1 Einleitung

Alle paar Jahrzehnte wird das internationale Wirtschaftssystem von einer Krise heimgesucht, die das tägliche Funktionieren des Systems und der Institutionen, in die es eingebettet ist, dramatisch beeinflusst. In solchen Fällen sagen wir, dass der Kapitalismus transformiert wurde und dass wir in eine neue Ära des globalen Kapitalismus eingetreten sind. Zu solchen Ereignissen gehören die Lange Depression (1873–1877), die Große Rezession (1930er Jahre), der Inflationsschock (1970er Jahre) und die globale Finanzkrise (2007–2009). Tiefgreifende Wirtschaftskrisen verändern den Kapitalismus nicht von selbst, sondern bilden vielmehr einen fruchtbaren Boden für nachfolgende Kämpfe um die Wirtschaftsordnung. Sie sind keine isolierten Ereignisse, sondern vielmehr Teil langfristiger Prozesse, die bereits einige Zeit zuvor begonnen haben – und auch danach weitergehen werden. Keine der oben genannten Krisen hat das Wirtschaftssystem revolutioniert, aber alle diese Krisen haben es transformiert: Sie haben Prozesse beschleunigt, die wahrscheinlich auch unabhängig von diesen Ereignissen stattgefunden hätten, sie haben zur Auflösung alter Institutionen geführt und Möglichkeiten zur Errichtung neuer geschaffen. Auch die Corona-Krise wird wahrscheinlich das Wesen des globalen Kapitalismus für Jahrzehnte beeinflussen. Die Pandemie stellt immerhin die schwerste globale wirtschaftliche Störung seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Was für eine Form der Wirtschaft kommt nach der Pandemie? Diese Frage ist auch heute noch von größter Relevanz, in einer Situation, wo viele Menschen eigentlich das Thema „Corona“ lieber schnell hinter sich lassen möchten – einerseits wegen der schwierigen persönlichen Erfahrungen in der Krise, andererseits wegen der extrem umfassenden Medienberichterstattung über Entwicklung und Verlauf der Pandemie.

Bei Ereignissen dieses Ausmaßes ist die Ungewissheit über die Zukunft groß und viele Beteiligte nutzen die Gelegenheit, um ihre spezifische Perspektive im gesellschaftlichen Diskurs zu verallgemeinern. Jede weltanschauliche Gruppe sieht in den wirtschaftlichen Aspekten der Pandemie etwas anderes. Libertäre sehen in ihnen einen Beweis für die Fähigkeit freier Märkte, trotz staatlicher Eingriffe gut zu funktionieren. Der Marxismus sieht in diesen Aspekten dagegen Hinweise auf eine endgültige Überwindung des Kapitalismus. Aus einer sozialdemokratischen Perspektive liefern die wirtschaftlichen Krisenfolgen den Beweis für die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe und eine Chance, den Wohlfahrtsstaat wiederzubeleben. Der Rechtspopulismus sieht hingegen in der Krise eine weitere Rechtfertigung, die Globalisierung zurückzudrehen, während der Kosmopolitismus in ihr die dringende Notwendigkeit internationaler Koordination und von mächtigen internationalen Organisationen begründet sieht.

Vor diesem Hintergrund geht es nachfolgend darum, ein möglichst breites Spektrum von Wortmeldungen (in Buchform) zu den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzudecken. Die meisten sachlichen Diskussionen über künftige wirtschaftliche Entwicklungen während der Corona-Krise beschränkten sich nämlich auf die Mitglieder derselben politischen Gemeinschaft, mit einer zunehmenden Engführung des internen Diskurses – und einem immer weniger konstruktiven Austausch zwischen den Lagern. Dafür gibt es einen systematischen Grund, wie der Harvard-Ökonom Dani Rodrik erläutert: „Momentous events such as the current crisis engender their own ‚confirmation bias‘: we are likely to see in the COVID-19 debacle an affirmation of our own worldview. And we may perceive incipient signs of a future economic and political order we have long wished for.“Footnote 1

Wenn wir also die publizierte Debatte zu den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie in einer sehr breiten Perspektive angehen, lassen sich drei Kerndiskussionszusammenhänge differenzieren, jene der Wirtschaftswissenschaft, der kritischen Gesellschaftsforschung und der Internationalen und Vergleichenden Politischen Ökonomie. Zusätzlich werde ich noch gezielt auf Beiträge aus dem Globalen Süden eingehen sowie auf eine Vielzahl von Perspektiven außerhalb dieser drei Kerne.

2 Wirtschaftswissenschaftliche Bücher

Eine erste Gruppe von Bestandsaufnahmen der Corona-Krise sowie ihrer Implikationen für die langfristige Entwicklung des Kapitalismus stammt von renommierten Ökonomen, in Deutschland beispielsweise von Clemens Fuest, dem Leiter des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, und von Marcel Fratzscher, dem Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), international beispielsweise von Markus K. Brunnermeier (Universität Princeton) oder Vito Tanzi (früher am Internationalen Währungsfonds). Die meisten dieser Bücher ordnen die Corona-Pandemie in den Kontext einer generellen Interpretation zukünftiger wirtschaftlicher Entwicklung ein; es ist anzunehmen, dass sie bereits vor der Krise in Grundzügen entwickelt waren und nun noch einmal speziell auf die Krise zugespitzt wurden.

Mitunter hat man auch den Eindruck, dass Autor oder Verlag den Bezug auf die Pandemie im Titel eher aus Marketinggründen verwenden. Besonders deutlich ist das bei dem Beitrag von Alexander Börsch, dem Chefökonomen von Deloitte Deutschland. Seine Analyse umfasst die Darstellung einer Reihe ökonomischer Trends, die aus seiner Perspektive die 2020er Jahre prägen werden.Footnote 2 Obwohl sich das Buch laut Titel mit der „Post-Corona-Wirtschaft“ beschäftigt, spielt die Pandemie hier eine eher untergeordnete Rolle. Im Kern seiner Analyse stehen drei der Wirtschaft exogene Treiber, von denen Börsch eine prägende Kraft für die kommenden Jahre erwartet, nämlich der demografische Wandel, technologische Entwicklungen (beispielsweise neue digitale Technologien) und die Politik, wobei er hier die Nachhaltigkeit in den Vordergrund stellt. Der Anspruch des Buches ist nicht die Identifikation von ‚Megatrends‘, die sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken, sondern von sieben ‚Makrotrends‘, die sich auf die verbleibende Dekade beschränken. Dabei differenziert Börsch zwischen strukturellem Wandel, dem Wandel der Märkte und dem Wandel der Politik. Zu den vier strukturellen Trends gehören die Herausbildung einer neuen digitalen Dienstleistungsökonomie, eine neue Phase der Globalisierung (Dienstleistungen statt Güter), die entscheidende Rolle digitaler Wettbewerbsfähigkeit und die Konzentration von Talenten in regionalen tech-hubs. Beim Wandel der Märkte verweist er auf neue Anforderungen an den Arbeitsmärkten und bei den Konsumenten, letztere etwa durch den demografischen Wandel; von der Politik erwartet er vor allem ein Drängen auf Nachhaltigkeit. Diese Trends werden in leicht verständlicher Sprache ausdifferenziert und mitunter durch Grafiken illustriert, auch wenn aus wissenschaftlicher Perspektive die Quelle vieler Einschätzungen interessant gewesen wäre. Börsch verzichtet auf eine übergreifende Interpretation, ihm geht es eher um eine Ordnung der verschiedenen Kräfte, die in diesen Jahren auf die Wirtschaft einwirken. Große Überraschungen für den wirtschaftlich interessierten Leser und Leserinnen bleiben aus, aber das ist auch der Anspruch dieses auf umfassende deskriptive Darstellung ausgerichteten Buchs. Über die Auswirkung der Corona-Krise auf die Entwicklung des Kapitalismus lernen wir allerdings wenig, die Pandemie ist aus der Sicht dieser Publikation – entgegen ihres Titels – kein nennenswerter Einflussfaktor für die 2020er Jahre, allenfalls bestärkt sie einige bereits zuvor angelegte Trends, beispielsweise die Digitalisierung.

Auch die Beiträge von Markus Brunnermeier und Vito Tanzi beschäftigen sich nicht in erster Linie mit der Corona-Pandemie und ihren ökonomischen Auswirkungen. Sie ordnen die Pandemie jedoch etwas systematischer in ihr übergreifendes Argument ein, wobei es in beiden Büchern darum geht, wie wir die Wirtschaft gegen die sich in jüngerer Zeit häufenden Großkrisen resilienter gestalten können. Im Kern von Tanzis Analyse steht die grundlegende Unterscheidung von statistisch vorhersehbaren zukünftigen Entwicklungen (Risiken) und statistisch nicht vorhersehbaren Ereignissen (Unsicherheit).Footnote 3 Diese Unterscheidung wurde bereits 1921 unabhängig voneinander von Frank KnightFootnote 4 und John Maynard KeynesFootnote 5 aufgezeigt. Pandemien gehören wie Erdbeben, Hungersnöte, Atomunfälle und der Klimawandel aus der Sicht von Tanzi zu letzteren. Weiterhin argumentiert er, dass sich Regierungen in der Vergangenheit vor allen Dingen mit ersteren beschäftigt und letztere als unkontrollierbare ‚Akte Gottes‘ vernachlässigt haben. Tanzi nimmt hier implizit eine Gegenposition zu Börsch ein, dem es ja gerade um die Ausbuchstabierung bereits existierender Trends geht. Die Corona-Pandemie ist hervorragend geeignet, um Tanzis Argument zu illustrieren, auch wenn die Kernideen des Buchs zweifellos bereits vor der Pandemie angelegt waren. Tanzi greift hier nicht zuletzt auf seine Erfahrung aus 20 Jahren als Direktor der Abteilung für Fiskalfragen beim Internationalen Währungsfonds zurück und beschäftigt sich vor allen Dingen mit der Frage, wie Regierungen und im Speziellen die Steuerpolitik sich in Zukunft besser auf die Häufung von unvorhersehbaren Ereignissen vorbereiten können. Mit seiner zentralen These prognostiziert er, dass wir in Zukunft eine viel stärkere Zusammenarbeit zwischen fiskalisch solide finanzierten Regierungen benötigen, um die Folgen solcher Ereignisse – zu denen aus seiner Sicht insbesondere der Klimawandel gehört – besser abzufedern. Diese Zusammenarbeit sollte sich aus seiner Sicht auch darauf richten, besonders reiche Individuen stärker zur Besteuerung heranzuziehen. Leider führt er allerdings nicht aus, wie dieses hehre und ganz sicher sinnvolle Ziel nach Jahrzehnten immer stärkerer Steuervermeidung seitens der Superreichen politisch erreicht werden kann. Sein Beitrag zur Wirtschaftsdiskussion im Kontext der Corona-Krise besteht vor allem aus einer eindrucksvollen Dokumentation der zunehmenden Häufung unvorhergesehener Katastrophen – und das Buch ist aus dieser Perspektive wohl eher als ein moralischer Appell an die Reichen zu verstehen, in Zukunft ihren Beitrag zur Absicherung der Menschheit gegen die vermehrt auftretenden Großkatastrophen zu leisten.

Auch Markus Brunnermeier fokussiert in seinem Buch auf die Stabilität unseres Wirtschaftssystems gegenüber der wachsenden Relevanz globaler Krisen.Footnote 6 Im Zentrum seines (mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2021 ausgezeichneten) Werkes steht der Begriff der Resilienz. Letztere „steht für eine ‚Fähigkeit, zurückzufedern‘, nicht zu verwechseln mit der Robustheit, welche die Fähigkeit ist standzuhalten“ (S. 13), illustriert mit der Unterscheidung zwischen dem biegsamen Schilfrohr und der mächtigen Eiche, die durchaus im Sturm auch brechen kann (basierend auf einem Gedicht von Jean de La Fontaine). Um diese Resilienz zu erreichen, schlägt Brunnermeier vor, dass wir unser Wirtschaftssystem in Zukunft stärker mit Redundanzen und Reserven ausstatten (beispielsweise mit den ebenfalls von Tanzi postulierten fiskalischen Puffern) und dafür auf etwas Effizienz verzichten. Bei Brunnermeier geht es also in erster Linie um ein normativ-politisches Argument, nicht um eine Prognose des Wirtschaftssystems nach der Corona-Pandemie. Die Pandemie dient ihm jedoch in einem der beiden Hauptteile des Buches – der andere beschäftigt sich mit makroökonomischer Resilienz, seiner Kernkompetenz – zur Illustration seines Vorschlags. Dieser Vorschlag ist als eine Form des aufgeklärten Liberalismus zu verstehen, bei dem zwar individuelle Freiheitsrechte weiterhin eine zentrale Rolle spielen, diese jedoch gleichzeitig vor einem Scheitern geschützt werden sollen. Brunnermeier skizziert in Umrissen auch, wie eine erhöhte Resilienz von Gesellschaft und Wirtschaft erreicht werden soll, einerseits durch soziale Normen (besonders wichtig in der Corona-Krise), und andererseits durch staatliche Eingriffe (mit einer größeren Prominenz in der makroökonomischen Resilienz). Beides soll verknüpft werden durch einen neuen Gesellschaftsvertrag, bei dem aber nicht recht klar wird, was er genau beinhaltet und wie er politisch realisiert werden soll. Corona-Krise und makroökonomische Resilienz wirken auch zusammen. So konnte zwar die Instabilität an den Finanzmärkten durch Fiskal- und Geldpolitik während der Pandemie begrenzt werden, aber nur auf Kosten einer potenziell geringeren Resilienz nach der Krise. Ergänzt wird diese Perspektive mit einem Ausblick auf Resilienz aus globaler Perspektive, wobei Brunnermeier hier insbesondere die mangelhafte Resilienz wenig diversifizierter globaler Lieferketten, die Risiken im Kontext eines verstärkten Machtkampfes zwischen den USA und China sowie die Herausforderung durch den Klimawandel in den Vordergrund stellt. Das Buch nimmt zu einer Vielzahl sehr spezieller Fragen der aktuellen Gesundheits- und Wirtschaftspolitik Stellung, in der Regel mit Verweis auf einschlägige Informationsquellen, und richtet sich vor allem an Leserinnen und Leser mit einer grundlegenden wirtschaftswissenschaftlichen Vorbildung. Erfreulich ist, dass Brunnermeier dabei den Globalen Süden nicht vergisst und besonders auf die Notwendigkeit neuer Formen der Umschuldung hinweist. Mithilfe des Resilienz-Begriffs gelingt es ihm, eine große Vielzahl an ökonomischen Analysen lose zu bündeln und mit entsprechenden Politikvorschlägen zu kombinieren. Eine klare Voraussage für die Entwicklung der globalen Wirtschaft nach der Corona-Krise enthält allerdings auch seine Analyse nicht.

Neben diesen Beiträgen, die die Corona-Pandemie eigentlich nur im Titel tragen (Börsch) oder sie vorwiegend zum Anlass nehmen, ihre generellen Überlegungen zur ausgeprägten Fragilität der zeitgenössischen Ökonomie nochmals zu vertiefen (Brunnermeier und Tanzi) stehen wirtschaftswissenschaftliche Analysen, bei denen die Pandemie eindeutig im Vordergrund steht. Dazu gehört beispielsweise die umfassende Analyse von Paul J. J. Welfens.Footnote 7 Letzterer hat bereits 2020 eine 400 Seiten umfassende und mit einer Vielzahl empirischer Informationen zur frühen Entwicklung der Corona-Pandemie gespickte Analyse vorgelegt – eine eindrucksvolle Leistung. Das Buch skizziert zunächst den durch Corona bedingten Gesundheitsschock sowie die daraus hervorgehende Wirtschaftsinstabilität, bevor es sich im zweiten Teil der politischen Bearbeitung der Krise zuwendet, einerseits in Bezug auf die Europäische Union und andererseits in Bezug auf globale Kooperation. Während der erste Teil des Buchs aus heutiger Perspektive deutlich an Relevanz verloren hat, enthält der zweite Teil eine aus dieser Sicht durchaus verblüffende Voraussage für die weitere ökonomische Entwicklung. Deutlich im Vordergrund steht hierbei die Fragilität der Europäischen Union und insbesondere der Eurozone (mit Italien als Zentrum neuer Turbulenzen). Welfens betont die Wahrscheinlichkeit einer zweiten Eurokrise, die aus seiner Sicht vor allem dann nachhaltig abgewendet werden kann, wenn die Mitgliedsländer der Eurozone teilweise durch nationale Gold- und Währungsreserven gesicherte gemeinsame Eurobonds (Joint Eurobonds) einrichten, wobei Italien und Spanien zur Absicherung der Zins- und Tilgungszahlungen eine Abgabe auf die privaten Vermögen erheben müssten (S. 215). Das zur Drucklegung des Bandes in groben Umrissen angekündigte „NextGenerationEU“-Paket der Europäischen Union lehnt er hingegen besonders als „eine Art Provokation für jetzige und künftige Steuerzahler, die das Riesenprogramm letztlich über Steuern mit Blick auf Zins- und Tilgungszahlungen finanzieren müssen“ (S. 203), ab. Welfens steht allerdings einer gemeinsamen Fiskalpolitik der Europäischen Union nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, er schlägt als größere EU-Reform die Einführung einer Fiskalunion mit einem eigenen Eurozonen-Parlament und einer Eurozonen-Regierung vor. Sehr optimistisch in Bezug auf eine Umsetzung seiner Forderungen ist er jedoch nicht, und da er auch die USA als gespalten und binnenfixiert ansieht, erwartet er eine Schwächung des Westens gegenüber dem aufstrebenden China. Insgesamt liegt der wesentliche Beitrag des Buches zur Diskussion auf die Wirtschaft nach Corona – trotz der umfassenden und eindrucksvollen Zusammenstellung von empirischen Informationen in der Frühphase der Pandemie – vor allen Dingen darin, nachhaltig auf die Fragilität der Europäischen Union hinzuweisen, die auch durch das „NextGenerationEU“-Programm nicht grundlegend beseitigt wurde.

Die Sorge über die Fragilität der Eurozone und der Europäischen Union insgesamt spielt im Beitrag von Clemens Fuest ebenfalls eine wichtige Rolle, wenn auch nicht so prominent wie bei Welfens.Footnote 8 Ähnlich wie Welfens macht er sich große Sorgen über die Staatsverschuldung einiger Länder der Eurozone (insbesondere Italiens), steht dabei aber dem „NextGenerationEU“-Programm grundsätzlich etwas positiver gegenüber. Generell geht es bei Fuest weniger um eine umfassende und empirisch vielfach belegte Bestandsaufnahme der Wirkungen der Corona-Pandemie, sondern vielmehr um die normative Ausrichtung der Politik zur Überwindung der Krise. Im Gegensatz zur globalen Perspektive Brunnermeiers geht es ihm vor allem um die deutsche Politik. Hier nimmt Fuest nicht nur dezidiert zu einer Reihe von politischen Vorschlägen während der Pandemie Stellung – von Einkommenssteuersenkungen bis hin zu Abwrackprämien –, sondern skizziert auch strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft. Große Probleme sieht er in der gestiegenen Staatsverschuldung, aber auch in strukturellen Entwicklungen der Weltwirtschaft durch Digitalisierung und durch die in der Corona-Krise deutlich gewordene Störanfälligkeit der Globalisierung. Leserinnen und Leser profitieren von den sehr klaren und pointierten Prognosen – die aber daher auch falsch liegen können. So spricht aus der Sicht von Fuest wenig für steigende Zinsen (S. 126f.), die Entwicklungen seit der russischen Invasion der Ukraine konnte er allerdings auch nicht antizipieren. Fuest äußert sich in seiner sehr systematischen Darstellung zu einer Vielzahl von Konsequenzen der Corona-Pandemie. Als gemeinsamer Nenner stellt sich jedoch seine Sorge heraus, dass die Pandemie das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft grundlegend zugunsten des Staates verändert hat. Der Staat habe während der Pandemie Gesellschaft und Wirtschaft stabilisiert, unter anderem auf Kosten einer höheren Staatsverschuldung. Viele Unternehmen hätten ebenfalls von staatlichen Unterstützungsleistungen profitiert. Fuest hebt auch die in der Pandemie weiter gewachsene soziale Ungleichheit hervor und fürchtet eine Überforderung des Sozialstaats. Hinzu kommt, dass aus seiner Sicht die Bürger in der Pandemie eine veränderte Sicht von Staat und Wirtschaft gewonnen hätten: „In der Krise erscheint der Staat vielen als allmächtige Institution, die wirtschaftliche Probleme jederart ausgleichen kann. Der Privatsektor wirkt dem gegenüber schwach und anfällig. Deshalb steigen die Erwartungen, vom Staat versorgt zu werden, während die Kritik an der marktwirtschaftlichen Ordnung wächst“ (S. 244). Es verwundert daher wenig, dass seine politischen Schlussfolgerungen sehr stark darauf abstellen, den Staat und insbesondere die Staatsschulden wieder zurückzudrängen.

Etwas weniger wirtschaftsliberal fällt demgegenüber das von Marcel Fratzscher vorgelegte Programm aus.Footnote 9 Er verzichtet – im Gegensatz zu Fuest und Welfens – auf eine systematische Bestandsaufnahme der Folgen der Pandemie, sondern webt seine Analyse der Pandemie in eine eher abstrakte Gesellschaftsanalyse ein, die er als „neue Aufklärung“ bezeichnet. Sein Kernargument ist, dass die Corona-Pandemie dazu geführt hat, dass sich vier grundlegende Konfliktlinien in unserer Gesellschaft deutlicher gezeigt haben als zuvor, nämlich jene „zwischen Ethik und Wirtschaft, zwischen Staat und Markt, zwischen Multilateralismus und Nationalismus und zwischen Wissenschaft, Medien und Politik“ (S. 15). Auch wenn er die neue Konturierung dieser Konfliktlinien in der Krise als „schmerzvoll“ bezeichnet, sieht Fratzscher die Krise zugleich aber potenziell als Wendepunkt zu einem neuen Zeitalter der Aufklärung und des Humanismus. Aufbauend auf einer sehr knappen historischen Analyse der Aufklärung hebt er drei Elemente als essenziell hervor, nämlich Autonomie, Universalismus und Humanismus (S. 15–20). Autonomie verweist aus seiner Sicht darauf, dass Freiheitsrechte heute sehr ungleich verteilt sind. Das soll aus seiner Perspektive genauso korrigiert werden, wie das Prinzip der Universalität dazu führen soll, die von vielen Menschen gefühlte Ungerechtigkeit zu reduzieren. Das Prinzip des Humanismus operationalisiert er schließlich in einer sehr optimistischen Weise dahingehend, dass die Krise gezeigt habe, wie die meisten Gesellschaften den Schutz der Schwächeren als hohen Wert ansehen. Die Pandemie sieht er vor diesem Hintergrund vor allem als Denkanstoß, um neue Balancen in den von ihm zuvor genannten Spannungsverhältnissen zu finden. Entsprechend dieser von Beginn an explizierten, normativen Ausrichtung geht es Fratzscher dann auch weniger um eine Analyse der Implikationen der Pandemie für die Zukunft des Kapitalismus, sondern in erster Linie um normative Abwägungen zwischen unterschiedlichen Handlungsoptionen. Ähnlich wie Fuest wendet sich auch Fratzscher an ein deutsches Publikum und nimmt zu einer Vielzahl von Fragen der aktuellen Wirtschaftspolitik kurz Stellung, zum Teil mit politischen Vorschlägen, wie der Schaffung eines Staatsfonds zur digitalen Teilhabe (S. 139–141). Obwohl seine Analyse die umfassenden negativen Auswirkungen der Pandemie nicht verschweigt und im Laufe des Buches recht systematisch ausbuchstabiert, ist seine Zukunftsprognose erstaunlich optimistisch. Fratzscher setzt darauf, dass die gemeinsame Krisenerfahrung weltweit dazu führt, dass sich Gesellschaften in Zukunft weitaus solidarischer verhalten als zuvor. Die empirische Basis dieser hoffnungsvollen Gesellschafts- und Wirtschaftsanalyse bleibt jedoch unklar.

In der Zusammenschau wird deutlich, dass es den wirtschaftswissenschaftlichen Beiträgen nicht gelingt, die empirische Analyse der Corona-Pandemie sowie ihre wirtschaftlichen Folgen mit einer theoretisch angeleiteten Prädiktion zur weiteren Entwicklung des Kapitalismus zu verknüpfen. Pointierte Aussagen zur künftigen Entwicklung der Wirtschaft formuliert nur Börsch, der aber bei seiner Analyse die Corona-Pandemie kaum einbezieht und im Wesentlichen auf eine Fortschreibung empirischer Tendenzen setzt, die sich bereits vor der Pandemie angedeutet hatten. Alle anderen Analysen haben eine stark normative Ausrichtung, die mehr oder weniger intensiv von empirischen Beobachtungen in der Frühphase der Pandemie unterfüttert werden. Dabei verfolgen sie unterschiedliche Anliegen – von der Notwendigkeit einer erhöhten Resilienz unseres Wirtschaftssystems bei Brunnermeier und Tanzi über die Sorge gegenüber fiskalischen Belastungen im Rahmen eines Zusammenbruchs des Eurosystems bei Welfens, beziehungsweise um eine zu starke Ausdehnung des Staatssektors bei Fuest, bis hin zum Plädoyer von Fratzscher, den Gemeinschaftssinn während der frühen Phase der Krise zur Bewältigung zukünftiger Herausforderungen zu nutzen. Wenn man jedoch die Beiträge trotzdem darauf abklopft, was sie für die Zukunft der Wirtschaft erwarten, ergeben sich durchaus gemeinsame Motive. Sehr deutlich ist die Sorge um die künftige Fragilität unseres Wirtschaftssystems. Die Erwartung bevorstehender Erschütterungen ist in der Realität durch Ukraine‑, Energie- und Inflationskrisen sogar noch schneller eingetreten als von den entsprechenden Autoren angenommen. Ein weiteres gemeinsames Leitmotiv besteht in der Erwartung einer künftig größeren Rolle des Staates in der Wirtschaft, auch wenn diese Rolle normativ zum Teil deutlich abgelehnt wird (Fuest). Eine Reihe der Publikationen hebt schließlich besonders die in Zukunft wieder steigende Rolle der Fiskalpolitik hervor, obschon die Autoren die Ausbremsung der Wirtschaftsstimulierung durch die in der Inflation betriebene Geldpolitik noch nicht voraussehen konnten. Da es die Inflationsbekämpfung den Zentralbanken in der kommenden Zeit nicht mehr ermöglichen wird, die Wirtschaft durch eine aggressive Geldpolitik zu stabilisieren wie in den 15 Jahren zuvor, dürfte die Erhebung und Verteilung fiskalischer Ressourcen in absehbarer Zeit deutlich an Bedeutung zunehmen.

3 Beiträge der kritischen Gesellschaftsforschung

Sehr frühzeitig und eindeutig wurden die Auswirkungen der Corona-Krise auf die weitere Entwicklung der Wirtschaft hingegen aus der Sicht der kritischen Gesellschaftsforschung prognostiziert. Der Tenor der Diagnose lautet, dass die Corona-Krise eine typische Folge des Kapitalismus sei, die dessen Krisentendenzen in der Folge verschärfen werde, mit einem Plädoyer für eine Überwindung dieses Wirtschaftssystems. Diese Perspektive wurde vor allem in einer Reihe von Sammelbänden und kürzeren Monografien entwickelt. Die meisten Beiträge argumentieren sehr normativ, auf eine systematische Sammlung von Fakten zu der Entwicklung der Krise und ihren ökonomischen Auswirkungen wird zumeist verzichtet. Ähnlich wie in den Beiträgen der Wirtschaftswissenschaften geht es um den Versuch einer politischen Einflussnahme, hier aber weniger über den politischen Apparat, sondern durch eine gesellschaftliche Mobilisierung. Die Corona-Krise wird zum Anlass genommen, auf die bereits seit Langem diagnostizierten Kehrseiten des kapitalistischen Wirtschaftssystems hinzuweisen und zu dessen Überwindung aufzurufen.

International vergleichsweise rege rezipiert wurden zwei kurze Flugschriften des Verso-Verlages, die recht schnell nach Ausbruch der Pandemie erschienen sind. Grace Blakeleys Beitrag gehört bis heute zu den meistzitierten Büchern, die sich mit dem Verhältnis zwischen Corona-Krise und Wirtschaft beschäftigen.Footnote 10 Blakeley argumentiert, dass sich der westliche Kapitalismus bereits beim Ausbruch der Pandemie in einer tiefen Krise befand. Diese Krise bestehe in der Erschöpfung des Wirtschaftsmodells des Finanzkapitalismus, welches die letzten Jahrzehnte dominiert habe. Nach der Erschütterung dieses Modells in der globalen Finanzkrise 2008 könnten die westlichen Ökonomien nur noch durch eine sehr lose Geldpolitik der Zentralbanken und einer entsprechenden Schuldenaufnahme von Privatsektor und öffentlichem Sektor stabilisiert werden. Aber auch diese Stabilisierung hätte sich Ende 2019 zunehmend erschöpft, eine Entwicklung, die wir durch den Ausbruch der Corona-Krise inzwischen weitgehend vergessen haben. Die Entwicklung des Kapitalismus seit Ausbruch der Pandemie analysiert sie mit dem auf Rudolf Hilferding zurückgehenden Konzept des Staatsmonopolkapitalismus.Footnote 11 Diese Form des Kapitalismus zeichnet sich auf der einen Seite durch eine immer stärkere Monopolbildung in der Wirtschaft aus, heute – und durch die Pandemie sichtbar verstärkt – durch eine starke Stellung der großen Digitalkonzerne. Auf der anderen Seite arbeiten diese Unternehmen immer stärker mit dem Staat zusammen, der von ihnen abhängig ist, sie aber auch in der Krise stabilisiert. Das auf Adam Smith zurückgehende Idealbild des Kapitalismus als eine freie, wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft geht dabei endgültig unter. Blakeley verknüpft diese Analyse mit einem Bild der internationalen Politik, das sie als neuen Imperialismus bezeichnet. Hier stellt sie auf die Fortdauer einer internationalen Arbeitsteilung ab, bei der der Norden eindeutig über den Süden dominiert, in jüngster Zeit insbesondere durch die mit der City of London und der Wall Street verbundenen Finanznetzwerke. Im Gegensatz zum Globalen Norden fehlt dem Globalen Süden zumeist die Fähigkeit, sich durch stark erhöhte Staatsausgaben vor den schlimmsten ökonomischen Auswirkungen der Krise zu schützen. Angesichts der ausgeprägten Hierarchie des internationalen Währungsnetzwerks würde dieser Versuch mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer starken Kapitalflucht und einer weiteren Schuldenkrise des Südens führen; letztere liegt ja bereits vor, auch wenn bei uns nur vereinzelt thematisiert.Footnote 12 Als Ausweg sieht Blakeley nur die Option eines green new deals, also eines umfangreichen staatlichen Investitionsplans im Kampf gegen den Klimawandel. Im Gegensatz zu anderen Konzepten unter diesem Label hebt sie allerdings die Chancen hervor, die in diesem Kontext eine deutlich ausgeweitete Rolle des Staates und eine Schwächung des Marktmechanismus mit sich bringen. Ähnlich wie Hilferding sieht sie Möglichkeiten einer stärkeren zentralen Organisation der Wirtschaft unter demokratischer Kontrolle und mit einem Revival der staatlichen Planung. Die rege Rezeption von Blakeleys kurzem Büchlein ist nicht überraschend – im Gegensatz zu vielen anderen Beiträgen der kritischen Gesellschaftsforschung ordnet sie die Pandemie sehr stringent theoretisch ein und entwirft eine klare Perspektive, wie die Pandemie zur Weiterentwicklung unseres Wirtschaftssystems führen könnte.

In einem weiteren kurzen Verso-Büchlein entwickelt Andreas Malm ein ähnliches Argumentationsschema, wenn auch mit einem anderen Schwerpunkt.Footnote 13 Aus seiner Sicht muss die Corona-Krise im Kontext der Klimakrise gesehen werden. Beide hätten gemeinsame Wurzeln. Diese Wurzeln liegen in der stark expansiven Tendenz des Kapitalismus, der mit seinem Vordringen in die letzten Naturreservate zur Übertragung von Corona-Viren von Tieren auf den Menschen geführt und zudem durch globale Handels- und Transportnetzwerke schnell für eine globale Ausbreitung des Virus gesorgt hat. Auch aus der Sicht von Malm bietet die Corona-Krise eine große Chance für eine positive Transformation unseres Wirtschaftssystems. Argumentativ hilft die Pandemie dabei, die Kehrseiten unseres Wirtschaftssystems zu demonstrieren und gleichzeitig zu zeigen, dass zuvor ungeahnte staatliche Eingriffe in die Wirtschaft durchaus möglich sind, wenn der politische Wille für diese besteht. Diese Beobachtungen sollten aus der Sicht von Malm auch von der Klimabewegung produktiv genutzt werden. Hingegen bestehe keine Perspektive mehr für die (zu) milden sozialen Reformen der Sozialdemokratie: „The time for gradualism is over“ (S. 121). Auch der Anarchismus sei keine Lösung – wir benötigten mehr, nicht weniger harte staatliche Macht (S. 125). Der Ansatzpunkt für seine Hoffnungen liegt – ähnlich wie bei Blakeley – in der starken Auswirkung staatlicher Maßnahmen während der Pandemie. Malm sieht hier deutliche Parallelen zur russischen Situation 1917/1918. Vor diesem Hintergrund plädiert er für eine alle Ressourcen mobilisierende Kriegswirtschaft im gemeinsamen Kampf gegen Corona und Klimawandel, allerdings eine „kommunistische Kriegswirtschaft“ (war communism), die auf umfassender staatlicher Planung beruht. Diese auf Lenin zurückgehende Überlegung wendet er dann konkret auf verschiedene Aspekte sowohl der Corona- als auch der Klimakrise an und buchstabiert abschließend einige Ansatzpunkte aus, warum ihm der Öko-Leninismus nun leichter umsetzbar erscheint als zuvor.

Den deutschen Büchern zu den Auswirkungen der Pandemie auf die Entwicklung der Wirtschaft fehlt im Vergleich zu diesen beiden Verso-Büchlein eine klare und stringente Ableitung aus einer spezifischen Kapitalismustheorie (Hilferding beziehungsweise Lenin). Das liegt zum einen daran, dass sie zumeist in Form von Sammelbänden vorliegen (mit einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven), zum anderen aber auch daran, dass in der deutschsprachigen kritischen Gesellschaftsforschung in den letzten Jahren wirtschaftliche Fragen im Vergleich zu Themen wie Gender, Migration, Rassismus, Rechtspopulismus oder Ökologie deutlich an Relevanz verloren haben. Diese Diagnose lässt sich auch anhand von Büchern zu Corona und Wirtschaft aus unterschiedlichen gesellschaftskritischen Zusammenhängen illustrieren. Der von Ernst Lohoff und Norbert Trenkle herausgegebene Band verknüpft ähnlich wie Malm die Themen Corona-Pandemie, Klimakrise und Kapitalismus.Footnote 14 Wie Malm argumentieren die Beiträge des Bandes, dass die Kombination der beiden Krisen den Kapitalismus endgültig unhaltbar macht, ohne dies aber stringent mit einer expliziten Kapitalismustheorie zu verknüpfen – auch wenn der Band einen kurzen Exkurs in Marx’ Kritik der kapitalistischen Reichtumsproduktion enthält und hier auf die dem Kapitalismus grundsätzlich innewohnende Eigenheit der „Externalisierung lebensnotwendiger Tätigkeiten, die keine Warenform annehmen“, verweist (S. 65) – und unter Verzicht auf eine ähnlich pointierte Strategie zur Überwindung des Kapitalismus, obwohl das Buch weitaus umfangreicher ist als die kurzen Flugschriften aus dem Verso-Verlag. Es geht dem Band vor allem um eine Kapitalismuskritik mit Ökologieschwerpunkt; die Pandemie und ihre Folgen für die Wirtschaft werden nur als Aufhänger verwendet.

Einige dieser Beobachtungen gelten auch für die gleich 700 Seiten starke Anthologie, die von Dieter F. Bertz herausgegeben wurde.Footnote 15 Auch hier wird die Corona-Pandemie in unterschiedliche Facetten der Gesellschafts- und Kapitalismuskritik eingeordnet, ohne stringent theoretisch angeleitet zu werden, eine umfassende Prädiktion zur weiteren Entwicklung des Kapitalismus zu enthalten oder auf eine konkrete politische Handlungsstrategie zugespitzt zu werden, wie sie in den beiden Verso-Büchlein skizziert wird. In diesem Sammelband steht allerdings die Corona-Pandemie mit allen ihren Facetten eindeutig im Vordergrund. Besonders interessant ist der dritte Teil, in dem über 20 Beiträge den Umgang mit der Pandemie in verschiedenen Ländern des Globalen Nordens und Südens schildern; wirtschaftliche Fragen spielen dabei jedoch nur eine geringe Rolle. Nur einige Beiträge im letzten Teil des Bandes nehmen das Versprechen des Titels („Die Welt nach Corona“) auf und beschäftigen sich mit Perspektiven für den Kapitalismus nach der Pandemie. Allerdings dominieren auch hier eher relativ abstrakte normative Abhandlungen, lediglich die Beiträge von Nicole Mayer-Ahuja, Ingar Solty und Lukas Oberndorfer skizzieren vorsichtig einige empirische Perspektiven für den Kapitalismus nach Corona, die insbesondere eine Schwächung des orthodoxen Neoliberalismus und eine Stärkung des Staatsinterventionismus hervorheben.

Neben diesen Sammelbänden sind auch Themenhefte der Zeitschriften der kritischen Gesellschaftsforschung erschienen, beispielsweise die Ausgabe 206 der Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft PROKLA, die sich mit den Folgen von Corona beschäftigt.Footnote 16 Verglichen mit den genannten Sammelbänden findet sich hier eine empirisch deutlich gründlichere und theoretisch stringentere Beschäftigung mit dem Verhältnis zwischen Corona und Kapitalismus, wenn auch thematisch naturgemäß selektiver. Einige der Analysen erlauben aber doch vereinzelte Perspektiven auf die Zukunft der Wirtschaft nach der Pandemie. So zeigen Philipp Köncke und Stefan Schmalz bei ihrer Analyse des globalen Systems der Impfstoffproduktion und -verteilung aus der Sicht der Weltsystemtheorie, dass die selektive Impfdiplomatie die Aufteilung der Weltwirtschaft in rivalisierende geoökonomische Blöcke nochmals vertieft hat. Lorena Herzog wendet Konzepte des ‚Plattformkapitalismus‘ auf die Geschäftsentwicklung Amazons im Kontext der Pandemie an und demonstriert, wie die neue digitale Ökonomie Machtasymmetrien und Monopolisierungstendenzen noch weiter intensiviert. Stefanie Hürtgen analysiert die alltagspolitische Debatte um ‚Systemrelevanz‘ aus der Perspektive der Demokratietheorie. Sie demonstriert dabei, dass die Behandlung von Pflegekräften als individuelle ‚Heldinnen‘ und ‚Helden‘ dazu gedient hat, strukturelle Veränderungen im Kapitalismus der gesellschaftlichen Reproduktion zu verhindern.

Schließlich ist mittlerweile auch aus der deutschsprachigen kritischen Gesellschaftsforschung eine erste Monografie zum Thema Corona und Kapitalismus entstanden. Der von Verena Kreilinger, Winfried Wolf und Christian Zeller verfasste BandFootnote 17 arbeitet eine Vielzahl von Aspekten der Pandemie und ihren wirtschaftlichen Konsequenzen aus einer ‚ökosozialistischen Umbauperspektive‘ auf, verzichtet aber auf die Einbettung in eine stringente theoretische Analyse zur Entwicklung der Weltwirtschaft und auch auf eine klare Prädiktion auf die weitere Entwicklung des Kapitalismus. Immerhin enthält sie nicht nur eine empirisch breite Bestandsaufnahme des Verlaufs der Pandemie und ihrer Folgen (wenn auch nicht so datengesättigt wie in den wirtschaftswissenschaftlichen Stellungnahmen), sondern auch einen umfassenden Forderungskatalog. Dieser Katalog besteht aus vier Säulen, wobei sich die erste Säule – aus der Perspektive der kritischen Gesellschaftsforschung durchaus überraschend – auf einer gemeinsamen Stellungnahme der vier großen deutschen Wissenschaftsgesellschaften stützt (Frauenhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Wissensgemeinschaft Leibniz und Max-Planck-Gesellschaft). Auf Grundlage dieser Strategie zur Begrenzung der Pandemie wird dann skizziert, wie sie solidarisch angewendet werden kann. Die weiteren drei Säulen beschäftigen sich mit Maßnahmen zum grundlegenden Umbau des Gesundheitssystems, zur substanziellen gesellschaftlichen Umverteilung von Reichtum und von Solidarität von der lokalen bis zur globalen Ebene.

Insgesamt fällt auf, dass die Beiträge aus der deutschsprachigen kritischen Gesellschaftsforschung wesentlich fragmentierter sind als ihre englischsprachigen Pendants. Sie verzichten zudem zumeist darauf, ihre Analyse der Corona-Krise in eine systematische theoretische Analyse des Kapitalismus – und speziell seiner künftigen Entwicklung – einzubetten. Auch der empirische Gehalt der entsprechenden Studien ist in den meisten Fällen gering, insbesondere im Vergleich mit den wirtschaftswissenschaftlichen Stellungnahmen. Mit letzteren teilen sie allerdings die stark normative Ausrichtung – nur, dass es hier darum geht, den Kapitalismus zu überwinden, anstatt ihn zu stabilisieren. Der Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Entwicklung der Wirtschaft nach Corona ist in beiden Fällen eher begrenzt.

4 Wortmeldungen aus der Internationalen und Vergleichenden Politischen Ökonomie

Teile der Internationalen Politischen Ökonomie teilen einige normative Bezüge der kritischen Gesellschaftsforschung. Besonders deutlich ist das beim Beitrag der in Kanada lehrenden indischen Politikwissenschaftlerin Radhika Desai.Footnote 18 Fest verankert in der auf Karl Marx und Friedrich Engels zurückgehenden Denktradition beschäftigt sie sich zunächst mit der historischen Entwicklung des Kapitalismus bis hin zu Neoliberalismus und Finanzialisierung als seiner bisher letzten Entwicklungsstufe. Angesichts der Fragilität eines vor allem von den Finanzmärkten angetriebenen Wachstums habe die Pandemie die besonders finanzialisierten Ökonomien Großbritanniens und der USA überproportional hart getroffen, während die chinesische Ökonomie davon weitgehend verschont geblieben sei. Alle Versuche zur Stabilisierung des Kapitalismus durch staatliche Eingriffe hält Desai für vergeblich. Noch weiter beschleunigt würde dessen Niedergang nun durch den aktuellen ‚Stellvertreterkrieg‘ in der Ukraine. „As neoliberal failures, domestically against the pandemic and internationally in the war, mount, socialist China’s economic successes and, very likely, Russia’s economic resilience and military successes can only accelerate the shift of the world’s economic centre of gravity from the West towards China and from capitalism to socialism“ (S. 27). In dieser Situation sei es nun die Aufgabe der Linken, keine ‚sozialdemokratischen‘ Kompromisse – aktuell etwa in Form von mission economy,Footnote 19modern monetary theoryFootnote 20 oder eines universellen Grundeinkommens – mehr einzugehen, sondern mit China und seinen geopolitischen Alliierten am Aufbau des Sozialismus zu arbeiten. Desai kann sich daher – im Gegenteil zu den meisten anderen hier rezipierten Autorinnen und Autoren – nicht vorwerfen lassen, keine Vision für die Zukunft unseres Wirtschaftssystems nach der Pandemie zu haben. Die Pandemie selbst spielt bei dieser Vision allerdings eine extrem untergeordnete Rolle – und ob ihre Interpretation des chinesischen Wirtschaftssystems als sozialistisch wirklich zutrifft, kann auch bezweifelt werden.Footnote 21

Eine deutlich nuancierte – wenn auch weniger klare – Perspektive zum Wirtschaftssystem nach Corona breitet ein Sammelband von überwiegend australischen und kanadischen Politökonomen aus.Footnote 22 Deren empirisch fundierte und von verschiedenen Konzepten der kapitalismuskritischen Politischen Ökonomie angeleitete Beiträge decken ein breites Spektrum von Wirtschaftsaspekten ab, die von der Pandemie betroffen sind, vom Finanzsystem über soziale Reproduktion, Nahrungsproduktion und Gesundheitswirtschaft bis hin zum Energiesektor. Zusammengehalten wird der Band von der Diagnose, dass die Pandemie eine größere Herausforderung für den neoliberalen Kapitalismus darstellt als dessen bisherige Krisen, und zwar durch eine weitere Vertiefung der existierenden sozioökonomischen Ungleichheiten, eine sich intensivierende Verschuldung sowie nahende Grenzen der sozialen und ökologischen Reproduktion (S. 7–9). Während die Krise des neoliberalen Kapitalismus in den Beiträgen des Bandes mehr als deutlich wird (und von den Autorinnen und Autoren auch unabhängig von der Pandemie erwartet wurde), bleibt leider unklar, was an dessen Stelle treten soll. Immerhin werden abschließend drei Szenarien für eine künftige Entwicklung differenziert (S. 224–226): eine Beibehaltung des Neoliberalismus, eine erneuerte Form des Keynesianismus oder eine Überwindung des Kapitalismus (die aber politisch als unrealistisch eingestuft wird).

Eine andere Fragestellung verfolgt eine weitere Publikation aus dem kapitalismuskritischen Teil der Politischen Ökonomie. Der von Alan W. Cafruny und Leila Simona Talani herausgegebene Band beschäftigt sich mit der Erklärung der unterschiedlichen staatlichen Reaktionen auf die Pandemie.Footnote 23 Dabei konzentrieren sich die Autorinnen und Autoren auf drei von ihnen unterschiedene Gruppen von Staaten, ‚neoliberale‘ (Großbritannien, Vereinigte Staaten und Griechenland), ‚populistische‘ (Brasilien, Indien und Italien) und ‚autoritäre‘ (China und Russland); ein vierter Teil beschäftigt sich übergreifend mit einer globalen Perspektive und Afrika. Leider verzichtet der Sammelband auf eine vergleichende Auswertung der Länderstudien, sowohl in Bezug auf die Determinanten der verschiedenen Krisenreaktionen als auch auf wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten nach der Pandemie.

Pluralistische Perspektiven der Internationalen und Vergleichenden Politischen Ökonomie werden schließlich – neben Beiträgen aus Anthropologie, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Rechtswissenschaft und Soziologie – in einem von Didier Fassin und Marion Fourcade herausgegebenen Sammelband dokumentiert, der am Institute for Advanced Study der Princeton University entstanden ist.Footnote 24 Für unsere Fragestellung sind vor allem Beiträge aus jenem Teil relevant, der sich mit „Political Economies“ beschäftigt (andere Themen sind „Moral“, „Everyday“ und „Knowledge Economies“). Hier argumentiert beispielsweise Ravi Kanbur, dass das Pendel im Verhältnis zwischen Markt und Staat nun nicht permanent in Richtung des Staates ausschlagen wird, sondern (nur) für ein paar Jahre oder Jahrzehnte, so wie wir auch in der Vergangenheit in diesem Verhältnis einen zyklischen Wandel und keine lineare Entwicklung gesehen haben. Ähnlich erwartet Benjamin Lemoine in der Diskussion über den Umgang mit der Staatsverschuldung von Ländern des Globalen Südens nur temporäre Abweichungen von der Bedienung dieser Forderungen und der entsprechenden fiskalischen Austerität, während er davon ausgeht, dass das generelle Schuldenregime langfristig stabilisiert wird. Genauso sieht Lena Lavinas in den besonderen fiskalischen Transfers während der Pandemie (in Brasilien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten) keinen strukturellen Wandel in Bezug auf soziale Reproduktion und soziale Sicherheit. Benjamin Braun allerdings identifiziert eine langfristig transformative Perspektive, indem er darauf hinweist, dass in der Pandemie die Macht der Zentralbanken nochmals deutlich gestiegen ist und insbesondere die US Federal Reserve inzwischen bereit ist, nicht nur das (strikt regulierte) Bankensystem zu stabilisieren, sondern auch das unregulierte Schattenbanksystem bis hin zu den hochriskanten Strategien von hedge funds und private equity. Die historisch einmalige Machtkonzentration bei den Zentralbanken bietet aber auch Ansatzpunkte für eine Transformation des Kapitalismus hin zu einer demokratischen Planung der Wirtschaft. Voraussetzung dafür wäre aber eine Demokratisierung der derzeit technokratisch agierenden Zentralbanken.

Insgesamt knüpfen die bisher artikulierten Beiträge aus der Politischen Ökonomie zumeist an die normativen Maßstäbe der kritischen Gesellschaftsforschung an und erwarten eine weitergehende Krise des Neoliberalismus, wenn nicht sogar des Kapitalismus selbst. Im Gegensatz zu den Publikationen der ersteren bauen sie aber stärker auf empirischer Analyse auf. Innovativere Perspektiven entwickeln vorwiegend Ravi Kanbur – mit der Erwartung von zyklischen Entwicklungen zwischen ökonomischem Liberalismus und Staatsorientierung – und Benjamin Braun, der die zunehmende ökonomische Machtkonzentration bei den Zentralbanken als Ansatzpunkt einer neuen Planwirtschaft identifiziert, die aber dringend gesellschaftlich kontrolliert werden müsste.

5 Monografien aus dem Globalen Süden

Obwohl der Großteil der Beschäftigung mit den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise im akademischen Betrieb des Globalen Nordens erfolgte, existieren auch im Globalen Süden bedeutende Stimmen zu dieser Thematik. Das wird insbesondere bei einer Bestandsaufnahme der empirischen Forschung in Fachzeitschriften deutlichFootnote 25; aber durchaus auch in Buchform. So legte Imad Moosa von der Kuwait University eine umfassende Bestandsaufnahme zu den „Economics of COVID-19“ vor.Footnote 26 Seine (theoretisch enthaltsame) Studie ist empirisch sehr breit angelegt, sie umfasst auch Daten zur Anzahl von Infektionen sowie zu den Effekten verschiedener Gegenmaßnahmen. Auch wenn seine Bestandsaufnahme sich recht oberflächlich mit einer Vielzahl von Folgen der Corona-Krise für unser Wirtschaftssystem beschäftigt, fällt doch eine markante Schwerpunktsetzung ins Auge. Moosa nimmt sehr kritisch Stellung zur Rolle von Marktprozessen in der Krise, aus seiner Perspektive hat die Pandemie letztere gründlich desavouiert. Gleiches gilt für die Prinzipien des „Washington Consensus“, also der Verbreitung wirtschaftsliberal geprägter Prinzipien durch Weltbank und Internationalen Währungsfonds. Während Moosa einen deutlichen Niedergang des „Washington Consensus“ wahrnimmt, kontrastiert er diese Beobachtung mit dem Aufstieg des „Beijing Consensus“, der aus seiner Sicht gestärkt wird, auch weil er den internationalen Wirtschaftsaustausch eher auf die Basis reziproken Nutzens und der Respektierung der staatlichen Autorität stellt. Insgesamt sieht er den vom Wirtschaftsliberalismus geprägten Status quo vor Ausbruch der Pandemie nun deutlich im Niedergang in Entwicklung hin zu einer mehr staatszentrierten Wirtschaftsordnung begriffen.

Eine noch schärfere Abrechnung mit unserem Wirtschaftssystem nimmt ein türkisches Autorenteam vor. Efe Can Gürcan, Ömer Ersin Kahraman und Selen Yanmaz ordnen die Corona-Pandemie in eine längerfristige Krise des Kapitalismus ein, den sie in jüngerer Zeit vor allem durch Digitalisierung gekennzeichnet sehen.Footnote 27 Die negativen Auswirkungen des digitalen Kapitalismus – insbesondere die Intensivierung sozioökonomischer Ungleichheiten, die Konsolidierung der Monopolstellung großer Digitalkonzerne sowie die Einführung neuer Formen digitaler Überwachung – werden durch die Pandemie nochmals vertieft. Das Post-Corona-Wirtschaftssystem sehen die Autoren in erster Linie von Furcht geprägt, nicht nur aufgrund der Gesundheitsprobleme, sondern auch in Bezug auf Sinophobie und rechtsradikalen Populismus. Ihre dystopische Betrachtung beschreibt weiterhin die Intensivierung der Ausbeutung der Arbeiterklasse während der Pandemie sowie die Intensivierung des westlichen – speziell amerikanischen – Imperialismus. Ausgehend von dieser Analyse beschäftigen sie sich auch sehr kritisch mit Initiativen, um den Kapitalismus in dieser schwierigen Situation zu stabilisieren, insbesondere mit dem vom Weltwirtschaftsforum propagierten great resetFootnote 28 und verschiedenen Initiativen für einen green new deal. Aus der Perspektive ihrer Analyse sind diese Vorhaben bei Weitem nicht geeignet, um zu einem akzeptablen Wirtschaftssystem zu kommen. Sie stellen ihm daher ein ökosozialistisches Projekt gegenüber, das auch alle weiteren Initiativen zu einer Reform des Kapitalismus ablehnt, in einer ähnlichen Weise wie bei Desai.Footnote 29 Auch wenn sich Gürcan, Kahraman und Yanmaz bewusst sind, dass die Implementation dieser Alternativen noch weit entfernt liegt, identifizieren sie vereinzelte gesellschaftliche Ansatzpunkte für ihre Realisierung, beispielsweise die Solidaritätsökonomie oder die gesellschaftlichen Proteste der „Black Lives Matter“-Bewegung. Insgesamt spitzt ihre Analyse die Kapitalismuskritik der deutschen kritischen Gesellschaftsforschung noch einmal zu, verzichtet aber ebenfalls auf die Einordnung in eine stringente Theorie zur Entwicklung des Kapitalismus sowie auf eine Prognose zur wirtschaftlichen Entwicklung nach der Pandemie.

Verglichen mit dieser scharfen Abrechnung mit unserem Wirtschaftssystem ist die von Lim Mah Hui und Michael Heng Siam-Heng vorgelegte Analyse aus Singapur sehr moderat – und auch viel stärker mit einer empirischen Analyse verbunden.Footnote 30 Ihre Analyse wird theoretisch sehr stringent eingebettet in die Gedankenwelt Karl Polanyis, besonders dessen kritische Analyse der Gefahren einer ‚Entbettung‘ von Marktwirtschaften, wie sie in der „Great Transformation“Footnote 31 enthalten ist. Aus der Sicht der Autoren demonstriert die Corona-Pandemie einen weiteren Schritt dieser Entbettung, basierend auf einer Finanzialisierung des Kapitalismus, aber insbesondere auch dessen ökologischer Expansion. Ausgehend von dieser Analyse enthält das Buch eine kurze datengestützte Untersuchung der Pandemie und ihrer unmittelbaren Auswirkungen, bei der Lim und Siam-Heng in erster Linie den Zusammenhang von kapitalistischer Expansion und zoonotischen Erkrankungen hervorheben sowie die ausgeprägte Fragilität eines finanzialisierten Wirtschaftssystems. Zwar haben in ihrer Analyse die Zentralbanken letzteres kurzfristig stabilisiert, doch ist sehr unklar, wie man gefahrlos aus dieser Phase extrem expansiver Geldpolitik wieder aussteigen kann. Das hat ja bereits 2013 das sogenannte taper tantrum beim Rückzug der Federal Reserve aus der hyperexpansiven Geldpolitik nach der globalen Finanzkrise demonstriert. Die aktuelle Phase hoher Inflation bestätigt solche Befürchtungen, auch wenn die Autoren den unmittelbaren Auslöser, den russischen Überfall auf die Ukraine, natürlich nicht voraussehen konnten. Sehr interessant für die Frage nach der Zukunft des globalen Wirtschaftssystems sind dann auch die letzten Kapitel des schmalen Büchleins, in denen die Autoren – ausgehend von einer starken Expansion des Rechtspopulismus während der Pandemie – drei komplementäre Szenarien für die zukünftige Entwicklung des Kapitalismus skizzieren. Diese drei Szenarien bezeichnen sie als „national-populistische neoliberale Marktökonomie“, „sozialdemokratische Marktökonomie“ und „Marktautoritarismus“. Alle drei gehen davon aus, dass nun Gegenkräfte zur Vermarktlichung der letzten Jahrzehnte wirken werden, allerdings keine fundamentale Abwendung von Marktmechanismen stattfinden wird. Das national-populistische Marktsystem sehen Lim und Siam-Heng vor allen Dingen in den USA (unter Donald Trump) sowie in Teilen von Osteuropa, Lateinamerika und Asien, das sozialdemokratische Marktmodell (mit einer Balance zwischen Marktmechanismus und der ‚Wiedereinbettung‘ durch sozialen Schutz und Emanzipation) in Neuseeland, Kanada, Skandinavien sowie in Deutschland und Frankreich, und den Marktautoritarismus schließlich in Russland, China und Vietnam. Aus ihrer Sicht ist ein sozialdemokratisches Marktsystem deutlich besser geeignet, mit der Herausforderung der Post-Pandemie-Wirtschaft umzugehen als die beiden übrigen Alternativen.

Insgesamt fällt bei den Büchern aus dem Globalen Süden auf, wie skeptisch die Betrachtung gegenüber dem bisher vorherrschenden ökonomischen Liberalismus und seinen Washingtoner Institutionen ausfällt. Die Corona-Pandemie hat aus dieser Sicht die Schattenseiten eines von Finanzialisierung und Neoliberalismus geprägten Wirtschaftssystem mehr als deutlich gemacht. Je nach politisch-theoretischer Perspektive wird die Zukunft der Wirtschaft nach der Pandemie entweder in einer sozialdemokratisch-staatsbasierten Reform, einem eher autoritär-staatszentrierten Kapitalismus oder in einer antikapitalistischen Revolution gesehen.

6 Multidisziplinäre Perspektiven

Neben den Kerndisziplinen bei der Beschäftigung mit unserem Wirtschaftssystem – Wirtschaftswissenschaft, Internationale/Vergleichende Politische Ökonomie und kritische Gesellschaftsforschung – hat die Frage nach der Zukunft des Kapitalismus nach der Corona-Pandemie auch vereinzelt Interesse in anderen Wissenschaftsbereichen sowie der Wirtschaftspraxis und den Wirtschaftsinstitutionen gefunden. Besonders große öffentliche Aufmerksamkeit bei den Beiträgen aus den Institutionen hat die Veröffentlichung des Weltwirtschaftsforums erhalten. Unter dem Stichwort des „großen Umbruchs“ haben Klaus Schwab und Thierry Malleret eine sehr kühne Prognose über die weitreichenden Auswirkungen der Pandemie verfasst und bereits im Juli 2020 veröffentlicht.Footnote 32 Da das Buch in einer frühen Phase der Pandemie geschrieben wurde und als breiter, gut verständlicher Essay ohne systematische Empirie gehalten ist, liegt der Fokus der hier angestellten informierten Spekulation auf der Fortschreibung von Tendenzen, die sich bereits vor der Pandemie angekündigt hatten. Solche Tendenzen bezeichnen die Autoren mit den Begriffen der „Interdependenz“ (oder „systemische Konnektivität“), „Geschwindigkeit“ und „Komplexität“ (S. 22–38). Diese Grundüberlegung kann am ehesten als konzeptionelle Klammer für die extreme Vielzahl der in diesem Band angesprochenen Themen dienen. Was bedeutet das konkret? Auf globaler Ebene erwarten die Autoren einen teilweisen Rückzug aus der Globalisierung, beispielsweise durch robustere internationale Lieferketten. Außerdem gehen sie von einer Intensivierung des Konfliktes zwischen China und den USA sowie deren gegenseitiger Entkopplung aus. Schwab und Malleret können bei ihrer Prognose natürlich auf ihre besonders engen Kontakte in nationale Regierungen und große Unternehmen zurückgreifen. Die von ihnen prognostizierten Entwicklungen sind in Ansätzen inzwischen bereits eingetreten. Gleiches gilt für die von ihnen angenommene Intensivierung von Digitalisierung und Automatisierung der Wirtschaft. In Bezug auf die nationale Wirtschaftspolitik erwarten sie – auch durch steigende Ungleichheit – eine zunehmende Attraktivität des Wohlfahrtsstaates sowie eine stärkere Hinwendung zum Nationalstaat, die Zeit der ‚kleinen‘ Regierung sei vorbei, die ‚großen‘ Regierungen kehren zurück. Unternehmen werden aus ihrer Perspektive in Zukunft viel stärker mit staatlichen Eingriffen und mit einem größeren gesellschafts- und klimapolitischen Aktivismus rechnen müssen, der shareholder value-Kapitalismus wird von einem stakeholder-Kapitalismus abgelöst.

Wenn schon in der Hochburg des aufgeklärten Wirtschaftsliberalismus eine solche Hinwendung – oder besser Rückwendung – zum Nationalstaat erwartet wird, darf es kaum verwundern, dass eine eher etatistische Partei wie die deutsche SPD die Gelegenheit nutzt. Hier hat das Präsidium des Wirtschaftsforums der SPD einen umfassenden Band zu den „Postcoronomics“ herausgegeben, die eine Vielzahl von Kurzbeiträgen aus der Partei und ihrem Umfeld dokumentiert (wobei auch Bundesfinanzminister Christian Lindner mit einem Beitrag, „Die Soziale Marktwirtschaft verteidigen!“, vertreten ist).Footnote 33 Angesichts von fast siebzig Beiträgen mit verschiedenen Perspektiven aus Politik und Ökonomie fällt es nicht leicht, eine klare gemeinsame Diagnose herauszudestillieren, aber im Kern plädieren die zuvor auf dem „Blog Politische Ökonomie“Footnote 34 erschienenen Texte für eine sehr aktive Rolle des Staates bei einer umfassenden Transformationsstrategie. Ausbuchstabiert wird diese Transformationsstrategie durch Begriffe eines „Unternehmerstaats“ bei der technologischen Transformation, der Wiederherstellung der „strategischen Souveränität“ von Deutschland und Europa gegenüber den vielfältigen externen Herausforderungen und einer aktiven Industriepolitik im Kontext einer (privat-staatlichen) mixed economy. Die Beiträge sind allerdings durchgehend präskriptiv-normativ und ohne systematischen empirischen Bezug geschrieben, sodass wir keine Diagnose finden, wie die Corona-Krise unser zukünftiges Wirtschaftssystem beeinflusst. Ähnlich wie im Beitrag von Alexander BörschFootnote 35 wird die Corona-Pandemie im Titel vor allem als Verkaufsargument verwendet, um Positionen zu verbreiten, die auch ohne eine Gesundheitskrise favorisiert werden würden. Dafür bietet der Band aber einen guten Überblick über den Stand der aktuellen Debatte in sozialdemokratischen Wirtschaftskreisen.

Angesichts der vielfältigen politikwissenschaftlichen und ökonomischen Prognosen zu einem Rückgang der Globalisierung im Gefolge der Corona-Pandemie kann es nicht verwundern, dass auch eine Gegenposition artikuliert wird, die eine Intensivierung der Globalisierung auf allen Ebenen fordert.Footnote 36 Diese Position wird von einer Reihe Autoren aus dem Umfeld der Technikwissenschaften und deren Anwendung bei Fraunhofer-Instituten und dem Verband Deutscher Ingenieure artikuliert, hier von Hartmut Frey, Engelbert Westkämper und Dieter Beste. Auch hier geht es um eine in erster Linie normative Analyse, die sich nur vergleichsweise oberflächlich mit der Pandemie beschäftigt. Die Botschaft ist allerdings klar. Angesichts der im Kontext der Pandemie überdeutlich gewordenen Fragilität von Lieferketten und der Hinwendung zum Nationalstaat machen sich die Ingenieure Sorgen, dass der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt durch diese Entwicklungen empfindlich gestört werden könnte. Beeinträchtigungen dieses Fortschritts sehen sie in vielen Bereichen, in der Bequemlichkeit der Gesellschaft, der bürokratischen Regulierung, den profitorientierten Unternehmenslenkern und Kapitalmärkten sowie in den gescheiterten Sozialwissenschaften: „Die Sozialwissenschaften entwickeln leider immer noch Theorien und analysieren Gesellschaftsprozesse, die sich in der Vergangenheit abspielten, und übertragen die daraus gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegenwart. Manche Sozialwissenschaftler versuchen mit diesen Erkenntnissen sogar einen Blick in die Zukunft, was an Scharlatanerie grenzt“ (S. 74). Es ist aus der Sicht der Autoren aber auch einfach zum Verzweifeln, dass es so wenig Ingenieure gibt: „[…] dazu muss man einfach bedenken, dass wenige kreative Köpfe Naturwissenschaften betreiben und mehr als 90 % der Menschheit von der Umwandlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Technologie gedankenlos leben“ (S. 63). Mitunter fragt man sich dann als Leser aber doch, ob es nicht hilfreich wäre, die ingenieurwissenschaftliche Analyse etwas systematischer von sozialwissenschaftlichen Theorien anleiten zu lassen, beispielsweise wenn das oben genannte Plädoyer für eine Intensivierung der Globalisierung gleichzeitig damit verknüpft wird, genau das Gegenteil (Autarkie) vorzuschlagen: „Jetzt bietet sich die Möglichkeit, Milliarden in Unternehmen und Infrastruktur zu investieren. Warum dann nicht gleich in nachhaltige Automatisierungsprojekte, die helfen ein Stück Autarkie im Rahmen der Globalisierung wieder zurückzugewinnen“ (S. 5). Aber vielleicht liegt das auch nur an einer etwas diffusen Begriffsverwendung bei diesen Autoren: „Die Globalisierung hat zu einer Globalisierung von Waren, Menschen und Informationen geführt“ (S. VI). Dem Springer-Verlag wäre möglicherweise ein gründlicheres Lektorat bei solchen Sachbüchern zu empfehlen.

Auch die den Ingenieurwissenschaften verhassten Finanzanalysten nutzen die Pandemie, um ihre Botschaften unter das Volk zu bringen: „Was sie jetzt wissen müssen, um nach der Pandemie zu den Gewinnern zu gehören“.Footnote 37 Der amerikanische Investmentbanker und Bestseller-Autor James Rickards entwickelt jedoch zumindest eine umfassende Analyse des Kapitalismus nach der Pandemie, um seine Anlagestrategien plausibel zu machen. Seine im Original bereits 2020 veröffentlichte Analyse ist dystopisch. Alle wirtschaftlichen Rettungsmaßnahmen der Regierungen würden nicht verhindern, dass das wirtschaftliche Wachstum auf viele Jahre sehr gering bleiben werde, zumal die hohen Staatsschulden und die Deflation einen nachhaltigen Aufschwung verhindern werden. So prognostiziert Rickards überall auf der Welt soziale Unruhen, die dann wiederum zum Zerfall der wirtschaftlichen Ordnung führen könnten (S. 173). Vor diesem Hintergrund entfaltet er seine Anlagestrategie, die insbesondere die Investition in Gold prominent hervorhebt und bis 2025 einen Anstieg auf 14.000 Dollar pro Unze Zugewinn von bis zu 700 Prozent erwartet (S. 208); trotz Inflation lässt dieser Anstieg bisher allerdings auf sich warten. So wundert es auch wenig, dass seine wesentliche Handlungsanleitung zur Überwindung der Krise darin besteht, dass die US Federal Reserve immer mehr Gold zu höheren Preisen erwerben solle, um den Dollar abzuwerten, die Inflation in den USA zu beschleunigen und damit die Staatsverschuldung (real) zu reduzieren (S. 228) – und die Anlagestrategie des Autors zu belohnen. Immerhin war seine Anlageempfehlung nicht völlig falsch, wenn auch aus anderen Gründen als von ihm angenommen (den Krieg gegen die Ukraine und die folgende Inflation konnte er nicht voraussehen): Der Goldpreis ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen, gleichwohl nicht ansatzweise in die genannten Dimensionen.

Eine wesentlich seriösere Schilderung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, wahrscheinlich die bisher genaueste Bestandsaufnahme überhaupt, finden wir beim Wirtschaftshistoriker Adam Tooze.Footnote 38 Dieser legt eine detaillierte Chronik der Pandemie im Jahr 2020 vor. Wenn man mit zeitlichem Abstand die Frühphase der Krise in ihren verschiedenen Verästelungen und wirtschaftlichen Folgen noch einmal nachvollziehen möchte, gibt es wohl kein besseres Buch. Was aber lernen wir aus seiner Analyse für die Zukunft der Weltwirtschaft nach Überwindung der Pandemie? Als Historiker verbietet Tooze sich die Spekulation auf zukünftige Entwicklungen. Trotzdem kann man als Leitmotiv seiner umfassenden, allerdings relativ stark auf die USA ausgerichteten Analyse die Diagnose mitnehmen, das Jahr 2020 als eine „umfassende Krise des neoliberalen Zeitalters“ (S. 32) einzuordnen. Ob diese Krise jedoch den Abschluss des neoliberalen Bogens, der bis in die 1970er Jahre zurückführt, darstellt, lässt Tooze offen. Seine Analyse ist auch nicht mit jener aus der kritischen Gesellschaftsforschung zu verwechseln, die eine solche Krise uneingeschränkt begrüßt. Tooze benennt als sein (ex post) Schreckensszenario einen etwas früheren Ausbruch der Krise (also im Jahr 2019), der womöglich dazu geführt hätte, dass Bernie Sanders – angesichts der in der Pandemie großen Popularität von Sanders’ Kernforderung nach einer allgemeinen Gesundheitsversorgung – nicht nur die Vorwahlen der Demokratischen Partei gewonnen hätte, sondern dann auch die US-Präsidentschaft (S. 31). Wenn man überhaupt eine Zukunftsprognose aus dem Buch ableiten möchte, so ist es eine des andauernden technokratischen Krisenmanagements, bei dem den vom politischen Prozess weitgehend isolierten Zentralbanken die Funktion einer aufgeklärten Führung unseres Wirtschaftssystems zugewiesen wird, zumal aus der Sicht von Tooze „das Jahr 2020 nur die erste einer zunehmend unüberschaubaren Reihe von globalen Katastrophen sein wird“ (S. 329). Der amerikanischen Regierung traut er in Anbetracht der Zerrissenheit des politischen Systems und seiner vielfältigen checks and balances hingegen keine umfassende Lösungsstrategie zu. Das Momentum sieht er allerdings auch nicht bei der Europäischen Union, sondern am ehesten in China, weswegen er seine Erzählung auch mit einem Verweis auf die Weitsicht der Intellektuellen des chinesischen Regimes abschließt.

Das andere – im wörtlichen Sinne – große Buch zu den Auswirkungen der Pandemie auf den Kapitalismus hat ein Jurist geschrieben. Der Belgier Koen Byttebier hat ähnlich wie Tooze eine umfassende Darstellung der wirtschaftlichen Aspekte der Pandemie bis zum Frühjahr 2021 vorgelegt.Footnote 39 Sein über 1.000 Seiten starkes – und in der digitalen Version im open access veröffentlichtes – Buch enthält eine umfassende Bestandsaufnahme der gesundheitspolitischen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen in der Frühphase der Pandemie, mit Schwerpunkt auf der Europäischen Union, den USA und einigen internationalen Organisationen. Der Großteil der Darstellung besteht auf einer – im Gegensatz zur flüssigen Darstellung bei Tooze – eher anstrengend zu lesenden Aneinanderreihung von Maßnahmen sowie von Bestandsaufnahmen von deren Effekten. So beschäftigt sich beispielsweise der Abschnitt 7.11.1.2.3.3 auf sieben Seiten mit der Tönnies-Krise und der Reaktion des Staates auf letztere. Auch wenn es Byttebier laut Untertitel um „success and failure of the legal methods for dealing with a pandemic“ geht und große Teile der Darstellung sehr deskriptiv-faktenbasiert sind, hat sein Buch doch einen sehr klaren analytischen und normativen Hintergrund, nämlich die Kritik des wirtschaftlichen Neoliberalismus. Jener wird durchgehend für die unnötige Schwere der Pandemie verantwortlich gemacht. Ob und wie der Neoliberalismus überwunden werden kann, bleibt jedoch offen. Seinen größten Wert hat das umfassende und klar gegliederte Buch als Nachschlagewerk zu den Maßnahmen sowie deren Effekten in der frühen Phase der Pandemie. Das gilt aufgrund der open access-Veröffentlichung gerade für Forscherinnen und Forscher in den weniger reichen Gesellschaften des Globalen Südens mit begrenzten Bibliotheksressourcen.

Das bisher wohl ungewöhnlichste – und für viele Studierende wahrscheinlich mit Abstand unterhaltsamste – Buch zu den Auswirkungen der Pandemie auf unser Wirtschaftssystem stammt schließlich von einem Mediensoziologen. Eugene Nulman analysiert die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie durch eine Diskussion von Kino-Blockbustern wie „Avengers: Endgame“, „Once Upon a Time … in Hollywood“ oder „Parasite“ (alle aus dem Jahr 2019).Footnote 40 Die losen Leitmotive seiner Analyse sind „convergence“ und „rapture“. Unsere Gesellschaft wurde einerseits durch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise zerrissen, hat uns aber gleichzeitig einen Sinn der Zusammengehörigkeit verschafft. Auch hier steht der Neoliberalismus im Zentrum der Analyse, denn nur vor dessen Hintergrund konnten diese Wirkungen entstehen und wichtig werden. Aus dieser analytischen Perspektive werden kürzlich erschienenen Filmen interessante neue Einsichten abgewonnen, indem sie in Beziehung zur Krise und deren Bewältigung gesetzt werden. So vergleicht Nulman den damaligen britischen Premierminister Boris Johnson mit dem malthusianisch denkenden Marvel-Bösewicht Thanos, auch wenn Johnson sich mit seinem Wirtschaftsplan zur Überwindung der Pandemie eigentlich als Superheld vorgestellt hatte (S. 18). Aber auch die Superhelden aus den Marvel-Filmen erhalten aus dieser Perspektive eine interessante Neuinterpretation. Sie werden als moderate Neoliberale interpretiert, die zwar gegen rechte Feinde wie Thanos kämpfen, dabei aber nur das aktuelle Wirtschaftssystem stabilisieren (S. 20). Filme wie das Detektiv-Drama „Knives Out“ (2019) oder der südkoreanische Kassenschlager „Parasite“ werden vor allen Dingen vor dem Hintergrund gelesen, dass sie die besonders schwierige Rolle nicht-weißer Immigranten (Marta in „Knives Out“) und weniger privilegierter Klassen während der Pandemie thematisieren. Die Kernbotschaft des Buchs in Bezug auf den Kapitalismus nach der Corona-Krise besteht darin, dass – wie im Film „Spider-Man: Far From Home“ (2019) anhand des Aufstiegs von Mysterio gezeigt – die Pandemie zu einem noch weiter neoliberal verschärften Wirtschaftssystem führen wird, wenn sich die Gesellschaft nicht wie im Rahmen der abschließend anhand eines Dokumentarfilms thematisierten „Black Lives Matter“-Proteste grundsätzlich dagegen auflehnt. Wir lernen zwar keine kohärente Vision für die Zukunft des Kapitalismus kennen, erhalten dafür aber faszinierende Querverweise zwischen Popkultur und Ökonomie.

7 Fazit

Obwohl die meisten Bücher zum Thema Corona und Wirtschaft klare Aussagen zur weiteren Entwicklung unseres Wirtschaftssystems vermeiden, lässt sich in der Zusammenschau ein gemeinsames Leitmotiv identifizieren. Sehr deutlich ist, dass der überwiegende Großteil der Beobachterinnen und Beobachter in der nahen Zukunft ein weniger liberales Wirtschaftssystem erwartet. Auf der Mikroebene wird es aus dieser Sicht in Zukunft um weniger shareholder value, Effizienz und Wachstum um jeden Preis gehen. Im Vordergrund stehen demgegenüber Konzepte wie Resilienz, de-risking und ökonomische Sicherheit. Ob sich dieser Wandel auch in mehr sozialer Sicherheit und weniger Ungleichheit ausdrücken wird, bleibt aber unklar. Deutlich gestärkt sehen die meisten Analysen jedenfalls den Staat, der in Zukunft wieder stärker in die Wirtschaft eingreifen wird, nicht nur zur sozialen und ökonomischen Stabilisierung nach der Pandemie, sondern auch bei der Bekämpfung des Klimawandels. Dieser Befund ist interessant, widerspricht er doch dem von Dani Rodrik erwarteten „confirmation bias“. Gemäß letzterem hätten beispielsweise die Bücher aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive eine Rückkehr des Marktes annehmen müssen, und jene aus der (englischsprachigen) kritischen Gesellschaftsforschung keine Stabilisierung des Kapitalismus durch den Staat, sondern dessen finale Überwindung.

Auch wenn normativ immer wieder eine bessere Zusammenarbeit der Regierungen bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen postuliert wird, sind die von den hier besprochenen Büchern artikulierten empirischen Prognosen zur weiteren Entwicklung des internationalen Wirtschaftssystems eher skeptisch gestimmt. Im Vordergrund stehen Tendenzen zu einer Deglobalisierung des Güterhandels sowie einer generellen wirtschaftlichen Blockbildung, die ausweislich der jüngsten Entwicklungen nun auch die eigentlich noch im Aufschwung begriffene Globalisierung des Dienstleistungshandels und der Digitalsphäre betreffen könnten. Diese Entwicklungen bedeuten nicht nur dauerhaft höhere Preise für westliche Konsumentinnen und Konsumenten, sondern auch geringere ökonomische Entwicklungsperspektiven für viele Staaten im Globalen Süden, die zudem unter einer explosiv gestiegenen Verschuldung leiden. Ganz besonders negativ dürfte sich die Blockbildung jedoch im Kampf gegen den Klimawandel auswirken.

Diese Intuitionen der (frühen) Buchautoren und Autorinnen stimmen im Großen und Ganzen auch mit den Ergebnissen der Hunderten von systematischen empirischen Studien zu den konkreten ökonomischen Auswirkungen der Pandemie überein, die inzwischen erschienen sind.Footnote 41 Auch hier wird die Schwächung des ökonomischen Liberalismus und der Bedeutungsgewinn des Staats in der Wirtschaft vielfältig konstatiert, obgleich in diesen Studien noch wesentlich spezifischere Folgen der Pandemie für die weitere Entwicklung des Kapitalismus benannt werden, von der international intensivierten Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung über die Hinwendung zu frugalen (statt radikalen oder inkrementellen) Innovationen und einer Reform des Systems der Streitschlichtung zwischen Staaten und Investoren, bis hin zur Herausbildung einer neuen Schuldenkrise in vielen Ökonomien des Globalen Südens. Insofern ist es eindrucksvoll, dass viele der Bücher, die sich mit einem gerade erst entfaltenden historischen Ereignis beschäftigen, dessen zentrale Entwicklungslinien bereits klar erfasst haben.

Auch wenn die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie in der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen vom russischen Überall auf die Ukraine sowie der damit einhergehenden Inflationsentwicklung überdeckt werden, führen die Krisen des Jahres 2023 doch viele Entwicklungsstränge der Pandemie fort.Footnote 42 Nicht nur die Blockbildung zwischen dem von den USA geführten Westen und China hat sich weiter intensiviert, sondern auch die durchgreifende Politisierung der Wirtschaft durch Sanktionen und staatlich angeleitetes friend-shoring verweisen darauf, dass die Prärogative des wirtschaftlichen Liberalismus in den kommenden Jahren zunächst in den Hintergrund treten wird. Die Bankenkrise im März 2023 zeigt zudem die weiterhin extrem hohe Fragilität eines hochgradig finanzialisierten Wirtschaftssystems. Ob jedoch die nun auch durch die Inflation weiter steigende soziale Ungleichheit zu einer neuen Periode der Sozialdemokratie führt, oder sich eher ein autoritär-rechtspopulistischer Kapitalismus durchsetzen wird, gehört zu den spannendsten Fragen der weiteren politökonomischen Entwicklung.

8 Auswahlbibliografie

  • Bertz, Dieter F. (Hrsg.): Die Welt nach Corona. Von den Risiken des Kapitalismus, den Nebenwirkungen des Ausnahmezustands und der kommenden Gesellschaft, 732 S., Bertz + Fischer, Berlin 2021.

  • Blakeley, Grace: The Corona Crash. How the Pandemic Will Change Capitalism, 112 S., Verso, London 2020.

  • Börsch, Alexander: Die Post-Corona-Wirtschaft. Ausblicke auf die 7 entscheidenden ökonomischen Trends des Jahrzehnts, 240 S., Wiley-VCH, Weinheim 2021.

  • Brunnermeier, Markus K.: Die resiliente Gesellschaft. Wie wir künftige Krisen besser meistern können, 336 S., Aufbau, Berlin 2021.

  • Byttebier, Koen: Covid-19 and Capitalism. Success and Failure of the Legal Methods for Dealing with a Pandemic, 1092 S., Springer International, Cham 2022.

  • Cafruny, Alan W./Talani, Leila Simona (Hrsg.): The Political Economy of Global Responses to COVID-19, 325 S., Palgrave Macmillan, London 2023.

  • Desai, Radhiha: Capitalism, Coronavirus and War. A Geopolitical Economy, 266 S., Routledge, London 2023.

  • Di Muzio, Tim/Dow, Matt (Hrsg.): Covid-19 and the Global Political Economy. Crises in the 21st Century, 316 S., Routledge, London 2023.

  • Fassin, Didier/Fourcade, Marion (Hrsg.): Pandemic Exposures. Economy and Society in the Time of Coronavirus, 474 S., HAU Books, Chicago, IL 2021.

  • Fratzscher, Marcel: Die neue Aufklärung. Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Krise, 222 S., Berlin Verlag, Berlin 2020.

  • Frenzel, Michael/Machnig, Matthias/Zenke, Ines (Hrsg.): Postcoronomics. Neue Ideen für Markt, Staat und Unternehmen, 360 S., Dietz Nachf., Bonn 2021.

  • Frey, Hartmut/Westkämper, Engelbert/Beste, Dieter: Globalisierung nach der Corona-Krise. Oder wie eine resiliente Produktion gelingen kann – Ein Essay, 84 S., Springer, Wiesbaden 2020.

  • Fuest, Clemens: Wie wir unsere Wirtschaft retten. Der Weg aus der Corona-Krise, 277 S., Aufbau, Berlin 2020.

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