In einer politisch-publizistisch zum ‚postfaktischen‘ Zeitalter deklarierten Gegenwart und im Hintergrund der Debatte um Realismus versus Konstruktivismus erscheint es ebenso angebracht wie erkenntnisträchtig, sich wissenschaftstheoretisch und ideen- beziehungsweise kulturgeschichtlich mit dem Komplex des Konstrukts ‚Tatsache‘ zu befassen. Die insgesamt 15 Beiträge der von einer Kulturwissenschaftlerin und einem Technikphilosophen herausgegebenen Kollektion befleißigen sich allerdings überwiegend einer essayistisch-metaphorisch-assoziativen, gelegentlich in den Jargon postmoderner Literaturwissenschaft abgleitenden Darstellungs- und Argumentationsweise, welche die Lektüre für den Nichtinsider schwierig macht.

In der Einleitung stellen Cheryce von Xylander und Alfred Nordmann im Rekurs auf die jeweils einschlägigen Aufsätze die Dimensionen des Konstrukts zusammen, die gleichzeitig die Gliederung des Bandes bilden: „tatsächlich“, „unwiderruflich“, „unwiderstehlich“, „unverfügbar“, „endgültig vorläufig“ und „vorläufig endgültig“ (S. 7–19). Dem den „tatsächlichen Tatsachen“ gewidmeten und daher den Historiker besonders interessierenden Teil ist zu entnehmen, dass die Kategorie „Tatsache“ erst um 1800 ihren Aufstieg begann, Immanuel Kant dabei eine zentrale Rolle spielte, das Verhältnis der Tatsache zur „Tat“ komplex war und ist, sowie im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher und praktischer Tatsachenerzeugung, Faktenkult und Faktenskeptizismus auch ein Ende der Aufklärung angelegt war (Paul Ziche, Marc Rölli, Simon Schaffer). Mit der „unwiderruflichen“, das heißt tatsächlichen und vollendeten Tatsache befasst sich mit Blick auf das menschheitsgeschichtlich postulierte „Faktum der Vernunft“ philosophisch Gerhard Gamm. Das Spektrum der „unwiderstehlichen“ oder unverweigerbaren Tatsächlichkeit leuchten in unterschiedlichen Perspektiven David Baird und Alfred Nordmann, Lorraine Daston, Geert Hendrich, Sandra Würtenberger und Jan Cornelius Schmidt aus; worum es geht, sind unter anderem mittels Instrumente erzeugte oder entdeckte „frappierende Phänomene“ im Verhältnis zur „Tatsache“ (zusammenfassend S. 185–187), kollektiv bestätigte epistemische Bilder als Tatsachenträger, Tatsachenstiftung durch Bedeutungszuweisung sowie das Verhältnis von Hypothese und Tatsache beziehungsweise Ästhetik und Tatsache: „Es sind auch ästhetische Dimensionen, durch die etwas zur Tatsache erhoben wird“, und zwar auf dem Wege sinnlich erkannter Vollendung (S. 292). Die Dimension des Unverfügbaren erfährt Untersuchung einerseits durch Knut Ebeling, der wissenschaftstheoretisch Kants Bemühungen um eine Archäologie der Vernunft mit den Überresten Palmyras zusammenbringt, andererseits durch Ulrike Neumaiers Erörterung des Tatbestands, dass Pharmaka und Placebos jeweils Referenzsysteme benötigen, um als tatsächlich wirksam angesehen werden zu können. Schließlich kommt die kritische Dimension zur Sprache, und zwar unter dem Titel „Urteil und Vorurteil“ (S. 347). Peter Galison skizziert die Geschichte journalistischer Objektivität anhand US-amerikanischer Entwicklungen und plädiert am Ende für eine einschlägige vergleichende Studie. Thorsten Kohl informiert über den Weg, den die Annahme Ernst von Leydens um 1900, Krebs werde durch Parasiten (Bakterien, Viren) verursacht, bis zu „einer stabilisierten, aussagekräftigen und vollendeten Tatsache“ (S. 392) zurücklegen musste. Der abschließende Essay der Hauptherausgeberin befasst sich mit einem Kapitel aus der Geschichte der „vollendete[n] Tatsache als Schlagwort, wie es um 1900 in Umlauf kam“ (S. 395), wobei es von Xylander um die Übertragung dieser Kategorie vom wissenschaftlichen auf das politisch-soziale Feld ankommt.

Kein Zweifel, aus vielen Beiträgen dieser Sammlung lässt sich einiges lernen. Unmittelbar am Verständlichsten und Überzeugendsten erscheinen die Darlegungen von Daston und Galison, während die diversen Darstellungen zu Kant sich teils überschneiden, teils widersprüchlich erscheinen. Dass immerhin mehrfach auch das Feld der ‚biblischen Tatsachen‘ betreten wird, ist bemerkenswert; diese Perspektive hätte aber durchaus Vertiefung verdient – zumal, wenn man die Hauptfragestellung an aktuelle Tatsachendebatten ankoppelt.