Im 175. Jubiläumsjahr der Revolution von 1848/49 lässt sich ein Grundwiderspruch von Geschichtspolitik und Geschichtsforschung konstatierenFootnote 1: Während von staatlich-offizieller Seite ein großes Interesse am Gedenken an die Revolution und vor allem an der geschichtspolitischen Herausstellung demokratischer Traditionen angemeldet wird, weckt die Revolution in der Geschichtswissenschaft nicht mehr das Interesse, das sie noch bei den vorangegangenen Jubiläen auslöste. Dies mag mit einer gewissen Forschungsmüdigkeit oder Überforschung zusammenhängen (beinahe sämtliche Themen der Revolution sind schon in den Blick genommen worden), aber auch mit einer wohltuenden Resistenz von Wissenschaft, die sich nicht jedem neuen Trend von Politik beugen will und soll. Unrühmliche Ausnahmen gibt esFootnote 2, aber im Großen und Ganzen werden keine heftigen Auseinandersetzungen mehr um die politische Bedeutung der Revolution geführt, wie dies noch zum 125-jährigen Jubiläum 1973 zwischen Ost und West und auch im 150. Jubiläumsjahr 1998 im Streit um die Marginalisierung der Demokraten in der Revolution der Fall war.Footnote 3 Insgesamt muss man sagen, dass es in der deutschen und in der angelsächsischen Historie eher ruhig geblieben ist im 175-jährigen Revolutionsjahr. Einige Arbeiten zum offenbar immer noch neuen Forschungsfeld Frauen und Geschlechterverhältnisse in der RevolutionFootnote 4 und die Arbeit von Frank Engehausen zum ersten deutschen Parlament, der Paulskirche, als „Werkstatt der Demokratie“Footnote 5 pflastern den schmalen Pfad der derzeitigen Revolutionsforschung, der jüngst noch durch die Gesamtdarstellung von Christopher Clark etwas verbreitert und auf Europa ausgedehnt wurde.Footnote 6 Umso erfreulicher ist es, dass mit dem hier zu besprechenden Buch von Konrad Canis zu Preußen im Revolutionsjahr eine umfangreiche, quellengesättigte und auf eigenen Forschungen basierende Monografie schon ein Jahr vor dem Jubiläum vorgelegt wurde, die es hier zu würdigen gilt, weil sie einen neuen Blick auf die deutsche Revolution als Ganzes wirft.

Konrad Canis, Jahrgang 1938, wissenschaftlich sozialisiert in der DDR und spezialisiert auf die Geschichte Preußens im 19. Jahrhundert, hat eine voluminöse Studie über die Rolle Preußens in der 48er-Revolution vorgelegt. So umfassend und detailliert ist die preußische Politik für die Zeit von der Märzrevolution 1848 bis zum Ende der preußischen respektive Erfurter Union 1850/51 bislang noch nicht dargestellt worden. Von daher hat Canis gewiss ein Standardwerk verfasst, das so schnell nicht überholt werden wird und das neue Perspektiven auf das komplexe Geschehen von 1848 bis 1850 bietet. Dennoch oder gerade deswegen sind einige Kritikpunkte angebracht.

Die Hauptthese des Buches ist ein starkes Kontinuitätsargument: Die 48er-Revolution habe lediglich einen bereits im Vormärz, vor allem seit den 1830er Jahren einsetzenden Reformprozess des preußischen Staates, der auf eine großbürgerlich-adelige Allianz zurückging, die mit den reformorientierten Teilen des preußischen Establishments eine „Vereinbarungspolitik“ anstrebte, beschleunigt und in konstitutionelles Fahrwasser gelenkt. Diese „klassenübergreifende“ Vereinbarung gelang nach dem Ausbruch der Märzrevolution umso mehr, als die seit 1793 vorhandene antirevolutionäre Grundhaltung des deutschen Bürgertums sich noch verstärkte. Gemeinsam mit dem reformbereiten Teil des Adels und einigen Konservativen ging das Bürgertum so eine kongeniale, das heißt revolutionsverhindernde Verbindung ein. Ziel war es, Preußen auf reformerischem Weg zu einem konstitutionellen Staat zu machen. Das bremsende Moment dieser großbürgerlich-adeligen Reformkonstellation stellte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. dar, der für Canis ohne Einschränkung „ein romantischer, selbstgerechter, dogmatischer, psychopathischer Absolutist“ (S. 347) war, der zu keinerlei Reformen und schon gar nicht zu einem konstitutionellen System bereit war. Die preußische Unionspolitik, der sich das Buch fast zur Hälfte widmet, ist demnach die Fortführung einer schon in vorrevolutionärer Zeit vorhandenen Reformpolitik mit anderen, nämlich deutschlandpolitischen Vorzeichen. Darin vor allem bestand die Wirkung der 48er-Revolution: Sie hat den Einheitsgedanken und den Verfassungsgedanken nach oben gespült und in den fortlaufenden Reformprozess eingespeist. Die sogenannte Reichsverfassungskampagne vom Sommer 1849 wird hier meines Wissens zum ersten Mal als integraler Bestandteil der preußischen Unionspolitik dargestellt, und zwar nicht – wie man meinen könnte – als Widerspruch, sondern als Ergänzung. Preußen habe sich durch die zum Teil rechtswidrige (weil ohne Hilfeersuchen erfolgte) militärische Niederschlagung der ‚zweiten‘ Revolution als Protektor der Klein- und Mittelstaaten empfohlen und auf diese brutale Weise Werbung für seine Unionspolitik gemacht. Dass diese am Ende nicht gelang, lag vor allem an der intransigenten Haltung und dem harten Widerstand Österreichs, das mit der Rückendeckung Russlands im Herbst 1850 Preußen die Olmützer Punktation aufoktroyierte, die Canis ergebnisoffen interpretiert. Anders als in vielen Deutungen, sieht er darin keine alleinige „Schmach Preußens“. Die Geschichte geht aber noch weiter: In seinem Ausblick stellt Canis mit mutigen, aber auch kurzschlüssigen Analogien die preußische Unionspolitik als Blaupause der Bismarck’schen Reichsgründung dar und schließt so wieder den Kreis zum Hauptthema seines Buches.

Das Buch bietet eine Fülle von Einzeleinsichten in die innerpreußischen Machtstrukturen und Machtdynamiken, in denen Canis sich bestens auskennt. Sein unbestrittener Held ist Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg, der am 1. November 1848 die Regierung antrat und maßgeblich für die Deutschlandpolitik Preußens verantwortlich zeichnete. Joseph Maria von Radowitz, den man eigentlich als den spiritus rector der Unionspolitik kennt, tritt bei Canis eher in den Hintergrund. Brandenburg ist der Bismarck avant la lettre und scheitert lediglich an den Umständen, die in der revolutionären Umbruchszeit innenpolitisch zu instabil und außenpolitisch zu gefährlich erschienen, um eine kleindeutsche Lösung unter preußischer Hegemonie durchzusetzen. Otto von Bismarck, den Canis bemerkenswert unkritisch zeichnet, fand nach dem Krimkrieg und dem Beginn der italienischen Unabhängigkeitsbewegung eine bessere Ausgangssituation vor und schuf sich zugleich durch drei Kriege jene Freiräume, die Brandenburg noch fehlten. Selbst die Kaiserreichsverfassung beziehungsweise die fast gleichlautende Vorläuferverfassung des Norddeutschen Bundes werden von Canis in Beziehung zur Erfurter Unionsverfassung gesetzt, die hier ebenfalls als Vorbild fungiert haben soll. Das ist im Großen und Ganzen die Hauptaussage und Hauptlinie dieser großangelegten Studie, die sich mit bemerkenswerter Stringenz und Disziplin an der Kontinuitätsthese eines im Grunde stets reformbereiten und reformorientierten preußischen Staates abarbeitet.

Nun zu den Kritikpunkten: Der Haupteinwand gilt einem im Grunde zu harmonischen Preußen-Bild, das reformerisch weichgespült wird. Von dem Unterdrückungs- und Überwachungsstaat, zu dem Preußen sich seit den Karlsbader Beschlüssen 1819/20 gewandelt und bis in die 1840er Jahre weiterentwickelt hatte, ist kaum etwas zu lesen. Canis interessiert sich in erster Linie für die Vereinbarungspolitik der beiden „Oberklassen“ (S. 411) – schon der Klassenbegriff ist eigentlich schief für diese Zeit. Er fokussiert dabei vor allem auf das aus dem Rheinland kommende Wirtschaftsbürgertum (David Hansemann, Ludolf Camphausen, Gustav Mevissen, Hermann von Beckerath) und Teile des reformliberalen preußischen Adels, die den preußischen Staat auf evolutionärem Weg zu modernisieren versuchten. Die Hindernisse, die schwer wogen und dem preußischen Staat zu Recht sein konservatives, ja zuweilen reaktionäres Image verliehen, werden eher marginalisiert beziehungsweise auf die Person des Königs, der in der Darstellung überlebensgroß erscheint, abgeleitet. Man muss kein Fan von Friedrich Wilhelm IV. sein, aber das Bild, das David E. Barclay und Dirk Blasius sowie Christopher Clark in seinem Preußenbuch schon vor Jahren gezeichnet haben, ist wesentlich differenzierter als diese einseitige Lesart. Dass der König sich mit den konstitutionellen Verhältnissen abgefunden hat, dürfte mittlerweile Konsens sein. Genauso verhält es sich mit dem österreichischen Staatskanzler Clemens Fürst von Metternich, der in den Worten von Canis „die totale Rückkehr zum Alten“ anstrebte: „[…] die Allgewalt der absolutistischen Staatsmacht, um Revolution in Zukunft auszuschließen“ (ebd.). Auch hier muss man kein Freund von Metternich sein und das beinahe gegensätzliche Bild von Wolfram Siemann, der in Metternich den großen Reformer und „Europäer“ erblickt, teilen, aber ein wenig mehr Differenzierung hätte man sich schon gewünscht, zumal Siemanns Metternich-Biografie im Literaturverzeichnis auftaucht. Man wird den Eindruck nicht los, dass eine alte DDR-Sichtweise weiterhin virulent ist: Canis argumentiert sozusagen für Preußen (weil es in Waffenbrüderschaft mit Russland stand) und zugleich gegen den König, der aus der falschen „Klasse“ kam; das Gleiche gilt für das ziemlich positive Bismarck-Bild, das einen schon bei der Ernst-Engelberg-Biografie aus dem Jahre 1985 verwundert hat und dessen Sichtweise der Revolution ‚von oben‘ hier wieder lang und breit nachgebetet wird. Die Schattenseiten, die etwa Johannes Willms mit seinem „Dämon der Deutschen“ (der übrigens nicht im Literaturverzeichnis auftaucht) vielleicht etwas allzu scharf betont hat, kommen überhaupt nicht zur Sprache. So entsteht ein Zerrbild von Preußen als großer Reformstaat, dem seit der Angliederung des Rheinlandes auf dem Wiener Kongress gewissermaßen die ‚Mission‘ zufiel, Deutschland zu einen und zu modernisieren. Leider schimmert auch diese alte borussische Legende bei diesem an sich innovativen und überzeugenden Buch durch.

Was jedoch am meisten verwundert, ist die relative Indifferenz und Distanziertheit gegenüber den revolutionären Bewegungen und vor allem gegenüber dem Unterschichtenprotest. Kaum ein Wort von der Bauernrevolution und der auch [sic!] deswegen erfolgten endgültigen Bauernbefreiung, kaum eine Erwähnung des städtischen Protests, der stark auf die Politik einwirkte. Gerade die Themen, die in der DDR-Historie zu Recht und schon sehr früh betont wurden und die ‚Westforschung‘ ganz wesentlich beeinflussten (man denke nur an die grundlegenden Arbeiten von Walter Markov und Günter Vogler), spielen hier kaum noch eine Rolle oder sind nur Bei- und Schmuckwerk der großen Politik. Dass die preußische Politik aber (wie jede andere Politik auch) Produkt eines Interaktionsprozesses von gesellschaftlicher Bewegung und staatlicher Aktion und Reaktion war, und dass gerade die sozialen Unruhen im Revolutionsjahr die preußische Politik ganz maßgeblich bestimmten (die Verfassungsgebung wäre nie in dieser Schnelle und auf diese Weise im Dezember 1848 erfolgt), blendet Canis leider aus. Die Revolution als Ganzes erscheint vielmehr zuweilen als lästiger Druck von unten, der die Vereinbarungspolitik der beiden „Oberklassen“ an ihrem erfolgreichen Fortgang störte und behinderte. Besonders deutlich wird dies bei der militärischen Niederschlagung der Reichsverfassungskampagne durch preußische Truppen in der bayerischen Rheinpfalz oder in Baden, die Canis ausschließlich unter dem Aspekt der „Deutschlandpolitik der Regierung […] im Zeichen der Militäreinsätze“ (S. 309) behandelt und den „Staatsterror“, den der preußische Staat hier veranstaltete und den selbst liberal-konservative westdeutsche Historiker wie Thomas Nipperdey nicht verschwiegen, völlig außer Acht lässt. Dass die brutale und rechtswidrige Niederschlagung der Reichsverfassungskampagne durch preußische Truppen zunächst und vor allem einen Widerspruch zur deutschlandpolitischen Propaganda der Unionspolitik und zugleich ihre Dekuvrierung als eine primär machtstaatlich motivierte Politik darstellt, findet bei Canis keine Erwähnung. So wird ein relativ homogenes und stringentes Bild der preußischen Politik gezeichnet, das alle Brüche und Widersprüche ausblendet und nach einem roten Faden in der Berliner Zentrale Ausschau hält. Das Hauptaugenmerk ist darauf gerichtet, dass Preußen „konstruktiv gegen die Revolution“ Politik betrieben, das heißt die nationalpolitischen Impulse der Revolution aufgenommen und sich angeeignet habe, um eigene alternative Vorschläge zu unterbreiten und durchzusetzen. Dass es sich dabei um reine Macht- und Hegemonialpolitik gehandelt hat, die – komme, was wolle – durchgepeitscht wurde (siehe Reichsverfassungskampagne), verschweigt Canis mehr oder weniger beziehungsweise legt er relativ wohlwollend ad acta. Alles wird auf „Vereinbarung“ getrimmt, und zwar im doppelten Sinne: Vereinbarung ‚nach innen‘ durch den Schulterschluss der großbürgerlich-adeligen Funktionselite mit Teilen des Establishments sowie Vereinbarung ‚nach außen‘ durch die konkrete Ausgestaltung der Unionspolitik, die mit der Zirkulardepesche vom 23. Januar 1849 ihren Ausgang nahm und sich an die Fürsten und eben nicht an die Parlamente richtete – also Vereinbarung ausschließlich auf dynastischer Ebene betrieb. Das erleichterte es auch, so Canis, wiederum den Liberalen, bei der Unionspolitik mitzuwirken, wobei er die Mitarbeit der Gothaer Liberalen allzu glatt und konfliktfrei schildert (S. 311 ff.) und alle Bedenken, Gewissensbisse und vor allem inneren Grabenkämpfe, die es innerhalb dieser Gruppe der „Elite der Erbkaiserlichen“ (Ernst Rudolf Huber) zuhauf gab, beiseiteschiebt. An dem Bild, das Canis von der großbürgerlich-adeligen Vereinbarung mit dem Staat zeichnet, sind kaum Kratzer zu erkennen. Etwas weniger Ideologie und etwas mehr Offenheit für „vergangene Zukunft“ (Reinhart Koselleck) hätte man dem Buch insgesamt gewünscht.

Bei aller Kritik muss man jedoch eines deutlich machen: Hier wird zum ersten Mal und aus guten Gründen die preußische Unionspolitik als integraler und konstitutiver Bestandteil des revolutionären Gesamtkomplexes geschildert! Das ist eine neue veränderte Sicht auf die Revolution, mit der sich die Forschung künftig auseinanderzusetzen hat. Die Revolutionsphase reicht demnach in Deutschland vom Frühjahr 1848 bis zum Spätherbst 1850 und endet nicht – wie es mittlerweile Konsens in der Forschung ist – mit dem Fall der Festung Rastatt im Sommer 1849. Das ist eine ganz wichtige, wenn nicht die wichtigste Erkenntnis dieses Buchs und wiegt auch in gewisser Weise die genannten Einwände wieder auf. Das, was Gunther Mai und Hans-Werner Hahn anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Erfurter Union einmal angeregt haben und was bislang nie wirklich aufgegriffen wurde, nämlich die Union in das Revolutionsgeschehen einzubinden, hat Konrad Canis jetzt auf breiter empirischer Basis eingelöst und letztlich auch belegt. Ihm ist es gelungen, eine andere Seite der 48er-Revolution zu präsentieren, die bisher bei unserem Hauptfokus auf dem rein revolutionären Geschehen viel zu kurz gekommen ist beziehungsweise ins Feld der Nachgeschichte der Revolution verwiesen wurde: die staatlichen Reaktionen, alternativen Handlungskonzepte und herrschaftlichen Aneignungsprozesse als Teil eines revolutionär-reformerischen Konfliktgeschehens zu schildern und so das Gesamtbild der Revolution wesentlich zu erweitern. Die preußische Unionspolitik ist eine komplexe Angelegenheit, sie setzt intensiviert mitten im Revolutionsgeschehen ein, ja in der eigentlichen Hochphase (Ende Januar 1849), der alles entscheidenden Phase der deutschen Revolution, und weist einen alternativen Weg zur Paulskirche auf. Von daher ist die Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. im April 1849 in der Tat nicht das Ende der Revolution, sondern vielmehr die logische Konsequenz einer preußischen Einheitspolitik, die spätestens mit der ergebnislos gebliebenen „Mission Radowitz“ nach Wien im März 1848 begann und mit der Olmützer Punktation Ende November 1850 ihr jähes Ende fand. Die preußische Unionspolitik stand in einem Wechselspiel zum revolutionären Geschehen, wurde beflügelt und beschleunigt von diesem und erhielt erst dadurch ihre Konturen, sie war eben kein „eigentümliche[s] Nachspiel“ der Revolution, wie Thomas Nipperdey dies noch in seinem großartigen ersten Band der deutschen Geschichte – den Konsens der damaligen Forschung widerspiegelnd – gekennzeichnet hat. Mit der Unionspolitik wollte Preußen sich auf seine ganz eigene Art an die Spitze der deutschen Einheitsbewegung stellen und seine eigene Deutschlandpolitik betreiben. Wenn man die Unionspolitik, wie sie Radowitz im Verbund mit dem König seit dem Beginn der Revolution ansatzweise betrieb, ernst nimmt – wie Canis dies tut –, dann geraten auch einige Aktionen und Reaktionen des preußischen Staates während der Revolution in ein anderes Licht. So kann etwa das berühmte Diktum von Friedrich Wilhelm IV. vom 21. März 1848: „Preußen geht fortan in Deutschland auf“ nicht nur als Beruhigungspille und haltloses Versprechen, um Zeit zu gewinnen, gedeutet werden, sondern durchaus auch als ernst gemeinte Aussage im Sinne einer preußisch geleiteten Einheitspolitik, wie sie sich seit einiger Zeit in der Pipeline des Establishments befand. Obwohl Canis um diese Pläne weiß, gelingt es ihm nicht, die Aussage des Königs ernsthaft zu prüfen, für ihn bleibt sie leider nur ein „weiterer“ Beleg, der „von einer total haltlosen Verwirrung“ des Königs zeugte, „ein neues Zeichen der eklatanten Unfähigkeit und Handlungsschwäche des Monarchen“ (S. 31). Friedrich Wilhelm IV. war gewiss wankelmütig und sprunghaft und verlor auch am Ende das Interesse an der Unionspolitik, aber er war zeitweise auch der Promotor dieses alternativen Einheitsweges, der durchaus gewisse Realisierungschancen besaß (so völlig anders, gerade was die europäische Mächtekonstellation betrifft, war die Situation 1870/71 dann auch nicht). Die Unionspolitik scheiterte schließlich am Widerstand Österreichs, das eine Machtverschiebung in Richtung Preußen nicht hinnehmen konnte, zumal man wieder gestärkt aus der Gegenrevolution, die in der Habsburgermonarchie besonders brutal ausfiel, hervorgetreten war. Ab dem Spätsommer 1849 schwanden die Realisierungschancen der preußischen Union zusehends und von da an begann auch der König zu schwanken. Die „Unionskrise“ (S. 325 ff.), das heißt auch das Ende der Union, bahnte sich an.

So wichtig es ist, die preußische Union ins Blickfeld zu rücken und in das Koordinatensystem der Revolution einzuordnen, so deutlich muss man jedoch auch sagen, dass die Unionspolitik ein antirevolutionärer und antidemokratischer Einhegungsversuch des preußischen Staates war, der sich die Einheits- und Freiheitsbestrebungen der Gesellschaft machtpolitisch zunutze machen wollte, um die eigene Position in Deutschland zu stärken. Die Unionspolitik war der erste sichtbare Versuch Preußens, eine nationale Politik zu betreiben und sich an die Spitze einer Neugründung Deutschlands zu stellen. Die Revolution lieferte Preußen das Futter für diese neue Politik. Von daher werden künftige Forschungen sich in der Tat damit auseinanderzusetzen haben, ob und inwieweit die preußische Unionspolitik zum Revolutionsgeschehen gehört (so wie das Canis in seiner Monografie darstellt) oder nicht vielmehr doch zur Geschichte der Gegenrevolution, die in Bismarck ihren kongenialen Fortführer fand. Wenn Bismarck in seiner berühmten sogenannten „Blut-und-Eisen“-Rede während des preußischen Verfassungskonflikts Ende September 1862 meinte, dass „die großen Fragen der Zeit“ nicht „durch Reden und Majoritätsbeschlüsse“, sondern „durch Eisen und Blut“ entschieden werden, dann lag er damit exakt auf der Linie, die Preußen zuvor in der Revolution eingeschlagen hatte. Zum revolutionären Gesamtkomplex von 1848/49 gehört die preußische Unionspolitik zweifelsohne. Das hat die Arbeit von Canis auf vortreffliche Weise gezeigt. Ob sie allerdings ein „konstruktiver“ Versuch war, die Revolution mit anderen Mitteln fortzuführen, wie schon der Titel von Canis suggerieren möchte, muss offenbleiben und scheint mir eher fraglich. Wenn wir in den letzten Jahren so gerne das Scheitern der Revolution relativieren und lieber von den Erfolgen, also vom ‚erfolgreichen Scheitern‘ der Revolution sprechen, wie dies jetzt auch Christopher Clark für die europäische Perspektive tut, dann müssen wir uns nach der Studie von Canis auch fragen, um welchen ‚Erfolg‘ es sich denn handelt. Es ist doch vor allem ein Erfolg der Gegenrevolution gewesen, auf den die preußische Unionspolitik ein Schlaglicht wirft; und was die heute so vollmundig behauptete europäische Vernetzung der Revolution betrifft – auch dafür liefert Clark jetzt die Belege –, so liegt die europäische Vernetzung der gegenrevolutionären Mächte doch eindeutig mehr auf der Hand als die wenigen, ganz sporadischen und punktuellen Kommunikationsnetzwerke der Revolutionäre über die nationalen Grenzen hinweg. 1848/49 zeigt vielmehr – ganz ähnlich wie 1815 der Wiener Kongress –, dass ein Europa der Staaten, und zwar im konservativen Sinne, oder – wie es Heinz Gollwitzer einmal genannt hat – das „legitimatorische Europa“ im Entstehen begriffen warFootnote 7 und eben nicht das demokratische, partizipatorische Europa, wie es durch Männer wie Guiseppe Mazzini seit den 1830er Jahren gepredigt und zu realisieren versucht wurde. 1850 ist ähnlich wie 1815 ein Erfolg der staatskonservativen und staatslegitimatorischen Europaidee, in welchem die demokratischen Mitspracherechte kaum eine Rolle spielen sollten. Das ist übrigens die schwere Last, die Europa heute noch zu tragen hat! Da hilft es auch nicht, immer wieder auf die europäische Dimension des revolutionären Geschehens hinzuweisen und jeden noch so losen Faden zusammenzubinden. Von einem demokratischen Europa war man nach 1850 weiter entfernt denn je. Auch dies lässt sich an der Studie von Canis ablesen, ohne dass der Autor selbst dazu Stellung nimmt. Man kann Canis’ Arbeit damit auch in gewisser Weise als einen Gegenentwurf zu Clarks ‚europäisierter‘ Geschichte von 1848 lesen. Denn die nationalen Konstellationen waren in den vielfältigen Teilen Europas sehr unterschiedlich. Die Dynamik des Gesamtgeschehens kann man nur hinreichend verstehen und die Wechselwirkungen analysieren, wenn man sich auch intensiv auf die je verschiedenen regionalen und nationalen Bedingungen und Konfliktvoraussetzungen einlässt.

Es bleibt: Konrad Canis ist ein Jahr vor diesem publikationsarmen und vor allem publikationsschwachen 175-jährigen Jubiläum der Revolution von 1848/49 wohl das wichtigste und gehaltvollste – auf jeden Fall das anregendste – Buch zur deutschen Revolution gelungen.