Philipp Kröger hat mit seiner nun in der Reihe „Historische Wissensforschung“ bei Wallstein erschienenen Dissertation einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Statistik und der Daten vorgelegt. Am Beispiel der Nationalitätenstatistik untersucht er den Einfluss statistischer Praktiken auf Bevölkerungspolitik. Zeitlich und räumlich fokussiert er dabei auf den Osten Deutschlands beziehungsweise Preußens von 1860 bis 1945. Über diesen Zugriff gelingt Kröger zweierlei: Zum einen kann er Kontinuitäten über verschiedene politische Systeme in der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachzeichnen. Zum anderen kann er die Bedeutung von Definitions- und Visualisierungspraktiken hervorheben.

Er teilt seine Studie dabei in fünf Großkapitel ein, die sich (1.) mit der „Institutionalisierung der Nationalitätenstatistik im langen 19. Jahrhundert“, (2.) mit der „Einübung des statistischen Blicks nach Osten um 1900“ am Beispiel der Ostmark, (3.) mit Bevölkerungspolitiken rund um den Ersten Weltkrieg, (4.) mit der Veränderung des statistischen Blicks nach Osten in der Zwischenkriegszeit und (5.) mit der nationalsozialistischen Volkstumspolitik beschäftigen.

Methodisch inspiriert ist Kröger dabei von der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours (S. 26). Durch diese Brille betrachtet Kröger jenen Prozess, der Statistik zur gouvernementalen Strategie der Souveränitätsherstellung (S. 85) machte. Dabei arbeitet er vier zentrale Thesen heraus, die er am Ende seines Buches konzise zusammenfasst (S. 298–301): Erstens konnte über den gesamten Untersuchungszeitraum keine funktionale Definition nationaler/ethnischer Zugehörigkeit entwickelt werden, da ein solches Konzept empirisch-„natürlich“ nicht zu fassen war beziehungsweise als rein subjektive Kategorie sich der Messbarkeit entzog; zweitens beeinflussten sich Nationalitätenstatistik und Raumvorstellungen wechselseitig; drittens kam es um die Jahrhundertwende (auch) in der Nationalitätenstatistik zu einer „biopolitischen Wende des Nationalen“ (S. 300) – Statistik sollte fortan nicht mehr nur beschreiben, sondern aktiv gestalten; viertens war die Bevölkerungsstatistik „Bedingung der Möglichkeit“ der Praktiken wie etwa ethnischer Säuberungen (S. 301).

In den einzelnen Kapiteln verfolgt Kröger eine akteursbasierte Erzählung – ausgehend von Menschen berichtet er über die Entwicklungen der Nationalitätenstatistik. Dabei legt er sich kein allzu enges methodisches Korsett an, was die Darstellung zum einen flüssig macht, zum anderen Raum lässt, historische Kontexte in ihrer Ambivalenz zu beleuchten. Immer wieder zeigt er dabei überzeugend die Wechselwirkungen zwischen statistischen Debatten um Definitionen und Visualisierungen, um Vorstellungen von Raum und Nation und den davon informierten oder sie anleitenden politischen Prozessen auf, etwa die preußische Siedlungspolitik, das Weltkriegsprojekt Ober-Ost oder schlussendlich die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik.

So überzeugend Krögers Darstellung und so wichtig der Beitrag gerade auch für eine Politikgeschichte deutscher Ostpolitik ist, so schade ist es, dass ausgerechnet im Bereich der engeren Wissens- und Datengeschichte nicht noch tiefsinniger über die Quellen, die im Übrigen in vielen farbigen Illustrationen eine zentrale Rolle in der Darstellung einnehmen, nachgedacht wird.

In den letzten Jahren hat Christine von Oertzen interessante Forschungsansätze zur Datenvisualisierung in statistischen Praktiken für das 19. Jahrhundert vorgelegt. Eine Auseinandersetzung damit hätte sicher noch weitere spannende Erkenntnisse über die Realitätskonstruktion jener Statistiken liefern können. So bleiben für das Feld der Datengeschichte des 19. Jahrhunderts noch offene Forschungsfragen. Krögers Studie bietet dabei künftig einen wichtigen Anlaufpunkt und eine substanzielle Verknüpfung zur Kulturgeschichte der Politik, die vor allem für das 20. Jahrhundert Deutungsmacht zu entfalten vermag.