„Regieren in Dörfern“ ist ein wichtiges Buch. Es lehrt uns: Ländliche Räume waren „nicht das Andere der modernen Gesellschaft, sondern ein Teil von ihr“ (S. 439). Anette Schlimm fragt danach, wie dörfliche Akteurinnen und Akteure Mitteleuropas mit den tiefgreifenden Veränderungen der Zeit von 1850 bis 1950 umgingen, wie Landgemeinden regiert wurden und sich selbst regierten (S. 21).

Die Autorin führt einen mikrohistorischen Vergleich dreier Landgemeinden durch, die in Brandenburg, Oberbayern und im Elsass liegen. Diese Fallbeispiele ermöglichen ihr generalisierende Schlussfolgerungen, weil sie ihre Lokalstudien um Überlieferungen aus anderen Gemeinden, übergeordneten Ebenen der jeweiligen Staatswesen oder zivilgesellschaftlichen Debatten erweitert. Ihre Konzeption verbindet die Modernetheorie Christof Dippers und Lutz Raphaels mit der Politiktheorie Pierre Rosanvallons und Michel Foucaults Gouvernementalitäts-Ansatz.

Im ersten Teil ihrer Analyse stellt Schlimm dar, wie sich ihre drei Beispielgemeinden immer stärker in die übergeordneten Staatsverwaltungen integrierten. Dabei arbeitet sie die Handlungsspielräume der lokalen Akteure heraus, die besondere Position der Gemeindevorsteher „zwischen Dorf und Staat“ und die Bedeutung des Gemeindeeigentums, das teilweise noch aus frühmodernen Formen lokaler Gemeinschaft stammte. Im dritten Teil macht sie das Ausmaß der immer tiefergehenden Eingriffe der übergeordneten Ebenen des Staates in die Abläufe der ländlichen Gesellschaft deutlich – von der Kontrolle der Lebensmittelproduktion im Ersten Weltkrieg bis zum Zugriff des NS-Staates auf die Landgemeinden. Darüber hinaus hebt sie hervor, wie die Eliten vor Ort die Vorstellung einer spezifischen ‚Ländlichkeit‘ als Instrument der Abgrenzung von den höheren staatlichen Ebenen nutzten. Den Kern von Schlimms Studie bildet der zentrale zweite Teil. Er illustriert das Zusammenwirken von Gouvernementalisierung, Ausweitung der Staatstätigkeit auf lokaler Ebene und der Herausbildung von ‚Ländlichkeit‘.

Die Autorin kann zeigen, dass die Verwaltungen ländlicher Gemeinden nicht einfach Erfüllungsgehilfen der höheren Ebenen des Staatsapparats waren, sondern den Umgang mit den vielfältigen Veränderungen mit diesen Instanzen aushandelten. Dabei nutzten sie das sozialromantische Konstrukt ‚Ländlichkeit‘ für die eigene Positionierung gegenüber den übergeordneten staatlichen Akteuren. Schlimm bestätigt damit zwei zentrale Ergebnisse der „Staat-im-Dorf“-Forschung: 1. Auch ländliche Gemeinden wurden in die Verwaltungen des modernen Staates integriert. 2. Die Ausweitung der Staatstätigkeit in die sozialen, kulturellen und Verkehrsinfrastrukturen hinein ist auch in ländlichen Gemeinden wirksam.

Schlimm hat eine wegweisende Pionierstudie vorgelegt. Sie führt die „Staat-im-Dorf“-Forschung nicht nur weiter, sondern wagt auch den Schritt in das Zeitalter der Weltkriege – mit großem Erkenntnisgewinn! Sie zeigt, wie die kommunalen Eliten auf die Herausforderungen der Basisprozesse der Modernisierung – auf Bürokratisierung und Verrechtlichung des Verwaltungshandelns, Migrationsbewegungen und wirtschaftliche Transformationen – mit ihren spezifischen Deutungen von Ordnungsmustern wie ‚Traditionalität‘ und ‚Ländlichkeit‘ reagierten. Letztere hatten unterschiedliche Akzente, von Volkstümlichkeit über Abgrenzung von der übergeordneten Verwaltung bis hin zur Identitätskonstruktion. All dies diente der Konstruktion eines scharfen Antagonismus von Landgemeinde einerseits und den übergeordneten Ebenen des Staates sowie ‚der Stadt‘ andererseits.

Problematisch ist, dass die Autorin in ihren Deutungen den scheinbaren Antagonismus zwischen Staat und Gemeinde, den ihre Quellen und ein Teil der Forschungsliteratur suggerieren, vielfach übernimmt. Doch widerspricht sie dieser Position selbst, indem sie in Anknüpfung an andere Forschungen zeigt, dass die politisch-administrativen Landgemeinden moderner Staaten selbst ‚Staat‘ sind. Sie schreibt von der Gemeindeverwaltung als „unterster Ebene der Staatsverwaltung“ (S. 336). Ihre zentralen analytischen Instrumente, die Begriffe von ‚Staat‘ und ‚Gemeinde‘, schwanken zwischen einer antagonistischen und einer integrativen Position. Hier hätte sie sich zumindest entscheiden müssen. In eigener Sache muss ich kritisieren, dass Anette Schlimm meine Aussage über den Quellenwert kommunaler Finanzrechnungen missversteht, indem sie mir die Auffassung unterstellt, nur solche Quellen seien für eine Analyse der kommunalen Verwaltungspraxis geeignet. Ebenso falsch ist ihre Behauptung, ich berücksichtige bei der Auswertung kommunaler Finanzen lediglich die Ausgaben. Richtig ist dagegen, dass ich eine vollständige, systematisch vergleichende Untersuchung komplett überlieferter Gemeinderechnungen von vier politisch-administrativen Landgemeinden durchgeführt habe, die Einnahmen und Ausgaben gewichtet (S. 171, 188).

Von diesen Fehlern abgesehen, hat Anette Schlimm ein verdienstvolles Buch vorgelegt. Geleitet von ihrer gut durchdachten theoretischen Konzeption hat sie ihre hoch relevanten Forschungsfragen trotz einer disparaten Überlieferung überzeugend beantwortet. Ihre Deutungen setzen auch das aktuelle Theorieangebot virtuos ein, wenn sie beispielsweise mit Pierre Bourdieu zeigt, wie wirtschaftliches zu politischem Kapital wird. Zentrales Ergebnis der Studie ist, dass die führenden Akteurinnen und Akteure ländlicher Gemeinden die tiefgreifenden Veränderungen der untersuchten Zeitspanne aktiv mitgestalteten. Dabei nutzten sie das Konzept der ‚Ländlichkeit‘, um den Gegensatz zwischen übergeordneten Ebenen des Staates und der kommunalen Ebene zu schärfen und ihre Sonderinteressen durchzusetzen. Der Autorin ist eine Geschichte ländlicher Gemeinden Mitteleuropas in einem Jahrhundert tiefgreifender Umbrüche gelungen, die unser Verständnis von ‚Ländlichkeit‘, Durchstaatlichung und Ausweitung der Staatstätigkeit auf kommunaler Ebene auf eine neue Stufe hebt.