen Kontextes analysiert Süß nicht. Insbesondere fehlt eine Darlegung davon, wie die SPD die Wiedervereinigung – genauer die Schwerpunktverlagerung durch das Fehlen der innerdeutschen Systemkonkurrenz, die gesellschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung und des Zusammenbruchs der bipolaren Weltordnung – verarbeitet hat. Mit dieser historischen Kontextualisierung der SPD-Politik seit den 1990er Jahren hätte Dietmar Süß die kulturellen, sozialen und ökonomischen Faktoren für deren Wandlungen innerhalb der letzten 30 Jahre klarer herausarbeiten können als mit seiner Konzentration auf die einsamen Entscheidungen der Parteispitzen.