Chinesische Intellektuelle haben sich bereits früh durchaus kontrovers zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu Wort gemeldet. Der Diskurs um diesen Konflikt ist dabei nur ein aktuelles Beispiel für die vielgestaltigen, innerchinesischen Debatten der Gegenwart und zeigt, dass es im Einparteienstaat Xi Jinpings zumindest brüchige Diskursräume gibt, in denen Intellektuelle die mannigfaltigen Herausforderungen Chinas (in der Welt) verhandeln und reflektieren können. Befassen wir uns mit diesen Debatten, so eröffnet sich ein überaus instruktiver Blick unter die Oberfläche der propagierten Gleichförmigkeit des chinesischen Diskurses; in westlichen Öffentlichkeiten war das Interesse an diesen chinesischen Debatten lange Zeit allerdings nur begrenzt vorhanden.

Hier setzt der vorliegende Sammelband des Sinologen Daniel Leese und des Journalisten Shi Ming an. Ausgehend von der Überzeugung, dass man sich mit den Diskursen in China auseinandergesetzt haben muss, um fundiert über China sprechen zu können, wollen die beiden renommierten China-Kenner einen Beitrag leisten, der deutschen Öffentlichkeit die Vielfalt und Tiefe des zeitgenössischen chinesischen Denkens zu vermitteln (S. 41). Dazu haben sie Schlüsseltexte von 21 führenden chinesischen Intellektuellen aus den vergangenen knapp 20 Jahren zusammengetragen, übersetzt und kommentiert, die zu einem besseren Verständnis gegenwärtiger Debatten und Probleme in Politik und Gesellschaft Chinas beitragen (S. 39–42).

In den Blick kommt dabei ein breites Spektrum an Intellektuellen unterschiedlichster disziplinärer Verortung: Von regimekritischen Intellektuellen wie der Journalistin und Gründerin des Wirtschaftsportals „Caixin“, Hu Shuli, über liberale Intellektuelle wie die Historiker Ge Zhaoguang und Xu Jilin, bis hin zu parteinahen Denkern wie dem Pekinger Jura-Professor Jiang Shigong (S. 32–39; S. 615–617).

Die ausgewählten 21 Beiträge sind dabei unter vier Themenkomplexe subsummiert: Im ersten Teil werden unter dem Oberbegriff „Chinesisches Selbstverständnis“ (S. 43–167) unter anderem die Fragen verhandelt, was die chinesische Nation ausmache und worin das Wesen des „wahren Patriotismus“ bestehe. Im zweiten Teil geht es um das Verhältnis von chinesischen zu sonstigen Traditionen in „Staatsdenken und Herrschaftslegitimation“ (S. 169–348). Dabei wird in Texten unter anderem die Rolle des (Neu‑)Konfuzianismus für die chinesische Politik erörtert und die Herrschaft der kommunistischen Partei im Staat Xi Jinpings neu legitimiert. Der dritte Themenkomplex befasst sich mit der Herausforderung der Modernisierung in den ländlichen Regionen Chinas (S. 349–436). Abgeschlossen wird die Sammlung mit ausgewählten „Zukunftsperspektiven“ (S. 437–587) – hier finden sich anders als in den vorangegangenen Debattenfeldern konkrete Entwürfe und Anstöße für die Politik. Thematisiert wird unter anderem die schwierige Rolle von Frauen im Wirtschaftssystem, es findet sich aber beispielsweise auch ein Text, der das Sozialkreditsystem gegen Kritik verteidigt.

Die Herausgeber eröffnen anhand dieser Debattenfelder einen tiefen Einblick in die vielfältigen Facetten des chinesischen Denkens der Gegenwart. Die ausgewählten Textbeiträge werden dabei nicht nur kritisch kommentiert; jeder der vier Themenkomplexe wird zudem mit einer kurzen Einordnung eingeleitet, sodass auch Leserinnen und Lesern ohne Hintergrundkenntnisse der Einstieg erleichtert wird. Dass neben wissenschaftlichen Artikeln auch Reden, Blogbeiträge und transkribierte Diskussionsrunden mit aufgenommen wurden, macht den Band zudem für Fachleute besonders interessant.

Neben den 21 Stimmen, die im Zentrum des Bandes stehen, finden sich im Sammelband überdies zwei analytische Beiträge der Herausgeber selbst, die es besonders hervorzuheben gilt: Daniel Leese bietet in einer breit angelegten Einleitung nicht nur eine umfassende Kontextualisierung der ausgewählten Texte, er setzt die Beiträge und die Intellektuellen zudem in eine längere Linie intellektueller Strömungen und Debatten seit der Reformära der späten 1970er Jahre (S. 11–42). In einem Abschlussessay bietet Shi Ming wiederum eine historische Reflexion zu den vielfältigen Rollen, Selbstverständnissen und Herausforderungen chinesischer Intellektueller in ihrem Verhältnis zum Staat (S. 590–609). Die Beiträge der Herausgeber leisten damit weit mehr als eine umfassende kritische Kontextualisierung – es sind eigenständige wissenschaftliche Beiträge, die auch losgelöst von den ausgewählten Texten wichtige Impulse setzen für die jüngere intellectual history. Herausgekommen ist eine Anthologie, die als erste umfassend aufbereitete Bestandsaufnahme zum intellektuellen Diskurs Chinas der Gegenwart gelten kann.

Der vorliegende Band ist inhaltlich wie auch konzeptionell beeindruckend. Nach der Lektüre ist klar: Wer die Entwicklungen in China und seine Rolle in der Welt besser verstehen will, wer im öffentlichen Diskurs China-Expertise für sich beansprucht, muss sich künftig auch dieser innerchinesischen Diskurse strukturiert annehmen. Der Band liefert vor diesem Hintergrund einen wichtigen Beitrag für eine nuanciertere Diskussion über das China der Gegenwart. Den Herausgebern ist ein Standardwerk gelungen, das Maßstäbe setzt – und zugleich eine Weiterführung geradezu einfordert.