Es gehört zu den spezifischen Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts, dass in den Weltkriegen nicht nur eine in diesem Ausmaß unerwartet hohe Anzahl von Menschen getötet wurde, sondern auch, dass im Zusammenspiel von maschineller Zerstörungsgewalt und dem Einsatz wissenschaftlich-medizinischer Mittel zum Erhalt von Leben immer mehr Soldaten schwerstverletzt und traumatisiert überlebten. Vor diesem Hintergrund, aber auch unter dem Eindruck der Jugoslawien-Kriege, plädierte Michael Geyer Mitte der 1990er Jahre dafür, die Geschichte von Kriegen und der europäischen Nachkriegsgesellschaften vor allem als eine Geschichte der „Verwundung und Zerstörung des menschlichen Leibes und des gesellschaftlichen Körpers“ zu begreifen und in diesem Zusammenhang Fragen nach den „Bedingungen des Überlebens“ in den Mittelpunkt zu rücken.Footnote 1 Die Forschung hat in den letzten beiden Jahrzehnten darauf aufmerksam gemacht, dass Kriegsversehrte schon zu ihren Lebzeiten in Kriegsopferstatistiken oft marginalisiert und möglicherweise auch deshalb von der Geschichtsschreibung lange Zeit kaum differenziert wahrgenommen worden sind. Hinzu kommt, dass diese Gruppe vor allem im Zweiten Weltkrieg von der noch unvorstellbar größeren Zahl der zivilen Opfer überschattet wurde.

In Frankreich waren nach dem Ersten Weltkrieg circa 1,1 Millionen Menschen kriegsgeschädigt.Footnote 2 Ana Carden-Coyne zufolge hinterließ der Erste Weltkrieg in Großbritannien und seinen Überseegebieten schätzungsweise 2 Millionen Verwundete, von denen knapp über 1,2 Millionen von der Westfront in Heimatlazaretten behandelt wurden, was bei den meisten von ihnen auf eine dauerhafte Schädigung hinweist (S. 4). Nach Deutschland sollen nach Schätzungen von Robert Weldon Whalen 2,7 Millionen schwergeschädigte Männer heimgekehrt sein.Footnote 3 Verena Pawlowsky und Harald Wendelin weisen darauf hin, dass 1922 in Österreich etwa 4 Prozent der Bevölkerung als Kriegsgeschädigte oder -hinterbliebene auf Unterstützungszahlungen angewiesen waren (S. 13). In seiner US-amerikanischen Veteranengeschichte des 20. Jahrhunderts erinnert John Kinder daran, dass 74 Prozent der rund 800.000 US-Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg direkt an Kampfhandlungen beteiligt waren, anschließend psychiatrischer Behandlung bedurften und rund 38 Prozent davon dauerhaft als dienstunfähig aus der Armee entlassen wurden, was bis heute der Mehrheit der Bevölkerung unbekannt sei (S. 262). Martin Crotty Neil J. Diamant und Mark Edele nennen die Zahl von 25 Millionen Veteranen, die aus dem „Großen Vaterländischen Krieg“, heimkehrten, was 15 Prozent der damaligen Bevölkerung in der Sowjetunion entspricht (S. 3). Elsbeth Bösl gibt in ihrer Arbeit zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik für die 1950er Jahre 1,5 Millionen Kriegsgeschädigte des Zweiten Weltkrieges an. Insgesamt machten die Kriegsgeschädigten beider Weltkriege in diesem Jahrzehnt circa 3 Prozent allein der bundesrepublikanischen Bevölkerung aus (S. 23).

Bei der Beurteilung von Kriegsversehrtenstatistiken ist zu bedenken, dass sie nur Invaliden erfassen, deren Leiden auch als kriegsverursacht und erwerbsmindernd anerkannt worden sind und dass sich die Bemessungsgrundlage für ihren Rentenstatus im Verlaufe des 20. Jahrhunderts verändert hat (so auch Pawlowsky/Wendelin, S. 46–51 und Kapitel 14). Für den Ersten Weltkrieg kann festgehalten werden, dass sich dieser Umstand vor allem für jene Kriegsheimkehrer von Vorteil erwies, deren Gesundheitsschäden durch äußerlich sichtbare Verletzungen wie den Verlust von Gliedmaßen und sensorische Beeinträchtigungen belegt werden konnten. Demgegenüber stand die viel größere Gruppe derer, die unter anderem mit inneren und/oder psychischen Leiden zurückkam. Wenn solche, nur schwer an äußeren Einwirkungen festzumachende Krankheiten überhaupt Eingang in die Versehrtenstatistik fanden, dann eher in unspezifischen Sammelkategorien. In der Leidenshierarchie rangierten sie entsprechend weiter unten, auch deshalb, weil den Betroffenen von medizinischen Experten häufig eine schwache Vorkriegskonstitution, mangelnde Willenskraft oder Simulation unterstellt wurde.

Im Folgenden werden Arbeiten aus den letzten 15 Jahren vorgestellt, die sich schwerpunktmäßig mit der Gruppe der dauerhaft geschädigten Invaliden im 20. Jahrhundert befassen. Es handelt sich dabei um Studien über beide Weltkriege und Nachkriegsgesellschaften in Deutschland, Österreich, Italien, den USA und Großbritannien, aber auch um übergreifende Publikationen zur Kriegsversehrtengeschichte, die weitere Länder und Kriege berücksichtigen. Während Verena Pawlowsky und Harald Wendelin, Pierluigi Pironti und Elsbeth Bösl vor allem der Bedeutung der Kriegsgeschädigtenfrage für den modernen Sozialstaat nachgehen, Nils Löffelbein und John Kinder sich mit den Kämpfen der Veteranen um Anerkennung ihrer Leiden zwischen Symbolpolitik und Erinnerungskultur befassen, widmen sich Heather Perry, Beth Linker, Julie Anderson und Ana Carden-Coyne den Strategien der ‚Überwindung von Kriegsverletzungen durch medizinische und soziale Rehabilitationsmaßnahmen. Diese Studien lassen sich damit als Beiträge zur Geschichte der nationalstaatlichen Invalidenpolitik sowie zur Sozial- und Medizingeschichte des Krieges lesen. Bösl, Linker, Carden-Coyne und Kinder sowie David Gerber, Kevin McSorley, Stephen McVeigh und Nicola Cooper, Sebastian Schlund und Stephanie Wright sowie Crotty, Diamant und Edele sind zugleich einer neueren Veteranengeschichte verpflichtet, in der der gesellschaftliche Umgang mit Kriegsversehrungen im Zentrum steht und die zu transnationalen Vergleichen anregt. Sie können sich insofern mit Sabine Kienitz’ bahnbrechenden, multiperspektivischen Studie zum beschädigten Körper des Ersten Weltkrieges messen lassen, die ihre Aufmerksamkeit 2008 den am Körper der Geschädigten ansetzenden gesellschaftlichen, medizinischen, technischen und pädagogischen Diskursen und Praktiken zur Konstruktion und Bewältigung des Versehrtenproblems gewidmet hat. In der Berücksichtigung der vor allem männlichen Kriegsversehrten, zu denen auch die erwähnten Erscheinungen fruchtbare Erkenntnisse liefern, liegt aus unserer Sicht der übergreifende Mehrwert für eine Gesellschaftsgeschichte des Jahrhunderts der Extreme, in der die Geschichte der überlebenden Kriegsteilnehmer ihren selbstverständlichen Platz finden sollten.

1 Sozialpolitische Dimensionen

„Es bedurfte“, so bemerkte Michael Geyer schon 1983, „spezifischer Leistungen der Kriegsopfer, der Gesellschaft und des Staates, um die Friedensordnung so zu organisieren, dass auch die Opfer des Krieges in ihr heimisch werden konnten.“Footnote 4 Wie er in seiner vergleichenden Studie für Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg gezeigt hat, war die Kriegsopferfürsorge in diesen Ländern das Ergebnis von jeweils im Detail unterschiedlichen politischen und sozialen Kompromissen. Dabei mussten sich die Interessenorganisationen der Überlebenden mit ihren Forderungen erst gegenüber anderen gesellschaftlichen Bündnissen und politischen Positionen durchsetzen. Im Zuge dieser Aushandlungsprozesse wurden Kosten und Verluste definiert und festgelegt, wem beispielsweise der Status eines Invaliden zukam und wer einen Anspruch auf Heilbehandlung und Rehabilitation geltend machen konnte, nachdem sein Leiden von den Behörden anerkannt worden war.Footnote 5 Für die Frage nach den „Bedingungen des Überlebens“ ist folglich mit zu reflektieren, wie es zu den jeweils geltenden gesetzlichen Bestimmungen gekommen ist, welche Expertengruppen sich mit ihren Vorstellungen durchgesetzt haben und wie diese zur Vorlage für sozialpolitische Entscheidungen werden konnten.

Die neueren Studien zur Bedeutung der Invalidenfürsorge für die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates folgen überwiegend dieser Betrachtungsweise. Sie widmen sich den politischen und sozialen Kontexten des durch den Ersten Weltkrieg induzierten Wandels in der Versorgung der Kriegsopfer, wobei sie unterschiedlich tiefe Einblicke in die Verwaltungspraxis geben und mitunter auch die Perspektiven der Kriegsopferbewegungen einbeziehen. Pawlowsky/Wendelin verfolgen Kontinuitäten und Brüche vor, im und nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich, während Pironti diese vergleichend in Deutschland und Italien untersucht. Im Ländervergleich zeigt sich, wie noch während des Krieges die Voraussetzungen für wohlfahrtsstaatliche Neuerungen geschaffen wurden, die nach Kriegsende im Zuge von teilweise revolutionären gesellschaftlichen Veränderungen dann auch durchgesetzt werden konnten. Während Pawlowsky/Wendelin für ihre Analyse Bestände aus amtlichen Archiven konsultiert haben, beschränkt sich Pironti auf publizierte Quellen, die es ihm weniger ermöglichen, die Aushandlungen zwischen verschiedenen Akteuren in ihren Wechselwirkungen nachzuvollziehen.

Pawlowsky/Wendelin zeigen in ihrer Monografie „Wunden des Staats“ beispielsweise ausführlich, wie aus den Wunden des Krieges allmählich solche des Wohlfahrtsstaats wurden und welche Schubwirkung von der Invalidengesetzgebung für die moderne staatliche Sozialpolitik in der Ersten Republik ausging. Weil sie den behördlichen Umgang mit den Kriegsgeschädigten, wie etwa in verschiedenen Institutionen der Invalidenschulung (S. 123–131), bis ins Detail verfolgen, gelingt es ihnen, das von ihnen so bezeichnete „Pflichtendreieck aus Wehrpflicht, Versorgungspflicht und Arbeitspflicht“ nachvollziehbar zu machen, das für den modernen Wohlfahrtsstaat handlungsleitend wurde (S. 18). Die in der Sozialpolitikgeschichte gängige Frage nach dem Erfolg oder Misserfolg der Fürsorgemaßnahmen für die Rückführung der Invaliden in den Arbeitsprozess greifen sie immer wieder auf, betrachten einzelne Beispiele aus verschiedenen Blickwinkeln und gelangen auf diese Weise zu einer differenzierten Antwort. Zwar deuten Pawlowski/Wendelin das österreichische Beispiel als Erfolgsgeschichte, übersehen aber auch nicht die damit verbundene soziale Problematik zwischen Arbeitspflicht und -zwang. Sie wird in ihrer Studie besonders deutlich, wenn die gesetzgebende Praxis nicht nur aus Sicht der amtlichen Akteure, sondern auch aus Sicht der betroffenen Kriegsgeschädigten aus den Akten heraus rekonstruiert wird. Dabei erweist sich die These vom „Pflichtendreieck“ als ein brauchbarer Schlüssel zum Verständnis des modernen Wohlfahrtsstaates, der – so ließe sich weiterführen – noch lange nach dem Ersten Weltkrieg von Bedeutung blieb.

Im Unterschied dazu ist Pirontis Studie „Kriegsopfer und Staat“ noch einem weitgehend traditionellen Politikverständnis verhaftet, was den Autor daran hindert, neuere Perspektiven für die Geschichte der Kriegsopferfrage in Deutschland und Italien zu entwickeln. Die staatlichen Eingriffe in das bis zum Krieg regional unterschiedlich organisierte und auf private Wohltätigkeit angewiesene System interpretiert er als eindimensionale Top-down-Reaktion auf die Verarmung der Kriegsgeschädigten, -witwen und -waisen. Zweifellos ist ihm zuzustimmen, wenn er die Maßnahmen zur Zentralisierung, Vereinheitlichung und Kontrolle der nun vom Staat koordinierten Hilfsangebote als zu zögerlich und auch als nicht ausreichend kritisiert, denn sie entsprachen weder den Erwartungen der Opfer noch konnten sie mit dem sich rasant entwickelnden Bedarf Schritt halten. Und es ist interessant zu verfolgen, wie beide Länder sich bezüglich Ausgangssituation, Geschwindigkeit der Veränderungsprozesse und Kriegsausgang voneinander abhoben, aber dennoch tendenziell den gleichen sozialstaatlichen Weg in der Kriegsopferpolitik einschlugen.

Letztlich bewertet Pironti die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in demokratiepolitischer Hinsicht aber als Misserfolg, weil es weder in Deutschland noch in Italien gelungen sei, die Gruppe der Kriegsgeschädigten in die Republik zu integrieren. Die Gründe, die er dafür angibt, tragen in ihrer Pauschalität allerdings kaum zu einem differenzierteren Verständnis der Problematik bei. Seine implizite Erwartung, die Betroffenen hätten über ihre Vertretung in den Verbänden hinaus direkter am Gesetzgebungsprozess beteiligt werden sollen, verkennt die damaligen Machtverhältnisse und wird der Beurteilung der historischen Situation kaum gerecht. Auch sein Urteil, viele medizinische Experten hätten „im Laufe des Krieges ihre soziale und humanitäre Mission“ (S. 513) vernachlässigt, als sie in paternalistischer Manier moralischen Druck auf die Kriegsgeschädigten ausübten, sich der beruflichen Rehabilitation nicht zu verweigern, geht am komplexen Beziehungsgeflecht zwischen Staat, Militär, Medizin und Gesellschaft vorbei, welches die fragile gesellschaftliche Umbruchsituation nach Kriegsende beherrschte. So galt es in den westlichen Staaten gegenüber der Praxis vergangener Kriege als kultureller Fortschritt, die verwundeten Soldaten erst aus dem Militär zu entlassen, nachdem sie ein Rehabilitationsregime durchlaufen hatten. Zweifelsohne kam der entscheidende Anstoß vor allem von der Medizin im Verbund mit der Wirtschaft, die an den Staat appellierte, seiner ethisch-moralischen Verantwortung auch gegenüber jenen gerecht zu werden, die ihre Gesundheit ohne eigenes Verschulden „für ihr Vaterland geopfert“ hatten.

Schließlich vereinfacht auch Pirontis Kritik an der wenig vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik, die er vor allem auf den Lobbyismus der Agrarier und eine „ruralistische Mentalität“ bei vielen Ärzten und Beamten der Kriegsfürsorge zurückführt, die historischen Umstände solcher Entscheidungsprozesse (S. 272 f.). Als beide Staaten schon bald nach Kriegsende durch Inflation unter ökonomischen Druck gerieten und zum Mittel der Reduktion der Anspruchsberechtigten griffen, ließ sich die ohnehin politisch zersplitterte Kriegsopferbewegung leichter von der entstehenden nationalsozialistischen beziehungsweise faschistischen Bewegung vereinnahmen. Mit seiner Deutung, dass die moderne Sozialpolitik bezüglich der Kriegshinterbliebenen bestehende Ungerechtigkeiten eher zementierte als aufhob und somit vor allem Symbolpolitik blieb, zieht Pironti eine eher negative Bilanz – im Unterschied zu Pawlowsky/Wendelin, die bei aller Detailkritik die Berücksichtigung der Kriegsgeschädigten in der Invalidengesetzgebung als Akt ihrer gesellschaftlichen Anerkennung bewerten (S. 505–525).

Elsbeth Bösl schließt mit dem westdeutschen Beispiel nach 1945 an eine derartige Geschichte der Sozialpolitik an, obschon sie in produktiver Weise den Blick auf die Veteranen um die Perspektive der disability studies erweitert. Im Zentrum ihres Buches „Politiken der Normalisierung“ steht die Behindertenpolitik, die sie als eine Auseinandersetzung ergründet, an der verschiedenste Akteure – so aus der Medizin und Wissenschaft, der staatlichen Sozialpolitik, aber auch aus der Wirtschaft und Öffentlichkeit – beteiligt waren. Sie beginnt ihre Untersuchung in der Gründungsphase der Bundesrepublik und behandelt den Zeitraum bis in die 1970er Jahre. Überzeugend interpretiert Bösl die wesentliche Formationsphase der bundesrepublikanischen Behindertenpolitik als eine, die trotz aller Transformationen im Wesentlichen einem Defizitdiskurs verhaftet geblieben war.

Bösl zeigt im Detail, dass der kriegsversehrte Mann in der frühen Bundesrepublik die Wahrnehmung, Beurteilung und den Umgang mit Behinderung entscheidend bestimmte. Entsprechend erfuhren behinderte Frauen und Menschen mit psychischen Verletzungen bei Weitem nicht dieselbe sozialpolitische Aufmerksamkeit. Die Verantwortung des Staates und der Gesellschaft leitete sich daraus ab, so Bösls Argument, „dass der Krieg als soziales Ereignis die Behinderung verursacht hatte“ (S. 63). Ferner zeigt sie auf, dass die Behindertenpolitik – auch im Hinblick auf die Kriegsversehrten – im Wesentlichen eine Anpassung an gesellschaftliche Normalitätserwartungen bedeutete und die berufliche Rehabilitation noch sehr lange den Umgang mit körperlichen Einschränkungen prägte. Die Kriegsgeschädigten hatten sich schon während des Ersten Weltkrieges und in der Weimarer Republik in verschiedenen Interessenverbänden zusammengeschlossen. Diese Organisationen kämpften bis zu ihrer Gleichschaltung im Nationalsozialismus gegen Rentenkürzungen und für angemessene Erwerbsmöglichkeiten und gründeten sich nach Kriegsende wieder neu. Aber erst zwischen den 1960er und 1980er Jahren kam es interessanterweise in Abgrenzung zu den Kriegsopferverbänden zur Gründung von Selbsthilfegruppen, die sich dann als Expertinnen und Experten in eigener Sache in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen konnten (S. 17).Footnote 6

Auch wenn es richtig ist, im Arbeitsparadigma eine wichtige, bis in die Jahre des Ersten Weltkrieges zurückreichende Kontinuität der frühen westdeutschen Behindertenpolitik zu erkennen, hätte man gerne etwas mehr aus der behindertenhistorischen Perspektive über die Möglichkeiten der Kriegsgeschädigten erfahren, sich jenseits der von ihnen erwarteten Fähigkeit zur Arbeit in klassischen Männlichkeitsbildern des Alltags zu behaupten, so etwa als Vater, Ernährer und Ehemann. Ferner ignoriert eine solche Engführung auch die sich schon in den 1960er Jahren abzeichnende Veränderung der Arbeitswelt und das wohlfahrtsstaatliche, auf Massenkonsum ausgerichtete Gesellschaftsmodell, das Auswirkungen sowohl auf die Artikulation von Bedürfnissen der Betroffenen selbst als auch auf die gesellschaftlichen Normalitätserwartungen hatte. Zu fragen ist daher, ob sich im Umgang mit Kriegsversehrten und ganz allgemein mit Behinderung auch der zunehmende gesellschaftliche Stellenwert des individuellen Glücks zwischen Familienleben, Erwerbsarbeit und Freizeit abzeichnete. Träfe dies zu, müsste Bösls These, dass sich erst im Zuge einer Pluralisierung von Lebensentwürfen seit Beginn der 1970er Jahre die Ziele der Behindertenpolitik hin zu größerer gesellschaftlicher Teilhabe verschoben haben, zumindest partiell schon in die 1960er Jahre zurückverlegt werden, ohne die Impulse zu leugnen, die von den Betroffenenverbänden dann zwanzig Jahre später für die öffentliche Diskussion des Themas ausgingen.

Die meisten der hier diskutierten Studien konzentrieren sich auf einzelne Staaten oder sind – wie die Arbeit von Pironti – vergleichend angelegt. Welche zusätzlichen analytischen Möglichkeiten eine länderübergreifende und international vergleichende Perspektive auf Kriegsversehrungen im 20. Jahrhundert zu eröffnen imstande ist, zeigen auf eindrucksvolle Weise Martin Crotty, Neil J. Diamant und Mark Edele in ihrer gemeinsam verfassten Studie „The Politics of Veteran Benefits in the Twentienth Century“. In diesem 2020 erschienenen Buch untersuchen die Autoren länderübergreifend die Faktoren, die für die materiellen Entschädigungen und den sozialen Status heimkehrender Kriegsversehrter relevant waren, wozu sie die entsprechenden Nachkriegsperioden in Australien, China, Japan, Taiwan, Deutschland, Großbritannien, den USA und der Sowjetunion in den Blick nehmen. Vor allem können sie durch den internationalen Vergleich herausarbeiten, dass es, was die sozialpolitische Dimension angeht, historisch keine Korrelation zwischen Sieg oder Niederlage und der Versorgung von verletzten Veteranen gibt. Die Annahme, dass Staaten, die aus einem Krieg siegreich hervorgegangen waren, eher dazu tendierten, Kriegsversehrten einen besonderen Status einzuräumen und sie materiell zu unterstützen, entkräften die Autoren etwa durch den Hinweis auf die sozialpolitischen Maßnahmen in den USA und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg und in der Sowjetunion und China nach dem Zweiten Weltkrieg, wo die verletzten Veteranen viele Jahre lang im Abseits standen und nur sehr begrenzte Unterstützung erfuhren. Auch können die Autoren aufzeigen, dass die Frage, ob die verletzten Veteranen in eine autoritär oder demokratisch verfasste Gesellschaft zurückkehrten, für ihren sozialen Status und die Unterstützungsleistungen eher nebensächlich war (S. 93). Trotz der ausgesprochen unterschiedlichen individuellen Erfahrungen der jeweiligen Kriegsversehrten gilt, dass die entscheidenden Variablen, die den sozialen Status und die materielle Entschädigung von Kriegsversehrten beeinflussten, ihre politischen Bemühungen, ihr Organisationsgrad und eine erfolgreiche Mobilisierung unter den jeweiligen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen waren: „[t]he single most important variable for veteran success is the existence of a well-organized, tactically clever, purposeful, and united veterans’ movement“ (S. 121).

2 Symbolpolitik und Erinnerungskultur

Kriegsversehrung wurde in den Nachkriegsgesellschaften nicht nur als ein soziales und wirtschaftliches Problem wahrgenommen, sondern sie besaß auch eine immense symbolische Dimension. In der Figur des versehrten Veteranen habe man die zerstörerischen Folgen der Kriege und die Herabwürdigung der Nation durch die militärische Niederlage gesehen, konstatierte Kienitz in ihrem Buch „Beschädigte Helden“ für die deutsche Seite im Ersten Weltkrieg (S. 22 f.), ein Argument, das in ähnlicher Weise auch von Svenja Goltermann 2009 in ihrer viel rezipierten Studie „Die Gesellschaft der Überlebenden“ für die bundesrepublikanische Nachkriegszeit aufgegriffen wird (S. 85). Aufschlussreich sind die Unterschiede im Umgang mit den Kriegsversehrten. So wurde in der Weimarer Republik beispielsweise als politische und moralische Konsequenz aus dem Ersten Weltkrieg bewusst auf die Inszenierung offizieller Rituale des Kriegsgedenkens verzichtet. Im Unterschied hierzu inszenierte etwa die französische Delegation bereits die Unterzeichnung der Versailler Verträge unter Beteiligung eigener Kriegsgeschädigter.Footnote 7 An wichtiger Stelle in der politischen Inszenierung der deutschen Kriegsschuld stand die Gruppe der gueule cassées, für die stellvertretend fünf Gesichtsverletzte dem internationalen Publikum sowohl die von den Deutschen angerichteten Kriegsgräuel als auch den heldenhaften Einsatz der siegreichen französischen Nation vor Augen geführt haben. Gleichzeitig wurde ihre Anwesenheit als eine Geste der nachholenden Zeugenschaft inszeniert, denn die deutsche Delegation musste zur Vertragsunterzeichnung im Spiegelsaal von Versailles zuerst an den verwundeten französischen Veteranen vorbeischreiten.Footnote 8

Wie aber konnte die nationalstaatliche Affirmation und Sinnstiftung funktionieren, wenn die Kriegsverletzungen so einschneidend waren, dass sie sich für die Besiegten kaum als Identitätsangebot eigneten? Nils Löffelbein verknüpft in seiner Studie „Ehrenbürger der Nation“ überzeugend Ansätze aus der Kulturgeschichte des Politischen mit einer Analyse der organisatorischen Rahmenbedingungen und nimmt neben der Sozialpolitik auch die symbolpolitischen Implikationen dieser Thematik in den Blick. Im Zentrum seiner Studie steht der Verband der Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung (NSKOV), mit dem die Kriegsopferorganisationen der Weimarer Republik gleichgeschaltet wurden. Löffelbein fragt nach der Rolle der Kriegsgeschädigten im NS-Staat sowie ihrer Integration in die nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘. Zwei wesentliche Ergebnisse lassen sich seiner Arbeit entnehmen: Erstens kommt er zu dem Schluss, dass die Kriegsgeschädigten umfassend für die politischen Ziele der Nationalsozialisten „instrumentalisiert“ (S. 16) wurden, wobei er mit dem einseitig verwendeten Begriff der „Instrumentalisierung“ das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Kriegsgeschädigten und den Institutionen von Partei und Staat im Nationalsozialismus nur ansatzweise zu fassen bekommt.Footnote 9 Zweitens – so der Autor – ging die symbolische Aufwertung der Kriegsgeschädigten mit einer Abwertung der materiellen Kriegsopferentschädigung einher, womit er zusätzliche Erklärungen auf die Frage anbietet, warum sich die Kriegsgeschädigten in Deutschland mehrheitlich von der Weimarer Republik abwendeten, und damit eine Lücke in Pirontis Studie schließt.

Zu Recht weist Löffelbein darauf hin, dass die Kriegsversehrten in der Weimarer Republik ein wichtiges Wähler- und Protestpotenzial bildeten, welches sich angesichts des weitgehenden Verzichts auf eine offizielle symbolische Würdigung ihrer Kriegsopfer und der Kürzungen ihrer Renten im Zuge der Weltwirtschaftskrise immer leichter mobilisieren ließ. Er zeigt auf, wie sehr sich die Nationalsozialisten dieser symbolpolitischen Lücke bewusst waren und sich als Partei, zu deren Gründungsmythos das „Erbe der Front“ gehörte, nach 1933 in einer „Symboloffensive“ (S. 280) dieser ungelösten Problematik aus der Weimarer Republik bemächtigten. Die symbolische Würdigung erfolgte als Bestandteil einer Einforderung der Restitution soldatischer und nationaler Ehre, die Löffelbein beispielhaft anhand der Kriegsopfertage und Ehrenkreuze genauer untersucht. Die Beständigkeit des Topos vom männlich konnotierten „eisernen Willen“, der den Kriegsgeschädigten schon während des Ersten Weltkrieges durch die Psychiatrie und Orthopädie abverlangt wurde, um ihre Leiden zu überwinden, hätte sicher noch stärker berücksichtigt werden können.Footnote 10 Nichtsdestotrotz gelingt es ihm herauszuarbeiten, dass im nationalsozialistischen Deutschland nicht die Kriegsverletzung das eigentliche Problem darstellte, sondern das in Folge des Ersten Weltkrieges erkämpfte, wohlfahrtsstaatliche Versorgungssystem, dessen schrittweisen Rückbau die Kriegsopfer als ehrabschneidend empfanden. Die komplexe Gemengelage der nationalsozialistischen Praxis gegenüber den Kriegsversehrten verdeutlicht Löffelbein geschickt durch den Verweis auf ihre Gleichstellung mit in Straßenkämpfen verletzten NSDAP-Mitgliedern. Somit setzte man einerseits den Straßenkampf der SA gegen politische Gegner mit dem Fronteinsatz gleich, andererseits ging aber damit trotz aller Bemühungen um symbolische Anerkennung der Kriegsversehrten eine Abwertung ihrer spezifischen Gewalterfahrung auf den Schlachtfeldern des Weltkrieges einher (S. 288 f.). In diesem Zusammenhang verweist Löffelbein auch auf jene Gruppen, denen kein Platz in der „soldatischen Ehrengemeinschaft“ zugewiesen wurde, wie die jüdischen Frontkämpfer und psychisch kranke Veteranen, die schrittweise systematisch entrechtet, verfolgt und schließlich zu Opfern der NS-Rassenpolitik gemacht wurden (S. 312–359).

Es gehört zu den Vorzügen dieser Arbeit, dass auch die „propagandistische (Re)Modellierung“ (S. 200) von Kriegsversehrten im Nationalsozialismus ausführlich untersucht wird. Auffällig ist, dass in den Propagandabildern keine Schwerverwundeten gezeigt wurden, sondern Veteranen mit vergleichsweise harmlosen Kopfbinden und Krücken. Damit knüpfte man einerseits an die Plakate in der Kriegsfürsorge während des Ersten Weltkriegs an, andererseits zielte diese Darstellungsweise auf die Durchsetzung eines idealisiert-heroischen Bildes des Kriegsinvaliden (S. 214 ff.). Auch in den öffentlichkeitswirksam inszenierten Aufmärschen wurde penibel darauf geachtet, dass zum Beispiel keine Gesichtsverletzten zu sehen waren. Diese Bildpolitik war gegen den bereits in der Weimarer Periode marginalisierten Pazifismus gerichtet, wie er etwa in den Darstellungen deformierter Köpfe in der Publikation „Krieg dem Kriege“ von Ernst Friedrich oder in den Bildern von Künstlern wie George Grosz oder Otto Dix zum Ausdruck kam, deren Werke nun als ‚Entartete Kunst‘ pathologisiert und verfemt wurden.Footnote 11

Das öffentliche Bild eines vollständig in der NS-Ideologie aufgehenden Veteranen hatte auch Folgen für den Umgang mit Kriegsgeschädigten nach 1945. Gerade wegen ihrer Bedeutung in der nationalsozialistischen Propaganda und angesichts von Vernichtungskrieg und Holocaust fand das Bild der Kriegsgeschädigten als „Erste Bürger des Staates“ schlagartig sein Ende. „Nach dem Untergang des Dritten Reichs sollten diese Männer schließlich weniger staatliche Würdigung und Repräsentation erfahren, als es selbst in der Weimarer Republik jemals vorstellbar gewesen war“, so Löffelbein in seinem Ausblick auf die bundesdeutsche Nachkriegszeit (S. 437). Dafür wäre allerdings mit zu berücksichtigen, dass der Umgang mit den Kriegsgeschädigten eng mit den vergangenheitspolitischen Diskursen verknüpft war, verkörperten sie doch gemeinsam mit Kriegsheimkehrern und Vertriebenen jene Teile der ehemaligen NS-Volksgemeinschaft, die besonders von der Kriegsniederlage betroffen waren. Deshalb ließen sie sich nach 1945 vergleichsweise reibungslos in die Rhetorik der Selbstviktimisierung einordnen, was der Integration der Kriegsgeschädigten in die bunderepublikanische Nachkriegsordnung letztlich dienlich war.Footnote 12

John Kinders Studie zur Figur des kriegsversehrten Veteranen in den USA „Paying with Their Bodies“ liest sich streckenweise als ergänzender Beitrag zu den Untersuchungen von Löffelbein und Pironti, denn auch er interessiert sich für die politischen Funktionen Kriegsgeschädigter im Opferdiskurs und in den Erinnerungskulturen der Nachkriegsgesellschaften. Ausgehend von der in den USA geführten gesellschaftspolitischen Debatte um die Frage nach den finanziellen und gesellschaftlichen Kosten, mit denen vor allem Kriegseinsätze in Übersee verbunden sind, widmet er sich dieser Opfergruppe im historischen Längsschnitt vom Amerikanischen Bürgerkrieg bis zum sogenannten Krieg gegen den Terror. Den einzelnen Kapiteln ist jeweils eine kurze biografische Erzählung vorangestellt, die von Personen handelt, die in der Öffentlichkeit aufgrund ihrer leidvollen Kriegserfahrung oder ihres Engagements in der Veteranenfürsorge Aufmerksamkeit erfahren haben. Darunter befinden sich nicht nur Betroffene, die mit chronischen Krankheiten nach Hause kamen, Autobiografien verfasst haben oder durch Film und Fernsehen einer politischen Öffentlichkeit bekannt wurden, sondern auch Aktivistinnen und Aktivisten aus den Kirchen und der Friedensbewegung, die sich in der Kriegsopferfrage zu Wort gemeldet haben. Kinders Text‑, Bild- und Filmquellen decken ein beeindruckend breites Spektrum ab. Er zieht Parlamentsdebatten, Propaganda- und Unterrichtsmaterialien genauso heran wie Presseartikel, Egodokumente, Kunstwerke, Literatur- und Filmbeispiele.

Vor allem der dritte Teil des Buches („Mobilizing Injury“, Kapitel 5 bis 7), der die Phase zwischen den Weltkriegen behandelt, bietet eine fundierte Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Überlebens von Kriegsheimkehrern. Wie in Deutschland kam es auch in den USA nach dem Ersten Weltkrieg zur Gründung zahlreicher Veteranenverbände, die sich an der öffentlichen Debatte um eine angemessene Würdigung der Kriegsopfer beteiligten (S. 153 ff.). Die mit Abstand einflussreichsten Lobbyorganisationen waren die Disabled American Veterans of the World War (DAV) und die American Legion. Beide wurden von ehemaligen Offizieren gegründet, wenngleich die Legion auch Nichtveteranen aufnahm und hinsichtlich Mitgliederzahlen, Finanzkraft, politischem Einfluss und öffentlicher Wahrnehmung die DAV in den Schatten stellte. Während diese aus ihrer Mitgliederstruktur und politischen Unabhängigkeit heraus einen moralischen Führungsanspruch ableitete, war die Legion von Anfang an eng mit der Parteielite der Republikaner verbandelt.

Beide nutzten gezielt die Massenmedien, um sich als Stimme der Veteranen zu inszenieren und Parteien und politische Netzwerke in ihrer Meinungsbildung zu beeinflussen. Interessanterweise verfolgten sie dabei unterschiedliche Visualisierungsstrategien: Während die Legion stets auf die Sichtbarmachung des anhaltenden körperlichen, seelischen und ökonomischen Leids der Veteranen in möglichst schockierender Weise setzte, wollte die weniger finanzkräftige DAV das öffentliche Bild ihrer Mitglieder nicht auf Schmerzen, Narben und Hilfslosigkeit reduziert wissen. Sie konzentrierte sich stattdessen auf die Darstellung ‚mannhafter‘ Vorzeigeinvaliden. Letztlich wurden diese als Idealfiguren eines patriotischen und verantwortungsbewussten Bürgers inszeniert, die eben deshalb einen privilegierten Platz in der Gesellschaft verdienten (S. 165). Obwohl sie politisch erfolgreich waren, gaben sich beide Verbände – anders als etwa der deutsche Reichsbund – keinen Illusionen bezüglich eines langfristigen gesellschaftlichen Engagements für verwundete Kriegsheimkehrer hin. Auch wenn sie mit den staatlichen Wohlfahrtsbehörden kooperierten, pflegten sie ein tiefes Misstrauen gegenüber der Bereitschaft und Fähigkeit des Staates, das ‚Veteranenproblem‘ in ihrem Sinne zu lösen und bauten deshalb ein eigenes soziales und finanzielles Rettungsnetz für ihr jeweiliges Klientel auf (S. 169 f.).

Viele US-amerikanische Weltkriegsveteranen empfanden eine möglichst lebendige Erinnerung an ihre erlittenen Verletzungen als ebenso wichtig wie ihre ökonomische Absicherung. Wie Kinder im Anschluss an Jay Winter argumentiert, bedurften kollektive Formen der Erinnerung einer beständigen Reaktualisierung.Footnote 13 Sie waren stets umkämpft, wobei verschiedene Gruppen nicht nur darum wetteiferten zu bestimmen, wie die Vergangenheit erinnert wird, sondern auch, welchem Zweck die Erinnerung zu dienen hat. Die US-amerikanischen Veteranenverbände richteten ihre Kritik an der offiziellen Erinnerungskultur vordringlich auf deren Neigung, primär die getöteten Soldaten in den Mittelpunkt zu rücken und die überlebenden Kriegsverwundeten zu übersehen. An Denkmälern und Erinnerungsstätten wie auch an schriftlichen, bildlichen und filmischen Verarbeitungen des Themas kreideten sie das weitgehende Fehlen einer expliziten und aus ihrer eigenen Perspektive angemessenen Adressierung des Nachkriegsüberlebens an. Kinder geht dieser Fundamentalkritik genauer nach und erhellt die Problematik anhand seines reichhaltigen Materials in produktiver Weise (S. 194 ff.). Wenigstens drei Gründe arbeitet er für die Unzufriedenheit der Veteranen am offiziellen Gedenken heraus: Im Unterschied zu ihren gefallenen Kameraden interessierten sich überlebende Kriegsveteranen erstens sehr wohl dafür, ob sie als Held erinnert oder vergessen wurden. Schließlich galt ein positives Bild nicht nur als geeignete therapeutische Form der Selbstvergewisserung und als förderlich für die individuelle und kollektive Identitätsbildung, sondern erwies sich auch als entscheidend für die Unterstützungs- und Spendenbereitschaft. Denkmäler, so argumentierten die Veteranen zweitens, seien zwar schön anzusehen, machten aber – anders als Rentenzahlungen und der Zugang zu Freizeitaktivitäten – ihren Alltag nicht erträglicher. Drittens waren sich die Veteranen darüber im Klaren, dass mit der Errichtung von Gedenkmonumenten als Formen kollektiver Kriegserinnerung ein gewisser Schließungseffekt einhergehen kann, weil auf diese Weise der Anlass der Erinnerung der Vergangenheit zugeordnet und von der fortschreitenden Gegenwart symbolisch abgetrennt wird. Weil ihr Leiden anhielt und damit einer anderen Zeitlichkeit folgte, war es für sie weder möglich noch wünschenswert, einen Schlussstrich unter die eigenen körperlichen und seelischen Verwundungen zu ziehen.

Aus Kinders Darstellung dieser Zusammenhänge wird sehr gut nachvollziehbar, warum Kriegsverletzte häufig keine andere Wahl sahen, als ihre Narben öffentlich zur Schau zu stellen und sich auf diese Weise als – um eine Formulierung des Schriftstellers Joseph Roth aufzugreifen – „lebende Kriegsdenkmäler“Footnote 14 zu präsentieren. Dabei mussten sie die Erfahrung machen, dass selbst unübersehbare Wunden interpretationsoffene Zeichen sind und somit nicht zwangsläufig geeignet waren, kollektive und symbolische Anknüpfungspunkte für eine gegenwartsbezogene Erinnerung zu werden. Die Erklärungs- und Einordnungsbedürftigkeit der körperlichen Wunde führte die Veteranen, wie Kinder und zuvor Kienitz für die Situation in Deutschland gezeigt haben, zu einer Reihe von weiteren Problemen. So verband sich auf der individuellen Ebene die Erklärungsnotwendigkeit nicht selten mit einer Reaktualisierung von unangenehmen und schmerzhaften Erinnerungen. Diese schmerzhaften Erinnerungen spielen auch in Goltermanns Studie eine zentrale Rolle, wenn auch in einem anderen Zusammenhang und unabhängig von konkret sichtbaren Kriegsverletzungen. Bei ihr geht es um die Gewalterfahrungen und psychischen Verletzungen ehemaliger Wehrmachtssoldaten, denen sie anhand psychiatrischer Krankenakten aus dem Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel nachspürt. Was in den protokollierten Gesprächen zwischen Patienten und Ärzten zum Vorschein kommt, ist ein eigentümlicher, aber in ihrer Grundtendenz wenig überraschendes Bündel aus Ängsten: vor dem Tod, vor Schmerzen, vor Vergeltung für begangene Kriegsverbrechen, vor dem sozialen Abstieg, vor einem zum Teil ungewohnten zivilen Alltag und in diesem Kontext auch davor, das männliche Ideal des Ernährers und Familienvaters nicht erfüllen zu können.

Oftmals, um mit den Überlegungen von Kinder abzuschließen, gerieten auf der kollektiven Ebene diese Vergegenwärtigungsprozesse bei den Kriegsgeschädigten in Konflikt mit der gesellschaftlichen Erwartung, ihre Leiden ‚männlich‘ und somit stumm zu ertragen, mit der Vergangenheit in diesem Sinne abzuschließen und „nach vorne“ zu schauen (S. 196 f.). Ob nun zur Rechtfertigung von Kriegseinsätzen oder als Argument für deren Abschaffung durch die Antikriegsbewegung – Kriegsversehrung, so bestätigen die Studien von Pironti, Löffelbein und Kindler, war für alle politische Richtungen instrumentalisierbar. Mit dieser Gemengelage mussten sich die Kriegsgeschädigten in ihren jeweiligen Nachkriegsgesellschaften auseinandersetzen. Kinder macht zudem sehr deutlich klar, warum das, was Staat und Gesellschaft im Zeitalter der Extreme den Kriegsversehrten anzubieten hatten, von den Betroffenen nur ansatzweise als Kompensation für ihre im Krieg eingebüßte Gesundheit akzeptiert werden konnte.

3 Medizin und Rehabilitation

Die Frage nach den gesellschaftlichen Folgen von Kriegsversehrungen kann nicht beantwortet werden, ohne hierfür die komplexe Beziehung zwischen Krieg und Medizin zu berücksichtigen. Die Medizingeschichte hat schon in den 1990er Jahren darauf hingewiesen, dass sich medizinische Innovationen und moderne Kriegsführung gegenseitig bedingt haben.Footnote 15 So beschleunigten neuartige Waffensysteme eine bereits angestoßene Spezialisierung in der Medizin, die sich an einzelnen Körperteilen orientierte. Da Verletzte an der Front allenfalls lebenserhaltend behandelt werden konnten und deshalb üblicherweise relativ rasch zur weiteren Beobachtung in die Heimat verwiesen wurden, nutzte das ärztliche Fachpersonal im Kriegsdienst seinerseits die Gelegenheit zum Aufbau klinikähnlicher Fachabteilungen in den Reservelazaretten zur Perfektionierung seiner Therapiemethoden, zumal es nun über die Möglichkeit der Massenanwendung verfügte.Footnote 16 Der Erfolg der medizinischen Spezialisten verdankte sich wiederum dem fachlichen Austausch mit den Feldchirurgen und der Kooperation mit außermedizinischen Institutionen wie der sozialen Kriegsfürsorge. Dabei wurden schon während des Ersten Weltkrieges als wirksam anerkannte Heilmethoden wie beispielsweise die Physiotherapie und privatwirtschaftliche Versorgungsstrukturen wie die Orthopädietechnik unter medizinische Kontrolle gebracht, ins sozialstaatliche Gesundheits- und Versicherungssystem integriert und an dem aus der Kriegswirtschaft übernommenen Rationalisierungsparadigma ausgerichtet, sodass man von der Geburt des modernen Rehabilitationskonzeptes in den Sonderlazaretten sprechen kann.Footnote 17

Die Beschäftigung mit den gesundheitlichen Folgen des Ersten Weltkrieges verstärkte den Trend zur Verwissenschaftlichung vieler medizinischer Praxisfelder, die durch ihre bevölkerungspolitische Brisanz auch öffentlichen Handlungsdruck erzeugten. Davon betroffen waren Infektologie und Epidemiologie, Psychiatrie und Psychologie, aber auch Pharmakologie, Ernährungsforschung, transfusions- und unfallmedizinische Ansätze genauso wie die aktive Anwendung operativer Methoden der Chirurgie auf alle möglichen Körperteile und Organsysteme. In diesem Zusammenhang kam es unter anderem zur wissenschaftlichen Anerkennung der Orthopädie und der Entwicklung von orthopädischen Apparaten und Prothesen, die denen helfen sollten, die ihre Gliedmaßen infolge von Schuss- und Granatverletzungen nicht mehr bewegen konnten oder aufgrund von schweren Zertrümmerungen und Wundinfektionen verloren hatten. In allen kriegführenden Nationen kam es infolge des Ersten Weltkrieges zur Akademisierung der orthopädischen Chirurgie und vielerorts in Fortführung von orthopädischen Sonderlazaretten zur Einrichtung von Rehabilitationszentren.

Mit dem spannungsreichen Verhältnis aus Krieg und Medizin hat sich die Forschung in Deutschland zunächst vor allem am Beispiel der standespolitischen Rolle der Medizin im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg sowie deren Nachwirkungen in der Bundesrepublik beschäftigt.Footnote 18 Erst in den 1990er Jahren erfolgte eine schrittweise Auseinandersetzung mit den Bedingungen und langfristigen Folgen des Ersten Weltkrieges für die Gesundheit der Kriegsteilnehmer und der Zivilbevölkerung. Gemäß der damaligen disziplinhistorischen Fokussierung in der Medizingeschichte richtete sich das Interesse anfangs vor allem auf die Psychiatrie, Bakteriologie und Orthopädie und die von ihren Fachvertretern behandelten Leiden.Footnote 19 Bis heute hat sich unter den medizinischen Handlungsfeldern eine besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit für die psychischen Versehrungen gehalten.Footnote 20 Jenseits der Darstellung von Medikalisierungsprozessen kam es dabei nach und nach auch zu zeitlichen und räumlichen Perspektiverweiterungen sowie dem systematischen Einbezug bisher unbeachtet gebliebenen Quellenmaterials. Dies hat sich infolge befruchtend auf die historische Analyse der vielen Schauplätze ausgewirkt, in denen kriegsgeschädigte Körper im Fokus medizinischer Praktiken standen. So hat in den letzten 10 Jahren die Berücksichtigung von Patienten- und Rentenakten sowie von Ego-Dokumenten, die auch das medizinische Hilfspersonal als Akteur miteinschloss, einen vielfältigen Eindruck vom medizinischen Handeln unter Kriegsbedingungen vermittelt.Footnote 21 Ausdruck dieses erweiterten wissenschaftlichen Interesses sind auch zwei aktuelle deutschsprachige Publikationen zum Ersten Weltkrieg: Heinz-Peter Schmiedebachs bewusst breit angelegte Monografie „Psychiatrische Ordnung in Gefahr“ etwa enthält unter anderem ein Kapitel über die Sonderlazarette für sogenannte Kriegsneurotiker. Am Beispiel des dort praktizierten ausgefeilten Beobachtungs- und Begutachtungssystems zeigt er, wie durch Beibehaltung des militärischen Status der Patienten die psychiatrische Ordnung weit in die Arbeitsordnung der sie beschäftigten Betriebe hineingewirkt hat. Diese unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges ausgeübte ärztliche Praxis kennzeichnet er als Ausdruck eines vor allem von den Militärärzten aktiv betriebenen Rationalisierungsprozesses, der auf die effiziente Gestaltung der Kriegswirtschaft und weitreichende Mobilisierung der menschlichen Ressourcen für die besonderen Herausforderungen im Kriege gerichtet war. Auch in der Studie „Übergangsräume“ von Alina Enzensberger zum Typus des deutschen Heimatlazaretts im Ersten Weltkrieg werden die Erfahrungen unterschiedlicher Akteure in ihrem Zusammenspiel verdeutlicht. Indem die Autorin sich diesem zeitlich befristeten Übergangsraum zwischen militärischer und ziviler Sphäre anhand einer Fülle von Archivmaterial widmet, kann sie das Lazarett nicht nur als Experimentierraum für die Medizin, sondern auch als sozialen Mikrokosmos mit lokalen Eigendynamiken sichtbar machen und zudem noch seine konkrete Einbettung in die bürgerliche Kriegsfürsorge vor Ort aufzeigen.

Die Untersuchungen von Perry, Linker, Carden-Coyne und Anderson sind ebenfalls diesem erweiterten Forschungskontext verpflichtet. Ihre Bücher demonstrieren unterschiedlich deutlich, wie die medizingeschichtliche Perspektive für erfahrungsgeschichtliche, körper- und geschlechtergeschichtliche Fragestellungen geöffnet werden kann. Aufbauend auf frühere Arbeiten von Joanna Bourke, Deborah Cohen, Mary Guyatt und David Gerber betrachten sie Entwicklungen in Deutschland, Großbritannien und den USA mit starkem Fokus auf den Ersten Weltkrieg und schaffen damit auch eine Grundlage für systematische Vergleiche.Footnote 22 Im Zentrum ihres Interesses liegen die am geschädigten Körper der Kriegsversehrten ansetzenden Diskurse und Praktiken, die vordergründig darauf abzielten, das erlittene Leid zugunsten einer gesellschaftlichen Re-Normalisierung aktiv zu überwinden.

Heather Perrys Buch „Recycling the Disabled“ behandelt die sich unter dem Einfluss des Krieges selbst mobilisierende deutsche Orthopädie. Dabei widmet sich Perry einer Disziplin, die eine Prothesengestaltung anstrebte, mit der Kriegsversehrten wieder die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit ermöglicht werden sollte.Footnote 23 Auf der Grundlage von veröffentlichten und archivalischen Quellen kommt sie zum Ergebnis, dass zwar zu Beginn des Krieges vor allem soziale und medizinische Erwägungen für das Engagement der orthopädischen Fachärzte eine Rolle gespielt hatten, aber spätestens ab der Mitte des Krieges die angespannte Arbeitsmarktsituation dafür verantwortlich war, dass es zu einer eindeutigen Hinwendung zur Funktionalität bei der Bewertung von künstlichen Gliedern kam. Dies zeigt Perry insbesondere in ihrem zweiten Kapitel (S. 45–83), in dem sie auf den Bau der sogenannten Arbeits-Arme eingeht, die in erster Linie Beschäftigte in der Industrie, im Handwerk und der Landwirtschaft wieder in Lohn und Brot bringen sollten, aber – wie sie gleichermaßen herausstellt – auch dazu beitrugen, soziale Hierarchien innerhalb der erwerbsfähigen männlichen Bevölkerung, so zwischen Kopf- und Handarbeitern, Industrie- und Landarbeitern, zu stabilisieren. In ihrem Ziel, die Amputierten mit möglichst nützlichen Ersatzgliedern auszustatten, verbündeten sich, so Perrys Argumentation, die Orthopäden mit Ingenieuren und Psychotechnikern und schlossen sich im Zuge dessen der politischen Forderung nach einer wirtschaftlichen Mobilmachung aller noch irgendwie verfügbaren Arbeitskräfte im Sinne eines „totalen Krieges“ (S. 160) an.

Nachdem es trotz der staatlich geförderten Herstellung von Prothesen nicht gelungen war, Ersatzglieder zu schaffen, die sich für die persönlichen Bedürfnisse aller Kriegsversehrten als gleichermaßen brauchbar erwiesen, strebten die Orthopäden die Kontrolle über die Lieferung, Anpassung und Nutzung aller im Auftrag des Heeressanitätswesens hergestellten Exemplare an. Weil sie sich hierbei auf die rein funktionale Wiederherstellung der Beschädigten unter der Maßgabe ihrer Arbeitsbefähigung konzentrierten, sieht Perry darin einen Beleg dafür, dass die Medizin ihre ureigenen Kompetenzbereiche überschritten hatte und zum Bestandteil der Kriegsmaschinerie geworden war. Gerade von den prothesentragenden Kriegsversehrten, die vorrangig in aktiven Posen der Öffentlichkeit vorgeführt wurden, wurde erwartet, dass sie die Moral an der Heimatfront heben würden (S. 133–150). Mit diesem Aspekt haben sich anhand des Propagandamaterials der Kriegsfürsorge auch Kienitz („Beschädigte Helden“, S. 209–238) und vor ihr Christine Beil („Der ausgestellte Krieg“) ausführlich befasst.Footnote 24 Perry spricht schließlich vom „Recycling“ der Kriegsgeschädigten, um ihre Rekrutierung als Arbeitskräfte in der Kriegswirtschaft analytisch zu fassen (S. 158–196). Sie hebt mit diesem Begriff auf die vordergründig als funktional verstandene Re-Mobilisierung der Versehrten ab, die einer Re-Modellierung ihrer Körper, bezogen auf einen vorher als normal empfundenen Zustand, gleichkam. Angesichts der Dauer und Schwere der von der Bevölkerung zu schulternden Lasten wurde auf diese Weise vermittelt, so Perry, dass der Krieg solange noch nicht als verloren gelten könne, soweit auch bei den verwundeten Heimkehrern noch der Wille dazu vorhanden war, auf dem ihnen zugedachten Platz in der Gesellschaft das Letzte aus sich herauszuholen.

Perrys Verdienst besteht darin, den gesellschaftspolitischen Kontext zu verdeutlichen, in dem die Orthopädie in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum akademischen Durchbruch kam. Damit ergänzt sie frühere vorrangig sozialhistorisch angelegte Arbeiten aus der Medizingeschichte. Weil aber andere Akteure in ihrer Darstellung eher unterbelichtet bleiben, vergibt sie das Potenzial, das Autorinnen wie Kienitz vor ihr bereits für die Geschichte der Kriegsversehrung aufgezeigt haben. Aber auch zur Prothetik, die sich stärker als Brücke zwischen Medizin und Rehabilitation betrachten ließe, bleibt noch vieles genauer zu bestimmen: Welche konkreten zeitlich-räumlichen Verflechtungen waren innerhalb einer weitaus komplexeren Akteurskonstellation für die Prothesenentwicklung, -herstellung und -versorgung verantwortlich? Wie gestalteten sich die Interessenlagen und Machtverhältnisse konkret vor Ort? Wo lagen die Widerstände, die überwunden werden mussten? Welche Konflikte rankten sich um die technische Re-Modellierung des kriegsgeschädigten Körpers? Und schließlich: Wie verändert sich die Geschichte, wenn der Blick über die medizinischen Experten hinaus auf die von Rehabilitationsmaßnahmen Betroffenen systematisch erweitert würde? Aufgrund der föderalen Struktur Deutschlands mit unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in urbanen und ländlichen Regionen werden sich solche Fragen vermutlich nicht im Rundumschlag, sondern eher anhand von kleineren Fallstudien sinnvoll beantworten lassen.Footnote 25

Beth Linker hat in ihrer Studie „War’s Waste“ zur Rehabilitationspolitik in den USA die Beziehungen zwischen Medizin, Militär, Staat und Betroffenen genauer in den Blick genommen. Der Fluchtpunkt ihrer Darstellung bildet die 1917 in Form des War Risk Insurance Act verabschiedete Invalidengesetzgebung, die für sie die Abkehr von der vorherigen Praxis aus dem Bürgerkrieg markiert. Bis dahin war allenfalls die Verwahrung und Alimentierung der Betroffenen üblich. Chronisch kranke Veteranen mussten ihren Patriotismus noch nicht damit beweisen, an ihren Arbeitsplatz zurückzuwollen. Mit dem Kriegseintritt rückte nun die physische und berufliche Wiederherstellung der Kriegsgeschädigten ins Zentrum der Invalidenpolitik. Dieser Gesinnungswandel führte dazu, so Linker analog zu Kinder, dass die US-amerikanischen Veteranen im 20. Jahrhundert nicht mehr allein für die Wunden mit Respekt seitens der Mehrheitsgesellschaft rechnen konnten, sondern zunächst beweisen mussten, dass es ihnen inzwischen gelungen war, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Linker argumentiert, dass mit der Verabschiedung des Gesetzes den Verletzungen der Soldaten auf den europäischen Kriegsschauplätzen durch die US-amerikanische Regierung offiziell der Status einer Behinderung verliehen wurden. Diesen Umbruch stellt sie nicht als einen Top-down-Vorgang dar, in dem die Ärzte isoliert handelten, unisono nach finanziellem Vorteil und Kontrolle strebten und Patienten zu medizinischen Fällen reduzierten. Da sie ihr Augenmerk auf die sozialen, politischen und ökonomischen Rahmungen von Krankheit und Behinderung legt, gilt ihr Hauptinteresse der Frage, wie es zu dieser Ethik der Rehabilitation gekommen ist und was infolgedessen Behinderungen im 20. Jahrhundert eigentlich ausmachten, wenn diese seit dem Ersten Weltkrieg mittels medizinischen und sozialen Maßnahmen und der Mobilisierung des Willens der Betroffenen als grundsätzlich überwindbar galten.

Linker betrachtet Rehabilitation in diesem Sinne nicht als ein ausschließlich von Gesundheitsexperten bestelltes Handlungsfeld, sondern ist davon überzeugt, dass erst medizinische Ideen mit sozialen Reformen, kulturellen Wertvorstellungen, professionellem Expertentum und politischen Entscheidungen zusammenkommen mussten, um das neue und bis heute noch weitgehend gültige Versorgungssystem für Kriegsversehrte entstehen zu lassen. In ihrer Geschichte kommt entsprechend der weiten Perspektive auf ihren Untersuchungsgegenstand eine Vielzahl von Akteuren zu Wort. Dazu gehörten neben den Orthopädiemechanikern, deren Auffassungen und Aktivitäten Linker im vierten Kapitel ausführlich darstellt, noch drei weitere Gruppen, denen sie eine eigenständige Handlungsmacht für die Entstehung und Praxis der Rehabilitation zugesteht. Das sind zunächst Vertreterinnen und Vertreter der mit der Orthopädie verbundenen Militärmedizin, hier in Person des leitenden Armeechirurgen General William C. Gorgas und des führenden orthopädischen Chirurgen David A. Silver (Kapitel 5), sowie Krankengymnastinnen (Kapitel 3), die der Gruppe der Kriegsgeschädigten gegenübergestellt werden (Kapitel 6). Linker erinnert daran, dass der weitgehend nichtärztliche Heilberuf der Physiotherapie vornehmlich von jungen Frauen ausgeübt wurde, die in eigens dafür geschaffenen Turnsälen und Geräteräumen nach der Devise „je stärker der Schmerz, desto besser der Heilerfolg“ praktizierten. In Kontrastierung zur offiziellen Propaganda zeigt Linker, dass sich die Kriegsversehrten von der Rehabilitation eine längere medizinische Behandlung erhofft hatten und der medizinischen Auffassung vehement widersprachen, kriegsbedingte Bewegungseinschränkungen ließen sich standardmäßig unabhängig vom jeweiligen Leiden schon nach maximal sechs Monaten Krankengymnastik komplett wieder aufheben.

Linker stützt sich auf einen reichhaltigen Quellenfundus. Er umfasst Korrespondenzen der Veteranen mit den Ämtern genauso wie Selbstdarstellungen in Lazarettzeitungen und die Umfrageergebnisse des Limb Laboratory, dessen Schriftgut in den National Archives zugänglich ist. Hier reparierten, konstruierten und prüften Ärzte und Mechaniker Prothesen, wie dies in Deutschland auch für die Prüfstellen für Ersatzglieder der Fall war. Das Lab wurde zum regulären Bestandteil des Walter-Reed-Militärkrankenhauses, das innerhalb eines Jahres zur Vorzeigeeinrichtung für Rehabilitation und Protheseninnovation in den USA wurde und diese führende Position bis heute beanspruchen kann. Die Abteilungen, die mit der Rehabilitation als neuem Handlungsfeld verbunden waren, übten, so Linker, sogar großen Einfluss auf die Struktur des modernen US-amerikanischen Krankenhauses aus (S. 80 f.).

Die Ergebnisse von Kienitz, Perry, Pironti, Löffelbein und Kinder laden förmlich zum systematischen Vergleich zwischen den damaligen Kriegsgegnern ein. Gemeinsamkeiten lassen sich in den großen Linien, Unterschiede eher im Detail finden, wie an der Prothetik gezeigt werden kann. Auch in den USA wurde sie als notwendige Voraussetzung für die Rehabilitation amputierter Kriegsversehrter angesehen. Hier wie dort waren bis zum Ersten Weltkrieg damit Firmen befasst, für die die Herstellung orthopädischer Apparate und künstlicher Glieder nur ein Geschäftszweig unter anderen ausmachte (Linker: S. 99 f.). In den Vereinigten Staaten stand den Bedürftigen zwar staatlicherseits bereits seit dem Bürgerkrieg eine Summe zum Erwerb von Prothesen zu. Was sie dafür bekamen, blieb aber noch – wie auch in Deutschland – eine Sache der Aushandlung mit den sich als Verkäufer verstehenden Orthopädiemechanikern. Zur ärztlichen Mitsprache bei der Auswahl und Anpassung von Prothesen kam es erst, als Gorgas’ Army Office und das Limb Laboratory gemeinsam begannen, Modelle ihrer Wahl ins militärmedizinische Versorgungssystem zu integrieren. Dabei erwies sich das Militär als großer Treiber in der Massenproduktion und Standardisierung von Prothesen. Dem widersetzten sich aber die Hersteller, befürchteten sie doch zu Recht die Geringschätzung ihrer in handwerklicher Qualitätsarbeit gefertigten Einzelprodukte. Wie Linker zeigt, basierte ihr Geschäftsmodell auf der Erfahrung, dass Prothesen, sollten sie passen und ihre Nutzer zufriedenstellen, so unverwechselbar und individuell zu sein hätten wie der Fingerabdruck der sie tragenden Person (S. 106).

Trotz großer Vielfalt bezüglich des Materials, der Funktionalität und Gestaltung kristallisierten sich in der Versorgung der Kriegsversehrten mit künstlichen Beinen und Armen jeweils zwei Modelle heraus, die von den Akteuren hier wie dort sehr unterschiedlich bewertet wurden. Interessanterweise erhitzte sich in den USA die Diskussion an der Form und Funktion der Beine, während in Deutschland, wie von Perry dargestellt, die Modelle für die Arme stärker im Fokus standen. Das Limb Laboratory beispielsweise präferierte ein neu entwickeltes, als „real artificial leg“ beschriebenes und im Sommer 1918 zum „Liberty Leg“ nobiliertes künstliches Bein, das vor allem durch seine äußerliche Unauffälligkeit überzeugen und kein öffentliches Mitleid mehr erregen sollte (S. 107–110). Dem Militär und den Orthopäden galt es als Fortschritt und dem traditionellen, stabilen und dauerhaften Holzbein überlegen, das billiger war und zur Erstversorgung der amputierten Soldaten in den Lazaretten des US-amerikanischen Roten Kreuzes in Frankreich gute Dienste geleistet hatte (S. 110–114). Silvers Opposition gegen das von ihm ungeliebte Holzbein ging sogar so weit, im Verbund mit seinen orthopädischen Kollegen und Gorgas durchzusetzen, dass alle beinamputierten Veteranen, die in die Heimat zurückkehrten und das Rehabilitationsprogramm am Reed Hospital zu durchlaufen hatten, sich nur mit einem „Liberty Leg“ oder einer vergleichbaren Prothese ausstatten lassen durften. Obwohl die Patientenperspektive in den militärischen Quellen erwartungsgemäß wenig Raum einnimmt, kann Linker doch zeigen, dass viele Soldaten, die ein modernes Bein erhalten hatten, damit aber nicht zufrieden waren, weil sie die Anwendung als zu umständlich und schmerzhaft empfanden, was vor allen Dingen daran lag, dass es nach dem Prinzip „one size fits all“ angefertigt worden war.

Dagegen wurde der vom Limb Laboratory empfohlene, sogenannte Gebrauchsarm von der Herstellerfirma nicht nur damit beworben, dass das Tragen dieses Prothesentyps alternativlos für die Rückkehr zur Arbeit sei, sondern zusätzlich hervorgehoben, dass er auch die Wiederaufnahme vormalig geliebter Freizeitbeschäftigungen ermögliche. Gemäß des ihn begleitenden Werbeslogans „The Arm that Arms You for Work or Play“ (S. 116) verfügte der Funktionsarm – neben anschraubbaren Arbeitsbehelfen, wie sie ebenfalls in Deutschland verbreitet waren – auch über Ansatzstücke für den Freizeitsport, etwa in Form eines Baseball-Handschuhs oder eines Tennis- und Tischtennisschlägers, woran Linker die Orientierung der US-amerikanischen Prothetik am Lebensstil der männlichen, weißen Mittelschicht festmacht (S. 118). Wie Perry und Kienitz gezeigt haben, entzündete sich in Deutschland die Debatte um Form oder Funktion bezeichnenderweise nicht an den Beinen, obwohl es auch hier mehr beinamputierte als armamputierte Kriegsgeschädigte gab. Stattdessen kreiste die öffentliche Diskussion um die Opposition zwischen den sogenannten Schönheitsarmen, die nur zur oberflächlichen Kaschierung des Verlustes dienen sollten und allenfalls für Kopfarbeiter als geeignet galten, und den Arbeitsarmen, die mit dem Versprechen beworben wurden, die Handarbeit wieder zu ermöglichen. In den deutschen Lazaretten gab es zwar Amputiertensport, er war aber Bestandteil des unter militärischer Aufsicht abzuleistenden Rehabilitationsprogramms, diente zur Abhärtung der Stumpfmuskulatur vor der Anpassung von Prothesen. In Deutschland wurde Freizeitsport mit Prothesen erst ab den 1950er Jahren ausgeübt.Footnote 26

4 Körper und Geschlecht

Körper- und geschlechtergeschichtliche Perspektiven spielen in diesem Forschungsfeld eine große Rolle.Footnote 27 Viele Studien zeigen, auf welche Weise die gesellschaftliche Wiedereingliederung von versehrten Veteranen immer auch an bestimmte Vorstellungen vom männlichen Körper geknüpft waren. Die infolge des Ersten Weltkrieges entstandene moderne Kriegsopferversorgung beispielsweise bezog sich in der Hauptsache auf den männlichen Staatsbürger als Familienernährer. Der Staat trat allenfalls als Ersatzernährer durch Zahlung der Renten auf, die den Ausfall für die Erwerbsminderung der Beschädigten beziehungsweise die Versorgung der Witwen und Waisen sichern sollte. Die Studien von Kinder und Anderson bestätigen Elsbeth Bösls Befund (S. 23), dass Behinderung bis in die ersten beiden Dekaden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einer Idealklientel her konstruiert wurde, die sich vornehmlich aus physisch geschädigten Männern zusammensetzte, die ihre Verletzungen in militärischen Auseinandersetzungen davongetragen hatten.

Es waren also vorrangig die sichtbar kriegsgeschädigten Männer, die schon aufgrund ihrer Privilegierung durch die staatliche Invalidenpolitik – so etwa durch entsprechende Verwundetenzulagen für körperliche Einschränkungen in der Berufsausübung – sehr lange die öffentliche Wahrnehmung von Behinderung prägten. Das hatte auch Folgen für die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Kriegsgeschädigten und für die von ihnen bereits im Ersten Weltkrieg betriebene Abgrenzung von anderen, geringer bewerteten Kriegsleiden und zivilen Ursachen einer Behinderung. Als Kriegsverletzung gilt allgemein eine von außen zugefügte, also nicht angeborene und nicht selbstverschuldete körperliche Normabweichung. Diese Konstellation hat im Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht und der Generalmobilmachung in beiden Weltkriegen historisch dazu geführt, dass der Gruppe der Kriegsgeschädigten gegenüber anderen Behinderten höhere Versorgungsansprüche zugestanden wurden.Footnote 28 Wir haben es also vorwiegend mit Männern zu tun, die innerhalb von Praktiken verletzt wurden, die den gängigen Geschlechterbildern entsprachen und insgesamt nur wenig Widerspruch hervorriefen, weshalb ihre gesellschaftliche Integration politisch auch eher unstrittig war.

Doch wie Kriege in zeittypischen Deutungsmustern einen Menschen in ‚einen richtigen Mann‘ transformieren konnten, so konnten Kriegswunden denselben Menschen die Attribute einer hegemonialen Männlichkeit wieder entreißen.Footnote 29 In kritischer Auseinandersetzung mit der vielfach geäußerten These vom Aufschwung einer sogenannten toxischen Männlichkeit durch den Ersten WeltkriegFootnote 30, hat Kienitz vorgeschlagen, eher danach zu fragen, ob jene zerstörerischen Auswirkungen des industrialisierten Massenkrieges „tradierte Vorstellungen von Männlichkeit in Frage stellten und damit sowohl neue kollektive Erfahrungsweisen und Deutungsmuster als auch einen Wandel von Leitbildern (auch in Bezug auf Männlichkeit) in Gang setzten“.Footnote 31 Damit rückt die Problematik in den Vordergrund, wie einerseits geläufige Bilder von Männlichkeit durch Kriegsversehrungen zerstört oder zumindest infrage gestellt und andererseits gesellschaftlich verarbeitet und wieder stabilisiert wurden. Wie am Beispiel der seit dem Ersten Weltkrieg florierenden Orthopädie, Prothetik und Rehabilitation weiter oben genauer ausgeführt, sollten versehrte Veteranen wieder arbeits- beziehungsweise leistungsfähig gemacht werden. Leistungsfähigkeit wurde in der Hauptsache auf Erwerbsarbeit bezogen und diese gleichzeitig als männliche Norm propagiert. Die Prothese galt dabei als großer Hoffnungsträger, mit dem die gesellschaftliche Integration der Kriegsversehrten über ihre Rückkehr in die Erwerbsarbeit gelingen sollte.Footnote 32 Die Praktiken der Rehabilitation waren also gleichermaßen ‚vermännlichend‘ und die vom Militär und den Ärzten bevorzugte Funktionsprothetik war von Körperfunktionsmodellen getrieben, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kontext der damaligen Bemühungen um eine rationale Betriebsführung von Industrie, Staat und Gesellschaft Konjunktur hatten.

Unter den besprochenen Arbeiten verfolgen vor allem Julie Anderson in „War, Disability and Rehabilitation in Britain“ und Ana Carden-Coyne in „The Politics of Wounds“ vorrangig geschlechterhistorische Fragen. Anderson beispielsweise zeigt, dass nicht nur die Aufrüstung durch Prothesen, sondern auch weitere Rehabilitationsmaßnahmen auf die Wiederaneignung von klassischen Männlichkeitsidealen gerichtet waren. Am Beispiel der führenden britischen Rehabilitationseinrichtungen St. Duncan und Star and Garter Home demonstriert sie im Detail, wie sich die zur Herstellung von Disziplin, Fitness und Teamarbeit eingesetzten sportmedizinischen Maßnahmen in der Zwischenkriegszeit zunehmender Beliebtheit erfreuten. Hierbei ging es vor allem um eine Arbeit an sich selbst zur Wiederherstellung von Attributen und Eigenschaften, die eher mit heteronormativen Männlichkeitsbildern verknüpft waren. So bestanden die zentralen Ziele in der Entwicklung männlicher Kameradschaft unter den Kriegsgeschädigten im Krankenhaus, in der Förderung des Mutes und eines männlich verstandenen Willens, die beispielsweise durch die Praktizierung von wettbewerbsfähigen Sportarten unterstützt werden sollten (S. 57). Dabei arbeitet Anderson heraus, dass der Staat behinderte Frauen anders als Männer behandelte. Ihr Kapitel über Frauen und Rehabilitation behandelt den Zweiten Weltkrieg, als Frauen wegen des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels in klassischen Männerberufen tätig wurden. Letztlich – so Anderson – ermöglichten erst die zunehmenden Bemühungen zur Eingliederung in den Arbeitsprozess, dass auch behinderte Frauen in den Fokus von Rehabilitationsmaßnahmen rückten. Allerdings mussten für sie erst neue Strukturen aufgebaut werden, da es vor dem Krieg, wie Linker auch für die USA zeigt, praktisch noch kein ziviles Regime der Rehabilitation gab.

Noch deutlicher unterstreicht Carden-Coyne die Bedeutung des Mikrokosmos Lazarett für die Geschichte von Kriegsversehrungen: „Military and voluntary hospitals were social spaces where lively interactions occurred between patients and staff of different classes, nationalities, and genders“ (S. 217). Gestützt auf eine Vielzahl von Ego-Dokumenten, Gedichten, Tagebucheinträgen und Karikaturen räumt sie mit der alten These auf, die Verwundeten der britischen Armee und ihrer Herrschaftsgebiete hätten im Großen und Ganzen still ihr Leiden ertragen und sich gegenüber der kriegsmedizinischen Maschinerie passiv verhalten. Mit ihrem erfahrungs- und körpergeschichtlich orientierten Ansatz geht sie den Handlungsspielräumen nach, die die Patienten nutzten, um sich dem passiven Status ihrer Leiden entgegenzustellen.

Durch die Verschiebung der Perspektive auf die Innensicht der Betroffenen geraten Kriegsversehrte des Ersten Weltkrieges nicht nur als Objekte der Zurichtung, sondern auch als handelnde und zuweilen eigensinnige Subjekte in den Blick. Wie Carden-Coyne an verschiedenen Beispielen vorführt, übertrugen die Verletzten Männlichkeitsvorstellungen auch auf das Handeln von Militärärzten, indem sie beispielsweise Operationen und Amputationen infizierter Gliedmaßen als heroische Taten bewerteten, aber gleichzeitig Angst und Hoffnung vor den Folgen solcher Eingriffe artikulierten, die sich auf Schmerzen, ‚Verkrüppelung‘ oder den Tod bezogen (S. 182–187). Es ist faszinierend zu verfolgen, wie durch diesen Perspektivwechsel der Wundschmerz als individuell empfundene, emotionale und körperbezogene Erfahrung von der Autorin zum Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Analyse erhoben wird: „I argue that the pain of wounds provoked intense emotional and social responses, such as empathy and romance“ (S. 196). Im Spannungsfeld von Hospitalisierung, Medikalisierung und Disziplinarisierung gelingt es der Autorin nicht nur den schmalen Grat zwischen Hoffnung und Angst hervortreten zu lassen, sondern auch ansonsten nur selten untersuchte Facetten des Lazarettalltags wie Intimität und Sexualität in den Blick zu bekommen (S. 196–200). So werden zudem auch geschlechterbezogene Praktiken unter der Oberfläche des öffentlich propagierten Männlichkeitsideals herausgearbeitet. Wie sehr traditionelle Geschlechterrollen durchaus auch auf spielerische Weise umgekehrt werden konnten, demonstriert sie am Beispiel von karnevalesken Bühnenshows, Burlesquen und Vaudeville-Nummernstücken, die in den Lazaretten veranstaltet wurden. Die Ensembles nannten sich „The Queeries“ oder „Yellow Dandies“ und setzten sich aus dem weiblichen medizinischen Hilfspersonal und männlichen Patienten zusammen, wobei cross dressing Teil des Programms war. So schlüpften nicht allein Kriegsversehrte in Frauenkleider, sondern auch Krankenschwestern in männliche Rollen, wie die eines Arztes oder Soldaten (S. 251–259).

In diesem Zusammenhang ist auf weitere Publikationen hinzuweisen, in denen das Thema Kriegsversehrung, was Ort, Zeit und fachlichen Zugang betrifft, noch weiter aufgespannt wird. Der 2013 von Stephen McVeigh und Nicola Cooper herausgegebene Sammelband „Men After War“ versammelt inter- und multidisziplinäre Beiträge, die den gesellschaftlichen Umgang mit kriegsgeschädigten Veteranen in modernen Nachkriegsgesellschaften zum Gegenstand haben und dabei auch Erkenntnisse für die Geschlechter- und Körperproblematik bieten. In Konzentration auf die USA und Europa bietet er Ansätze aus den Literatur‑, Geschichts- und Politikwissenschaften sowie den disability studies. Vor allem in seiner durchgehenden Problematisierung der Verbindung von Männlichkeit(en), Militär und Krieg bietet dieser Band ausgesprochen interessante Ergebnisse und Ansätze zu Bedeutung von Kriegsversehrungen im 19. und 20. Jahrhundert. Vergleichbares kann über das kürzlich von Sebastian Schlund und Stephanie Wright herausgegebene Themenheft „Pride and Privilege?“ der Zeitschrift „History“ gesagt werden. Die dort versammelten Beispiele aus Finnland, Spanien und der frühen Bundesrepublik tragen zu einer vergleichenden Veteranengeschichte bei, die sich als Teil der Geschichte von Behinderungen versteht.

Der Schwerpunkt der aktuellen Veteranengeschichte liegt zweifellos auf den Weltkriegen, auch wenn einige Beiträge aus McVeigh/Cooper, wie etwa von Caroline Nielsen und Daniel Blackie, die Vereinigten Staaten Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts in den Blick nehmen. Martina Salvante widmet sich beispielsweise italienischen Kriegsgeschädigten der Zwischenkriegszeit, wobei sie auch Soldaten aus dem Abessinienkrieg und den faschistischen Truppen an der Seite des Franco-Regimes im spanischen Bürgerkrieg einbezieht. Darüber hinaus sind die literatur- und medienwissenschaftlichen Fallstudien des gleichen Bandes besonders aufschlussreich. Sarah Trott hat etwa in ihrem Beitrag Effekte des Ersten Weltkrieges in der durchaus gebrochenen, aber immer an Härte und Gewalt orientierten Männlichkeit der Hauptfiguren in den US-amerikanischen hard-boiled Detektivgeschichten von Schriftstellern und Kriegsveteranen aufgedeckt, die in Raymond Chandlers Werk Eingang gefunden haben. Ian Roberts und Sophie Smith betrachten in ihrem gemeinsamen Aufsatz die filmische Darstellung von Krieg, Trauma und Männlichkeit am Beispiel des Bosnien-Krieges zwischen 1992 und 1995, wobei sie auch die Angehörigen der UN-Friedenstruppen berücksichtigen.

Insgesamt werden damit auch bisher wenig beachtete Aspekte einer Geschichte der Kriegsversehrung erhellt. Wie in Kinders Monografie über den Umgang mit US-amerikanischen Kriegsversehrten wird der Aktualitätsbezug des Untersuchungsgegenstandes miteinbezogen, zumal die Kriege im Irak und in Afghanistan und der sogenannte Krieg gegen den Terror wieder mehr Veteranen und in zunehmender Anzahl auch Veteraninnen mit sichtbaren und unsichtbaren Kriegsverletzungen hinterlassen haben. Weil die Bevölkerung seit der Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht in den meisten westlichen Ländern kulturell und sozial stärker vom Militär separiert ist, wird dieses Thema in zivilen Zusammenhängen meist erst dann öffentlich wahrgenommen, wenn ein spektakulärer Akt von Gewalt oder Vernachlässigung bekannt wird, etwa durch Nachrichten über die zunehmende Anzahl von Selbstmorden, sexuellen Übergriffen, häuslicher Gewalt oder Drogenmissbrauch. Dennoch werden solche Fragen im Band von McVeigh/Cooper nur ansatzweise behandelt. Während in den meisten Aufsätzen versucht wird, Männlichkeit(en) unter Kriegs- und Nachkriegsbedingungen zu analysieren, bleibt die aktuell spannende Frage außen vor, ob etwa die zunehmende Einbeziehung von Frauen in die bisher homosoziale Domäne Militär Vorstellungen militärischer Männlichkeit angefochten, unberührt gelassen oder gar verstärkt hat.Footnote 33 Vielleicht ist es für eine umfassendere Analyse solcher Fragehorizonte auch noch zu früh und insofern führt auch dieser Band eindrücklich die Desiderate für die künftige Forschung vor.

5 Wessen Wunden? Bedingungen des Überlebens

Während sich die Kriegsführung und die sozialpolitische Situation der Betroffenen im 20. Jahrhundert grundlegend wandelten, haben sich laut Kinder zwei konkurrierende Erzählungen erstaunlich lange gehalten: Die erste ist eng mit den während des Ersten Weltkrieges entstandenen Rehabilitationsbemühungen verknüpft. Sie betont die erfolgreiche Integration von Kriegsversehrten in die jeweilige Nachkriegsgesellschaft und beruht auf dem Versprechen, dass künftige Generationen immer besser in der Lage sein werden, die sozialen Kriegsfolgen zu vermeiden oder wenigstens zu verringern. Die zweite, zur gleichen Zeit entstandene und vor allem von pazifistischen Bewegungen vorgetragene Version der Geschichte sieht im kriegsversehrten Veteranen das Symbol für beispiellose Gewalt und lehnt aus diesem Grund die Beteiligung an auswärtigen Konflikten ab. Die politische Dimension kriegsverwundeter Körper in der Kriegs- wie Antikriegspropaganda wurde so zum integralen Bestandteil eines Krisendiskurses über die sozialen, innen- und außenpolitischen Folgen moderner Kriegseinsätze. Nicht nur mit Blick auf die Politik einzelner Staaten oder deren Koalitionen, sondern auch aus Perspektive der beteiligten Soldaten waren und sind Kriege nicht mit der Unterzeichnung von Friedensvereinbarungen beendet.Footnote 34 Die kriegerische Gewalt blieb in den dauerhaft spürbaren gesundheitlichen und sozialen Folgen präsent.

Unter der Vielfalt der behandelten Themen, Schauplätze und historischen Kontexte lassen sich wenigstens vier Aspekte ausmachen, die uns wert erscheinen, weiter diskutiert zu werden. Erstens entsteht bei der Lektüre der hier besprochenen Studien jedenfalls für die Großmächte im Jahrhundert der Extreme der Eindruck einer Ähnlichkeit in der Sozialpolitik und der Rehabilitationsregimes. Macht es aber beispielsweise nicht vielleicht doch einen Unterschied, ob der Krieg im eigenen oder einem anderen Land, möglicherweise sogar in Übersee geführt wird? Spielen Zahlen (Verlust- wie Rentenstatistiken) in jedem Fall eine Rolle für den innenpolitischen Handlungsdruck? Und wie stellte sich die Situation dar, wenn man auf der falschen Seite im Bürgerkrieg gekämpft hatte?Footnote 35 Auch kleine Nuancen in der visuellen Propaganda erscheinen sehr aufschlussreich, wenn danach gefragt wird, wie realistisch Kriegswunden sein durften, die öffentlich gezeigt wurden, und wie die Grenzen des Zeigbaren gezogen wurden, je nachdem, ob dafür ein Argument gegen den Krieg oder für den Krieg gemacht wurde. Es zeigt sich, dass Wunden keine neutralen Objekte waren, sondern ihre Bedeutung erst in der Interaktion zwischen medizinischem Personal und Betroffenen sowie den Betrachtenden aktiv hergestellt wurde.Footnote 36

Zweitens erscheint in allen Studien der Erste Weltkrieg als große Wegscheide und dies nicht nur in Bezug auf die Opferzahlen. Medizinischer Fortschritt und Transportmöglichkeiten haben dazu geführt, dass es wahrscheinlicher wurde, eine Kriegsteilnahme zu überleben, wenn auch meist schwergeschädigt und/oder chronisch krank. In der Folge schufen die beteiligten Staaten eine Invalidengesetzgebung, die das Recht auf medizinische Rehabilitation mit einer Pflicht verband, nach Entlassung aus der Armee den Lebensunterhalt weitgehend durch Erwerbsarbeit zu bestreiten. Der Zweite Weltkrieg hingegen scheint aus Sicht der Versehrtengeschichte eher eine Fortsetzung des Ersten darzustellen, wandelte sich doch die Frage des Umgangs mit Kriegsgeschädigten erst viel später, nach dem Ende des Kalten Krieges, als in vielen westlichen Staaten die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft wurde und der Kriegseinsatz wieder zu einem Beruf wurde. Wie sind demgegenüber die Zwischenkriegszeiten einzuordnen? Dienten sie vornehmlich eher dem Kampf um Erinnerung, die von den Betroffenenorganisationen und ihrer politischen Mobilisierung geprägt wurden? Wie die neueren Studien zu Deutschland, Österreich und Italien verdeutlicht haben, radikalisierten sie sich vermehrt dort, wo der Wohlfahrtsstaat am stärksten von Wirtschaftskrisen getroffen wurde.

Drittens führen Kriege zweifelsohne zur Verstärkung traditioneller Geschlechterrollen, auch wenn die Heimatfront aus reiner wirtschaftlicher Not heraus den Frauen Arbeitsräume zugestand, die sonst Männer einnahmen, oder sie selbst als Soldatinnen dienten. Demgegenüber zeigte sich die unmittelbare Nachkriegszeit trotz Revolutionen und Demokratisierung wiederholt als eine Zeit der Restaurierung der Geschlechterverhältnisse. Größere gesellschaftliche Umbrüche setzten sich nicht im Krieg, sondern erst in längeren Phasen des Friedens durch. Es ist zu begrüßen, dass in den besprochenen Studien Kriegsversehrungen nicht mehr nur als rein medizinische Herausforderungen, sondern auch als soziales und politisches Problem behandelt wurden. Damit rückt in den Blick, wie sich gerade Kriegsgeschädigte immer wieder vehement von zivilen Behindertengruppen distanziert haben, aber für deren Emanzipation in vielen Fällen zu Vorreitern wurden. Viele Beispiele in den Studien zeigen, dass Kriegsversehrte in der Öffentlichkeit als Vorzeigeinvaliden instrumentalisiert wurden oder sich dieser Praxis bewusst entzogen haben. Oft aber waren es Kriegsversehrte beiderlei Geschlechts, die – ob in der Politik, der Öffentlichkeit oder dem Sport – die ersten waren, die für Gleichberechtigung eintraten. Versehrtengeschichten eignen sich deshalb auch, um nach Geschlechterbildern in der Öffentlichkeit zu fragen und zu verdeutlichen, wie stark die Werte der westlichen Demokratien diesbezüglich dem Paradigma der Leistungsgesellschaft verhaftet geblieben sind.

Viertens schließlich zeigen die meisten der besprochenen Arbeiten mehrere Seiten einer Geschichte auf – die Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven und Akteursgruppen samt gegenseitiger Abhängigkeiten und Machtasymmetrien lassen ein ausgesprochen komplexes Bild von Kriegsversehrungen im Zeitalter der Extreme entstehen. Interessant sind nicht mehr nur die Feldärzte in ihrer Verbindung zur Heimatfront, sondern auch das nichtärztliche Personal sowie die Verletzten selbst. Für die Forschung sind nicht mehr nur die Propagandaschriften und offiziellen Statistiken relevant, sondern auch der Schriftverkehr in den Behörden, die Feldpost sowie die privaten Aufzeichnungen, die Zeugnis davon ablegen, welche Erfahrungen die jeweiligen Akteure mit Kriegsversehrungen gemacht haben. Patientenakten dokumentieren Unsicherheiten bei der Diagnose, Briefe, die zwischen Kriegs- und Heimatfront geteilt wurden, dienten vordringlich der Beruhigung der Daheimgebliebenen, Tagebücher offenbaren bereits erste Reflexionen und Einordnungen von Erfahrungen, und Rentenakten zeugen vom behördlichen Umgang des modernen Wohlfahrtsstaates mit chronischem Leiden und dem unentwegten Kampf der Kriegsgeschädigten um Anerkennung. Die historische Forschung widmet sich nun zunehmend den Strategien des Überlebens in Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften. Sie interessiert sich nicht mehr allein für Opferzahlen, sondern auch für die Vielfalt der Einzelfälle, um zu verstehen, wie Menschen mit derartig existenziellen Erfahrungen umgegangen sind.

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