1 Einleitung

In aktuellen gesellschaftlichen Debatten wird vermehrt über Kompromisse und Kompromissbereitschaft diskutiert.Footnote 1 Die Gründe dafür sind vielfältig, zum Beispiel Diagnosen, die eine zunehmende Polarisierung insbesondere in westlichen Gesellschaften wie den USA, aber auch in Europa feststellen. Zudem erhält die Frage nach Grenzen von Kompromissen mit Blick auf erstarkende rechte politische Strömungen in etablierten Demokratien oder mögliche Verhandlungsszenarien im Krieg Russlands gegen die Ukraine derzeit besondere Aktualität. Ungeachtet solcher Aufmerksamkeitskonjunkturen ist der Kompromiss aber eine grundlegende Technik der Konfliktregelung, die in unterschiedlichen sozialen Bereichen und in unterschiedlichen historischen Kontexten angewendet wird und wurde, um mit Meinungsverschiedenheiten und Interessendifferenzen umzugehen, Konflikte beizulegen und so die Fähigkeit zur Interaktion zu sichern und gewaltsame Eskalationen zu verhindern. Das macht ihn zu einem ebenso interessanten wie relevanten Gegenstand sowohl politikwissenschaftlicher als auch geschichtswissenschaftlicher Forschung.

Wir besprechen im Folgenden aktuelle Literatur zum Thema aus beiden Disziplinen, weil wir davon ausgehen, dass es für die weitere Erforschung des Kompromisses produktiv sein könnte, die disziplinären Perspektiven in einen Dialog zu bringen. Deswegen behandeln wir die ausgewählten Titel bewusst nicht getrennt nach Disziplinen. Stattdessen wählen wir vier Themen, die für die Forschung zum Kompromiss zentral sind, und diskutieren die ausgewählten Titel mit Blick darauf, was sie zu relevanten Fragen bezüglich dieser Themen beitragen: (i) die Rolle von Kompromissen in Demokratien und Nichtdemokratien, (ii) schlechte und gute Kompromisse, (iii) die historische Variabilität von Kompromissen und (iv) die Voraussetzungen von Kompromissen.

Wir werden folgendermaßen vorgehen: Zunächst geben wir einen Überblick über den Forschungsstand in Politik- und Geschichtswissenschaft und begründen die Auswahl der Titel. Anschließend widmen wir uns den vier Themen in der genannten Reihenfolge. Zum Schluss rekapitulieren wir die Ergebnisse, markieren Berührungspunkte und Differenzen zwischen den Beiträgen aus beiden Disziplinen und benennen auf dieser Grundlage knapp mögliche thematische Ausrichtungen einer zukünftigen Kompromissforschung, die die Potenziale eines Dialogs zwischen Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft ausschöpft.

1.1 Der Forschungsstand in Politik- und Geschichtswissenschaft

Der Kompromiss ist zum einen ein wiederkehrendes Thema in der empirischen politikwissenschaftlichen Forschung. In der Literatur zum Föderalismus und zur europäischen Integration etwa ist der Kompromiss oft ein begrifflicher Bezugspunkt, um den Umgang mit unterschiedlichen Interessen und Konflikten zwischen verschiedenen politischen Einheiten oder Ebenen zu beschreiben. Auch in der politikwissenschaftlichen Literatur zum Umgang mit Konflikten über ethisch umstrittene Fragen, wie beispielsweise die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs oder den Umgang mit embryonalen Stammzellen, sind politische Kompromisslösungen explizite Referenzpunkte.Footnote 2 Über derartige Arbeiten zum Kompromiss als einem politischen Konfliktregelungsmechanismus hinaus hat Martin Greiffenhagens deutsche und britische Haltungen zum Kompromiss vergleichend diskutierende Monografie „Kulturen des Kompromisses“ gezeigt, dass es sich beim Kompromiss um eine kulturell geprägte Praxis mit verschiedenen Ausdrucksformen handelt.Footnote 3 An diese Feststellung kann die weitere systematische Forschung unmittelbar anknüpfen.

Zum anderen finden in der politischen Theorie und ihrer Schwesterdisziplin der politischen Philosophie intensive Auseinandersetzungen mit dem Konzept des Kompromisses statt. Zwar gibt es in der politischen Theorie und Philosophie keine lange Tradition der Beschäftigung mit dem Kompromiss, was möglicherweise mit einem gewissen bias der Forschung in Richtung idealer Theoriebildung zu tun hat.Footnote 4 Aber mittlerweile finden der Kompromiss und insbesondere die Rolle und normative Bedeutung des Kompromisses in der Politik eine wachsende Aufmerksamkeit.Footnote 5 Politische Theoretiker*innenFootnote 6 und Philosoph*innen arbeiten die Besonderheiten des Kompromisses vor allem im Vergleich zum Konsens heraus und fokussieren hierbei in der Regel die Kriterien der Zugeständnisse und der Schmerzhaftigkeit von Zugeständnissen sowie den Status von Kompromissen als zweitbeste Lösungen.Footnote 7 Darüber hinaus findet die Beziehung zwischen dem Kompromiss und Ideen sowie Prinzipien der (liberalen) Demokratie eine besonders große Aufmerksamkeit.Footnote 8 Auch Merkmale von guten und schlechten Kompromissen werden diskutiert.Footnote 9 Ferner sind im Kontext dieses disziplinübergreifenden Rezensionsaufsatzes die Arbeiten von Alin Fumurescu hervorzuheben, die eine Brücke zwischen politiktheoretischen und historischen Zugängen zum Kompromiss schlagen. In zwei Monografien geht Fumurescu der Frage nach, inwiefern historisch gewachsene Konzeptionen des Selbst förderlich oder hemmend auf die Bereitschaft zum Schließen von politischen Kompromissen wirkten.Footnote 10

Anders als in der Politikwissenschaft ist der Kompromiss in der Geschichtswissenschaft bislang kaum umfassend behandelt worden. Das ist nicht nur überraschend angesichts eines zunehmenden Interesses an dem Thema in der Nachbardisziplin, sondern auch insofern, als seit Jahrzehnten ein großes geschichtswissenschaftliches Interesse an Konflikten sowie an Konfliktlösungstechniken besteht.Footnote 11 Gerade in diesem Zusammenhang wird der Kompromiss insbesondere im Bereich der Politik- und Diplomatiegeschichte zwar häufig erwähnt, vielfach jedoch ohne eine klare Abgrenzung zu anderen Techniken zur Lösung und Regulierung von Konflikten. Darin zum Ausdruck kommt ein im Vergleich zur politikwissenschaftlichen Forschung insgesamt wenig systematischer Umgang mit dem Kompromissbegriff in der Geschichtswissenschaft. Selbst die wenigen Studien, die das Wort im Titel tragen, verzichten zumeist darauf, genauer zu bestimmen, was damit eigentlich gemeint sei.Footnote 12 Symptomatisch für diesen teils sorglosen geschichtswissenschaftlichen Umgang mit dem Begriff ist eine unglückliche Formulierung Peter Ridders, der ausführt, auf der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz 1993 hätten diejenigen, die die Einsetzung eines Hochkommissars für Menschenrechte kritisierten, „sich zugunsten eines Konsenses mit einem Kompromiss einverstanden“Footnote 13 erklärt. Ungeachtet des häufigen Fehlens einer expliziten Begriffsklärung zeigt sich implizit ein von geschichtswissenschaftlichen Studien weitgehend geteiltes, sehr weites Verständnis des Phänomens: Im Regelfall wird mit ‚Kompromiss‘ eine Übereinkunft zwischen verschiedenen Akteur*innen bezeichnet, die zustande kommt, indem mindestens eine Seite Zugeständnisse macht, wodurch eine Auseinandersetzung zeitweise oder sogar auf Dauer beendet wird. Eine konsequente Unterscheidung zwischen Kompromiss und Konsens wird in der Geschichtswissenschaft vergleichsweise selten praktiziert.Footnote 14 Dementsprechend wird das in der politischen Theorie oder der Philosophie häufig anzutreffende Kriterium der Schmerzhaftigkeit, welche für die an einem Kompromiss Beteiligten aus ihren Zugeständnissen erwächst,Footnote 15 nur vereinzelt verwendet. Präsenter ist dagegen die aus der politikwissenschaftlichen Diskussion vertraute Vorstellung, dass es sich bei Kompromissen um zweitbeste Lösungen handelt, insofern die Beteiligten aufgrund konkurrierender Parteien oder äußerer Zwänge die eigenen Ansprüche nicht vollumfänglich umzusetzen vermocht haben und sich infolgedessen zu einem Kompromiss bereitfanden.Footnote 16

Bezogen auf Europa hat die geschichtswissenschaftliche Forschung Kompromisse für die Frühe Neuzeit, Neuzeit und Zeitgeschichte weit häufiger thematisiert als für die Antike und das Mittelalter. Das liegt auch an bestimmten Deutungsschemata: So hat die Mediävistik in den beiden letzten Jahrzehnten ‚Konsens‘ zum Leitbegriff erhoben, um Herrschaft und politisches Entscheiden in den Jahrhunderten zwischen 500 und 1500 zu verstehen.Footnote 17 Im dem Mittelalter gewidmeten Band des „Handbuchs zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa“ ist dementsprechend sehr viel häufiger und präzisier vom ‚Konsens‘ die Rede als vom ‚Kompromiss‘.Footnote 18 Ausgehend von der weiten Verbreitung des allerdings mehrdeutig und oft unscharf gebrauchten Ausdrucks consensus in den Quellen wird davon ausgegangen, dass eine Übereinkunft zwischen Herrscher und Großen, insbesondere den mächtigen Adligen, für das Funktionieren mittelalterlicher Herrschaft unerlässlich gewesen sei. Durch ein Aufkündigen dieses Konsenses seien Gewalt und bürgerkriegsähnliche Zustände heraufbeschworen worden. Inzwischen ist versucht worden, dieses Deutungsschema auch auf außereuropäische Reiche zu übertragen.Footnote 19 Gerade vor dem Hintergrund der terminologischen und theoretischen Angebote aus Politikwissenschaft und Philosophie bliebe aber zu diskutieren, inwiefern diese Übernahme eines Quellenbegriffs in die eigene Analysesprache nicht verschiedene Formen von Übereinkünften allzu sehr vereinheitlicht. Die Frühneuzeitforschung ist hier umsichtiger vorgegangen und hat zeigen können, dass Kompromisse als kulturelle Technik routinisiert genutzt wurden, um Frieden herzustellen, Kriege zu beenden und gewaltsame Eskalationen etwa zwischen Vertretern verschiedener Konfessionen, aber auch zwischen König, Adel und Bürgertum zu vermeiden.Footnote 20 Im einschlägigen Band des „Handbuchs zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa“ ist folglich häufiger von ‚Kompromissen‘ die Rede als in seinem Gegenstück zum Mittelalter, ein eigener Eintrag wurde dieser Technik der Konfliktregulierung jedoch ebenso wenig zuteil wie eine Begriffsbestimmung.Footnote 21

Ein Grund für den häufig unsystematischen Zugang mag darin liegen, dass wie im Mittelalter in der Frühen Neuzeit eine zeitgenössische Theorie des Kompromisses allenfalls in Ansätzen entwickelt wurde. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Praxis sehr wohl ein entsprechendes Konzept einer Übereinkunft durch wechselseitige Zugeständnisse gab, das in verschiedenen Situationen handlungsleitend wirkte. Diplomaten und Juristen etablierten sich im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit demnach als Experten für das Aushandeln von Kompromissen. Den Beiträgen des Handbuchs „Frieden im frühneuzeitlichen Europa“ zufolge waren Kompromisse in Politik und Diplomatie in dieser Periode zwar kein angestrebtes Ideal, wurden also nicht als solche und um ihrer selbst willen angestrebt.Footnote 22 Allerdings habe es immer wieder gute Gründe gegeben, aus denen die Beteiligten zu Kompromissen bereit gewesen seien: Diese seien weniger prinzipieller, sondern vor allem pragmatischer Natur gewesen, etwa die Einsicht, aufgrund mangelnder Machtmittel die eigenen Ansprüche nicht vollständig durchsetzen zu können. Daneben sei die Kompromissbereitschaft gesteigert worden durch den Wunsch, das etwa durch Gewaltanwendung Erreichte oder die eigenen Interessen gegen eine überlegene Partei zu sichern. Schließlich hätten Annahmen über die Dauer und Länge und die dadurch entstehenden Kosten des Konflikts den einen oder anderen Machthaber bewogen, einen Ausgleich zu suchen.

Wie unten genauer dargelegt wird, führen geschichtswissenschaftliche Arbeiten zur Neuzeit und Zeitgeschichte häufig ebenfalls derartige pragmatische und okkasionelle Gründe dafür an, dass Akteur*innen Kompromisse eingegangen sind. Wesentlich seltener taucht der Kompromiss als Ideal oder politisches Prinzip auf, das für die Beteiligten normativ orientierend gewesen wäre und sie dazu bewogen hätte, ihre eigenen Interessen zurückzustellen, um eine Übereinkunft zu erzielen und damit etwa den Ansprüchen der demokratischen Ordnung gerecht zu werden.

1.2 Auswahl der besprochenen Titel

Was die Politikwissenschaft betrifft, konzentrieren wir uns auf einschlägige Veröffentlichungen aus der politischen Theorie und politischen Philosophie. Monografien und Sammelbände, die den Kompromiss explizit ins Zentrum ihres Erkenntnisinteresses stellen, sind größtenteils in der politischen Theorie und ihrer philosophischen Schwesterdisziplin verortet. Wir gehen dabei bis in das Jahr 2009 zurück, denn Avishai Margalits zu diesem Zeitpunkt erschienene Monografie „On Compromise and Rotten Compromises“ dient zahlreichen Autor*innen seitdem als Referenzpunkt in der Debatte und als Startpunkt einer sich intensivierenden Auseinandersetzung mit dem Kompromiss in der politischen Theorie und Philosophie.

Das Jahr 2009 haben wir, um Vergleichbarkeit herzustellen, auch als Richtpunkt für die Auswahl geschichtswissenschaftlicher Literatur gewählt. Gerade weil in dieser Disziplin nur wenige Arbeiten den Kompromiss ins Zentrum rücken, zugleich das Thema aber in sehr verschiedenen Kontexten behandelt wird, fiel es deutlich schwerer, eine adäquate Auswahl an Titeln für diese Rezension zu treffen. Wir haben uns entschlossen, drei Arten von Arbeiten aufzunehmen: Zunächst solche, die den Kompromiss ausdrücklich als ihren Gegenstand benennen. Dann Forschungsarbeiten, in denen besonders häufig von Kompromissen die Rede ist. Dass hier ein Schwerpunkt auf dem Bereich der Politikgeschichte liegt, entspricht der oben dargelegten Akzentsetzung innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Schließlich haben wir einige neuere Darstellungen aufgenommen, die über die enge Fachöffentlichkeit hinaus auf ein breiteres Publikum zielen, da hier – insofern forschungsnah gearbeitet wurde – nicht nur bestimmte Trends der Fachpublikationen gespiegelt sind, sondern obendrein diese Ausführungen eine zentrale Rolle dabei spielen, geschichtswissenschaftliche Annahmen und Thesen zum Kompromiss zu distribuieren.

2 Kompromisse in Demokratien und Nichtdemokratien

Die große Bedeutung des Kompromisses in und für Demokratien ist eine jener Vorannahmen der Neuzeit- und zeithistorischen Forschung, die häufig implizit bleibt, aber in vielen Studien dennoch deutlich erkennbar ist. In Ulrich Herberts deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts erhält der Kompromiss beispielsweise eine zentrale Rolle im politischen Geschehen, ohne dass diese ausdrücklich erörtert würde.Footnote 23 Immer wieder akzentuiert Herbert, dass dann, wenn Kompromisse zwischen konfligierenden Parteien und Gruppierungen möglich waren, friedliche Lösungen gefunden werden konnten, so zeitweise nach dem verlorenen Krieg im Jahre 1919, in den Potsdamer Verhandlungen der Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg oder in den Verhandlungen zwischen Bundesrepublik und DDR in den 1970er Jahren. Demokratiefeindliche Bewegungen wie insbesondere der Nationalsozialismus sind für Herbert gerade durch eine Ablehnung „der mühsamen Suche nach Kompromissen und Koalitionen auf Zeit“Footnote 24 gekennzeichnet. Für Martin Conway ist eine Orientierung an Kompromiss und Partnerschaftlichkeit ein prägendes Charakteristikum der westeuropäischen Demokratien in den beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg.Footnote 25 Offener Konfliktaustrag sei nicht gern gesehen worden, was Conway auch als Lernen aus dem Scheitern der wesentlich konflikthafteren Demokratien in Deutschland und Italien in den 1920er und 1930er Jahren interpretiert. Demgegenüber hätten die neuen demokratischen Ordnungen der Nachkriegszeit Instrumente geschaffen, die den Beteiligten innerstaatlich wie zwischenstaatlich Mäßigung und Kompromiss auferlegten.Footnote 26

Eher selten ist dagegen von Kompromissen in Hedwig Richters umstrittener Geschichte der Demokratie in Deutschland die Rede.Footnote 27 Richter will dabei ausdrücklich nicht nur Praktiken und Ideen, sondern auch Gefühle und Vorstellungswelten untersuchen. Besonderes Augenmerk richtet sie auf die Geschichte des Körpers. Demokratie ist für sie historisch vielfach ein Elitenprojekt, also keine Staatsform, die von revolutionären breiten Massen durchgesetzt worden wäre. Gerade wenn sie betont, dass eine demokratische Ordnung nicht nur mit Freiheit einhergeht, sondern auch mit Einschränkungen, läge es nahe, nach der Rolle von Kompromissen in diesen Aushandlungsprozessen zu fragen. Diese kommen aber nur punktuell in den Blick: Ausdrücklich als Kompromisse werden unter anderem die Entscheidung des Frankfurter Paulskirchenparlaments vom 2. März 1849, einen Kaiser zu wählen, das Klassenwahlrecht und die Verfassung des Deutschen Reiches sowie das Lastenausgleichsgesetz von 1952 charakterisiert. Aktuelle populistische Bewegungen schließlich seien unter anderem durch die Ablehnung von Abwägung und Kompromiss gekennzeichnet und stellten daher eine Gefahr für die Demokratie dar. Über Kompromisse als körperliche Praxis oder die affektiven Dimensionen, die relevant sind für Erfolg oder Scheitern eines Kompromissversuches, erfährt man leider nichts, dabei wären das zweifellos relevante Fragen, die auch einen dezidiert historischen, über die politikwissenschaftliche Perspektive hinausgehenden Blick auf den Kompromiss und seine Rolle in Demokratien ermöglichen würden. Kompromisse wären dann nicht nur – wie in den klassisch politikgeschichtlich angelegten Darstellungen von Herbert und Conway – Ergebnisse von Verhandlungen zwischen Politiker*innen, Diplomat*innen oder verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und deren Repräsentant*innen, sondern eine habitualisierte Praxis, deren Genese im Kontext der Geschichte moderner Demokratien zu untersuchen wäre.

In der politiktheoretischen und philosophischen Literatur steht die Rolle des Kompromisses in der Demokratie eindeutig im Fokus der Auseinandersetzungen. Zwar gibt es Ausnahmen. So entwickelt Avishai Margalit seine Definition fauler Kompromisse, die wir weiter unten noch einmal ansprechen werden, anhand des Beispiels des Münchner Abkommens und mit einer Kritik an der Bereitschaft Großbritanniens und Frankreichs, Hitler Zugeständnisse zu machen.Footnote 28 Der weitaus größere Teil der Literatur befasst sich jedoch mit Kompromissen in der Demokratie.

Ulrich Willems fokussiert die Herausforderung für Demokratien, einen Umgang mit Wertkonflikten zu finden. Er diskutiert den Kompromiss als eine Alternative zu Mehrheitsentscheidungen, die mit Blick auf Wertkonflikte ungeeignet sein könnten, um eine breite Akzeptanz kollektiv verbindlicher Regelungen unter den Bürger*innen herzustellen. Während das Buch die Diskussion über Wertekonflikte breiter abbildet, widmet sich ein Kapitel explizit dem Kompromiss. Es entwickelt eine konzise Definition des Kompromisses, unterscheidet unterschiedliche Formen von Kompromissen und schärft den Begriff durch eine Abgrenzung vom Deal.Footnote 29 Dass Willems Wertkonflikte als Gegenstände von Kompromissen behandelt, ist insbesondere unter dem Gesichtspunkt interessant, dass in der politiktheoretischen Debatte oft die Möglichkeit bezweifelt wird, Wertkonflikte durch Kompromisslösungen beizulegen. Willems befragt die impliziten Annahmen dieser These und argumentiert, dass zumindest bestimmte Formen von Kompromissen potenziell leistungsfähige Antworten auf die Frage nach dem politischen Umgang mit Wertkonflikten in der Demokratie sein könnten.Footnote 30

Fabian Wendt nimmt zwei mögliche Gründe für das Schließen von Kompromissen in den Blick: Frieden und das Ideal öffentlicher Rechtfertigung. Die Idee des Kompromissschließens für Frieden weist über den Rahmen der Demokratie hinaus und könnte als ein Anknüpfungspunkt dafür dienen, die Rolle von Kompromissen sowohl innerhalb als auch zwischen Demokratien sowie Nichtdemokratien zu reflektieren. Wendts Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Kompromissen und dem Prinzip öffentlicher Rechtfertigung lenken den Blick dann aber auf liberale Demokratien. Die normative Idee des Prinzips öffentlicher Rechtfertigung ist, dass grundlegende Verfassungsinhalte oder sogar kollektiv verbindliche politische Entscheidungen per se gegenüber den Betroffenen mit unterschiedlichen Perspektiven und Weltanschauungen rechtfertigbar sein müssen.Footnote 31 Allerdings besteht unter jenen Theoretiker*innen, die dieses Prinzip für wichtig erachten, Uneinigkeit über seinen Geltungsbereich. Wendt argumentiert, dass Personen, die Regelungen zustimmen, weil sie öffentlich rechtfertigbar sind, ein aus ihrer Perspektive Zweitbestes akzeptieren und insofern moralische Kompromisse machen.Footnote 32

Dass die Demokratie selbst als ein Kompromiss gelesen werden kann, ist eine These, die Véronique Zanetti in ihrer Auseinandersetzung mit Hans Kelsens Werk ausleuchtet. Mit Kelsen könne die Demokratie als ein Kompromiss zwischen einem „natürlichen, individuellen Drang nach anarchischer Freiheit“ und einem „Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung“ gelesen werden.Footnote 33 Dass Kelsen wichtige Anknüpfungspunkte für Überlegungen zum Verhältnis von Demokratie und Kompromiss bietet, zeigt auch der Beitrag von David RagazzoniFootnote 34 in dem von Christian Rostbøll und Theresa Scavenius herausgegebenen Band „Compromise and Disagreement in Contemporary Political Theory“. Ragazzoni lenkt den Blick auf die Rolle von politischen Parteien in Kelsens Theorie und stellt insofern nicht auf den Status der Demokratie als ein Kompromiss zwischen unterschiedlichen Prinzipien ab, sondern auf die institutionellen Elemente, die die politische Praxis in der Demokratie eng mit dem Kompromiss verknüpfen. Zentral sei hierbei, dass der Parlamentarismus mittels politischer Repräsentation und Mehrheitsprinzip zu der Realisierung von Freiheit beiträgt und beides eng mit dem Kompromiss verwoben ist: Während politische Repräsentation den Ort für politische Kompromissbildung schaffe, erkläre das Mehrheitsprinzip, wie die Aufgabe der Kompromissbildung realisiert werde.Footnote 35

Diese Analysen sind instruktiv und machen deutlich, dass klassische politische Denker*innen interessante Überlegungen zum Verhältnis von Kompromiss und Demokratie anzubieten haben. Es wäre spannend, entsprechende Überlegungen stärker mit zeitgenössischen politiktheoretischen und philosophischen Ansätzen sowie historischen Zugängen zusammenzuführen. Insbesondere im Lichte von Ragazzonis Kritik an Kelsens formalistischem Blick auf die rein funktionale Rolle von politischen ParteienFootnote 36 könnte es sich lohnen, die von und mit Kelsen eröffneten Perspektiven mit der gegenwärtigen philosophischen Debatte über prinzipielle Gründe für Kompromisse, wie zum Beispiel inklusive demokratische RepräsentationFootnote 37, in einen Dialog zu bringen. Das könnte auch der philosophischen Debatte neue Impulse geben, die die Besonderheiten von politischen Parteien als distinkte Akteure der Kompromissbildung in ihren Reflexionen über die normative Rolle von Kompromissen in der Demokratie bisher nicht nennenswert berücksichtigt hat. Ferner könnte in diesem Zusammengang ein historischer Blick gewinnbringend sein. Ein vergleichender Blick auf parlamentarische Kompromissbildungsprozesse in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten könnte beispielsweise dazu beitragen, auf Kelsen zurückgehende Überlegungen zum Status der Demokratie als ein Kompromiss sowie zur Rolle von politischen Parteien bei der Produktion von Kompromissen anhand der jeweils spezifischen vorherrschenden Interpretationen von Demokratie und Ausprägungen demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse zu überprüfen und möglicherweise historisch informiert zu nuancieren.Footnote 38

Die drei Sammelbände von Rostbøll und Scavenius, Sandrine Baume und Stéphanie Novak sowie Jack Knight zeigen, wie breit das Spektrum an Themen, die in Bezug auf das Verhältnis von Kompromiss und Demokratie in politiktheoretischen Debatten verhandelt werden, mittlerweile ist.Footnote 39 Beleuchtet werden hier beispielsweise das Verhältnis von Kompromiss und Mehrheitsprinzip, von Kompromiss und Öffentlichkeit, Kompromiss und Gleichheit, Kompromiss und Repräsentation sowie Kompromiss und den institutionellen Rahmenbedingungen der Demokratie. Mit Blick auf die oben konturierte Kelsen-Rezeption liefert insbesondere der Beitrag von Patrick Overeem in dem von Baume und Novak herausgegebenen Band „Compromises in Democracy“ relevante Überlegungen. Zum einen weist Overeem darauf hin, dass bei der Deutung der Demokratie als ein Kompromiss nicht das gleiche Kompromissverständnis angelegt wird wie bei der Beschreibung von Prozessen, in denen Zugeständnisse an die konfligierenden Sichtweisen von Parteien ausgehandelt werden. Bei ersterem gehe es vielmehr um ein „Amalgam“, das zwei Elemente bestmöglich realisiert.Footnote 40 Zum anderen akzentuiert er Mehrheitsentscheide und Kompromisse als konkurrierende Logiken der Entscheidungsfindung, die sich dahingehend unterschieden, wie viele Parteien das Ergebnis beeinflussten.Footnote 41 Auch wenn das Bilden von Mehrheiten in der Regel Kompromisse erfordert, könnten Reflexionen über das Verhältnis von Demokratie und Kompromiss davon profitieren, nicht nur Klarheit bezüglich des jeweils angelegten Kompromissbegriffs zu schaffen, sondern auch die Beziehung von Mehrheitsprinzip und Kompromiss als komplementär und spannungsreich zugleich zu verstehen.

In der Gesamtschau spiegeln die Sammelbände zwei Aspekte, die den Stand der gegenwärtigen Debatte insgesamt kennzeichnen: Erstens ist der Kompromiss kein Nischenthema mehr und vielleicht sogar dabei, sich in demokratietheoretischen Debatten zu etablieren. Zweitens wird der Kompromiss überwiegend entweder positiv bewertet oder zumindest als eine gegebene Komponente demokratischer Politik vorausgesetzt.

Eine Ausnahme von dieser Tendenz bildet die Monografie von Alexander Ruser und Amanda Machin, die den Kompromiss explizit kritisch betrachten und mögliche Effekte von Kompromissen beschreiben, die der Qualität demokratischer Politik abträglich sein können.Footnote 42 Erstens problematisieren sie die Annahme, dass Kompromisse mit einer Anerkennung von Beteiligten als Gleiche verbunden seien, die sich auf „halbem Wege treffen“.Footnote 43 Soziale und politische Ungleichheiten wirkten oft in Kompromisse hinein, was dazu führe, dass unter diesen Bedingungen geschlossene Kompromisse Ungleichheiten reproduzieren oder sogar verstärken. Zweitens argumentieren sie, dass Kompromisse die Pluralität an Positionen verwässerten, von der demokratische Debatten lebten. Diese Aspekte ihrer Kompromiss-Kritik reflektieren die Perspektive agonaler Demokratie im Sinne Chantal Mouffes, nach welcher eine lebendige Demokratie darauf angewiesen ist, dass bestehende Machtformationen infrage gestellt werden und ein konfrontativer Streit unter klar voneinander unterscheidbaren politischen Positionen stattfinden kann. Man muss nicht das im Titel des Bandes provokativ formulierte Plädoyer „Against Political Compromise“ mittragen, um Rusers und Machins Überlegungen als wichtige Impulse für die Debatte über das Verhältnis von Kompromiss und Demokratie zu lesen. Die Autor*innen mahnen an, dieses Verhältnis nicht zu stark auf der Ebene abstrakter Prinzipien zu reflektieren, sondern Betrachtungen der sozialen Kontexte samt der ungleichen Machtverteilungen hierin einzubeziehen sowie eine größere Sensibilität für mögliche politische Kosten von Kompromissbildungen walten zu lassen.

Jennifer Wolaks Arbeit sticht insofern hervor, als sie ein empirisches Erkenntnisinteresse hat: Was denken Bürger*innen über Kompromisse in der Demokratie? Sie kommt zu dem Ergebnis, dass US-amerikanische Bürger*innen Kompromisse in der Politik für bedeutsam erachten und von politischen Repräsentant*innen erwarten, dass sie Kompromisse schließen.Footnote 44 Vor dem Hintergrund zahlreicher Diagnosen zu einer zunehmenden politischen Polarisierung ist dieses Ergebnis bemerkenswert, weil es die These plausibel erscheinen lässt, dass Polarisierung maßgeblich ein Phänomen sein könnte, das die politischen Eliten kennzeichnet. Zum einen wirft das Buch Fragen für weitere empirische Forschung auf. So wäre es etwa interessant zu prüfen, was sich gegebenenfalls zwischen jenen Zeitpunkten, zu denen die Umfragen erhoben wurden, auf die sich Wolak bezieht, und der aktuellen Situation verändert hat. Zum anderen ist Wolaks These, dass Haltungen zum Kompromiss während der Sozialisation in der Kindheit geprägt werdenFootnote 45, sowohl für politiktheoretische als auch historische Forschung anschlussfähig, die an den Voraussetzungen von Kompromissen interessiert ist.

Wird in der geschichtswissenschaftlichen Forschung analog zu den meisten politikwissenschaftlichen Studien im Regelfall von einer Wahlverwandtschaft von Demokratie und Kompromiss ausgegangen, gibt es hier auch einige Arbeiten, die sich ausdrücklich für die Rolle von Kompromissen in Diktaturen interessieren. Und das mit einigen bemerkenswerten Ergebnissen: Nathan Stoltzfus hat zeigen können, dass das Hitlerregime – auf den ersten Blick nicht verdächtig, besonders kompromissbereit gewesen zu sein – aus taktischen Erwägungen heraus sehr wohl Kompromisse einging.Footnote 46 Demnach konnte Adolf Hitler die Deutschen gerade dadurch überzeugen, dass er in bestimmten Fragen zu Kompromissen bereit war, wenn ihm dies geraten schien, um an anderer Stelle auf gewaltsame Unterdrückung zu setzen. Gewaltförmigkeit der nationalsozialistischen Herrschaft und taktische Kompromissbereitschaft schlossen sich Stoltzfus zufolge keineswegs aus, sondern waren gemeinsam Ursache dafür, dass die Deutschen in ihrer übergroßen Mehrheit dem Regime folgten. So gingen die Nationalsozialisten brutal gegen Sozialisten und Kommunisten vor und zerschlugen die Gewerkschaften, bemühten sich aber zugleich, den Interessen und Anliegen der Arbeiterschaft Gehör zu schenken. Während die Nationalsozialisten dem christlichen Caritasgedanken keinen Platz einräumten und kirchliche Gemeinschaften als potenzielle Bedrohung der behaupteten Volksgemeinschaft ansahen, waren sie zugleich daran interessiert, bestehende kirchliche Strukturen für ihre Zwecke zu nutzen. Um die erwünschte Kooperation zu erreichen, agierten sie auch hier unter bestimmten Umständen kompromissbereit. Viele der Übereinkünfte waren spezifischen lokalen Bedingungen geschuldet, etwa einer relativen Stärke des Katholizismus und seiner Vertreter in einer Region, was es für die Nationalsozialisten zu einem Risiko werden ließ, deren Interessen vollkommen zu ignorieren. Also fand man einen Kompromiss, mitunter durch direkte Intervention Hitlers. Charakteristisch für eine Diktatur ist, dass diese Lösungen zumeist nicht frei ausgehandelt werden. Entsprechend wurden Kompromisse von den Nationalsozialisten angeordnet. Kompromisse liegen demnach inhaltlich vor, insofern Interessen verschiedener Gruppierungen berücksichtigt wurden, die starke Asymmetrie zwischen den Beteiligten und die latenten oder offenen Gewaltandrohungen der einer Seite geben derartigen Übereinkünften jedoch eine Gestalt, die sich deutlich von denen in Demokratien unterscheidet. Durch derartige Kompromisse im Rahmen diktatorischer Herrschaft konnten punktuell vor allem im katholischen Milieu auftretende Absetzbewegungen eingehegt und die Voraussetzung dafür geschaffen werden, gezielt solche religiösen Praktiken zu zerschlagen, die als Konkurrenz zu den nationalsozialistischen wahrgenommen wurden.

Weniger überraschend ist das von Francesco Di Palma gezeichnete Bild in seiner Studie zu den Beziehungen zwischen der ostdeutschen SED und den kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens (PCF und PCI).Footnote 47 Die Außenbeziehungen der SED folgten demnach vorrangig einem machtpolitischen Kalkül, weniger dem Ideal einer propagandistisch überhöhten sozialistischen Solidarität. Die Gestaltung der Außenpolitik sei wesentlich von Akteuren beeinflusst worden, die dem Zentralkomitee unterstanden hätten. Unter diesen Rahmenbedingungen zeigte sich die SED Di Palma zufolge überwiegend kompromisslos nicht nur gegenüber Reformbestrebungen innerhalb des Ostblocks, sondern auch gegenüber den eigenständigen Interessen der PCI und der PCF. Diese wiederum hätten bis in die 1960er Jahre ebenfalls Kompromisse in ideologischer wie pragmatischer Hinsicht abgelehnt. Insbesondere seit den 1970er Jahren sei die SED auf bilateraler Ebene durchaus bereit gewesen, Kompromisse einzugehen, so etwa in den Beziehungen der DDR zu Italien. Die Ablehnung des sogenannten Eurokommunismus sei jedoch zur Enttäuschung der westeuropäischen kommunistischen Parteien ungebrochen geblieben. Kompromisse waren infolgedessen im Konkreten, nicht aber im Grundsätzlichen möglich.

Frank Haldemanns Studie analysiert die Rolle des Kompromisses in politischen Transitionsprozessen, insbesondere in den Übergängen von nicht-demokratischen zu demokratischen Regimen. Haldemann argumentiert, dass solche Transitionsprozesse keine linearen Prozesse mit klaren Start- und Endpunkten darstellten.Footnote 48 Ihre charakteristischen Eigenschaften – eine tiefe Spaltung zwischen beteiligten Gruppen, eine gewaltvolle Vergangenheit und Konflikte zwischen radikal divergierenden Gesellschaftsentwürfen – sorgten dafür, dass in diesen Prozessen fundamentale Fragen aufgeworfen würden, die schwierige Abwägungen zwischen relevanten Faktoren und miteinander konfligierenden Handlungsoptionen erforderten.Footnote 49 In solchen Situationen sei es wichtig, die Idee aufzugeben, dass es die eine richtige Lösung für den Weg in eine neue (demokratische) Zukunft gebe. Stattdessen brauche es Verhandlungsprozesse, die auf „complex compromises“Footnote 50 zielten, womit Haldemann Kompromisse meint, die die jeweils konfligierenden Werte so gut wie möglich in einen Ausgleich bringen. Die schematische Unterscheidung zwischen Demokratien und Nicht-Demokratien erweist sich vor diesem Hintergrund als unvollständig: In Ergänzung zu den genannten geschichtswissenschaftlichen Arbeiten von Stoltzfus und Di Palma zeigt Haldemanns Studie, dass es für die Kompromissforschung insgesamt lohnend sein könnte, auch solche Übergangsprozesse und die darin möglicherweise besondere Rolle von Kompromissen in den Blick zu nehmen.

3 Schlechte und gute Kompromisse

Gemäß dem disziplinären Selbstverständnis spielen explizite normative Vorannahmen in der Geschichtswissenschaft bei der Erforschung von Kompromissen eine geringe Rolle. Eine seltene Ausnahme bildet die im Paradigma marxistischer Geschichtsschreibung operierende Studie von Andreas Heyer zur französischen Verfassung von 1793 und den ihr vorausgegangenen Entwürfen.Footnote 51 Für Heyer ist ein Kompromiss per se schlecht, da er eine Aufweichung der eigenen Prinzipien bedeute. Gerade den Girondisten macht er dies wiederholt zum Vorwurf. Mit einer solchen normativen Aufladung des Kompromisses, gegen welchen die positiv gesehene Prinzipienfestigkeit in Stellung gebracht wird, steht seine Arbeit im geschichtswissenschaftlichen Diskurs allerdings weitgehend allein. Gleichwohl erscheinen aus der zeitlichen Distanz der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung bestimmte Kompromisse als faul beziehungsweise problematisch, ohne dass die Kriterien für eine solche Bewertung immer offengelegt würden. Nicht selten lässt sich dabei eine Differenz zwischen der zeitgenössischen und der Bewertung ex post feststellen.

Als faule Kompromisse werden in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten insbesondere solche Einigungen angesehen, in denen zumindest von einer Seite ursprüngliche Positionen weit über Gebühr aus rein taktischen Erwägungen aufgegeben oder zulasten Dritter eine Übereinkunft geschlossen wird. Geradezu als Paradebeispiel kann der Missouri Compromise von 1820 gelten, in dem sich Befürworter und Gegner der Sklaverei darauf einigten, dass in neu in die Union aufgenommenen Staaten nördlich der sogenannten Compromise Line keine Sklaverei praktiziert werden durfte, in den südlich gelegenen aber sehr wohl. Das war fraglos ein Kompromiss zulasten Dritter, nämlich der Versklavten.Footnote 52 Zugleich bedurfte es, wie Padraig Riley zeigt, komplizierter Verhandlungen, damit er überhaupt zustande kam.Footnote 53 Auf diese hätten, so Riley, nicht nur herausragende Politiker Einfluss genommen, sondern mehr noch verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Interessen wie Farmer, Immigranten oder Zeitungsmacher. Die Zugeständnisse, die auch gegenüber der Sklaverei kritisch eingestellte Weiße aus dem Norden machten, hätten zwar die Neuregelung von 1820 ermöglicht, damit aber gerade eine politische Lösung der Sklaverei auf nationaler Ebene verhindert. Dieser faule Kompromiss sollte sich als schwere gesellschaftliche und politische Hypothek erweisen.

Dass sich konkurrierende europäische Mächte untereinander zu Übereinkünften hinsichtlich der Macht- und Interessenverteilung in Südamerika, Afrika, im Nahen Osten oder in Ostasien bereitfanden, ohne dass die unmittelbar betroffene lokale Bevölkerung im Regelfall involviert oder deren Anliegen berücksichtigt worden wären, kann als Strukturmerkmal des Kolonialismus gelten. Ein weiteres wichtiges Instrument des Imperialismus waren ungleiche Verträge, die der schwächeren Seite Zugeständnisse abnötigten, ohne dass die stärkere ebenfalls Abstriche an ihren Positionen vorgenommen hätte.Footnote 54 Insofern waren im Imperialismus Kompromisse unter den europäischen Mächten sowie den USA ein häufiges Instrument, um gewaltsame Eskalationen zu verhindern, wohingegen viele durch Zwang zustande gekommene Verträge und Übereinkünfte der Kolonialmächte mit den Kolonialisierten aus analytischer Sicht nicht als Kompromisse gelten können, da hier nicht alle Beteiligten zu relevanten Zugeständnissen bereit waren. Diese allgemeine Feststellung differenziert sich jedoch bei der Untersuchung konkreter Fälle: Schon Jürgen Osterhammel hat darauf hingewiesen, dass Großbritannien aufgrund der offenen englischen Rechtstradition vergleichsweise eher zu Kompromissen gegenüber einheimischen Bräuchen in den Kolonien bereit war als andere europäische Kolonialmächte.Footnote 55 Am Beispiel Tangers kann Daniela Hettstedt nachweisen, dass verschiedene europäische Mächte wie Großbritannien, Spanien, Deutschland und Frankreich sowie die USA in konkreten Fragen, etwa in Regelungen zu Hygiene und Ernährung, durchaus lokale Autoritäten in ihre Übereinkünfte einbezogen.Footnote 56 Mit der Einrichtung der internationalen Zone durch den am 18. Dezember 1923 geschlossenen Vertrag von Paris wurden die vielen bislang von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren getroffenen Vereinbarungen formalisiert. Gerade die so manifest gewordene Bereitschaft zum Kompromiss machte die nichtafrikanischen Mächte untereinander handlungsfähig, schloss aber große Teile der betroffenen Bevölkerung des nun offiziell errichteten Protektorats von der Aushandlung aus.

Als problematisch erscheinen in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten vor allem solche Kompromisse, die in sich widersprüchlich sind, weil verschiedene Einzelaspekte und unterschiedliche Zugeständnisse in Teilfragen sich nicht zu einem in sich stimmigen Ganzen fügten. Die Bewertung orientiert sich dann vor allem an der Wirkung der geschlossenen Vereinbarung: Schuf der Kompromiss lediglich einen prekären Ausgleich widerstreitender Interessen, ohne dass es in der Folge zumindest zu einer teilweisen Revision der ursprünglichen Ansprüche gekommen wäre, gilt die jeweilige Übereinkunft in der historischen Rückschau als mangelhaft. In diesem Sinne gelten als problematische Kompromisse etwa der Frieden von VersaillesFootnote 57, die Weimarer Verfassung mit ihren verschiedene Parteiinteressen berücksichtigenden heterogenen ElementenFootnote 58 oder das Münchner Abkommen von 1938, da Neville Chamberlain sein Ziel nicht erreichte, dem Expansionsstreben des nationalsozialistischen Deutschlands Einhalt zu gebieten.Footnote 59

In der politiktheoretischen und philosophischen Debatte spielt die Idee fauler Kompromisse ebenfalls eine zentrale Rolle. Hervorzuheben ist diesbezüglich Avishai Margalits Buch „On Compromise and Rotten Compromises“. Margalit betont, dass politische Kompromisse im Großen und Ganzen etwas Gutes und insbesondere Kompromisse, die geschlossen würden, um Frieden zu sichern, oft erstrebenswert seien.Footnote 60 Mit seinen Aussagen zum faulen Kompromiss („rotten compromise“) möchte Margalit deshalb keineswegs Kompromisse per se charakterisieren. Vielmehr geht es ihm darum, eine Kategorie von schlechten Kompromissen zu beschreiben, die so verwerflich sind, dass sie unter allen Umständen vermieden werden müssen. In diesem Sinne als faule Kompromisse definiert Margalit Kompromisse, die ein „inhuman political regime“Footnote 61 etablieren oder zu dem Fortbestand eines solchen Regimes beitragen, das auf systematischer Grausamkeit beruht und Menschen ihr Menschsein abspricht. Solche Kompromisse seien faul und unbedingt zu vermeiden, weil sie einen Angriff auf die Moral schlechthin verkörperten.Footnote 62 Während das Münchner Abkommen von 1938 für Margalit ein eindeutiges Beispiel für einen faulen Kompromiss ist, weil hier mit Hitler das radikale Böse Vertragspartner gewesen sei, hält er die Frage, ob der Missouri Compromise von 1820 ein fauler Kompromiss war, für deutlich schwieriger zu beantworten. Die Zugeständnisse an Staaten, die die Institution der Sklaverei beibehalten wollten, seien zwar Zugeständnisse an eine menschenverachtende Praxis gewesen. Aber es sei angesichts historischer Befunde davon auszugehen, dass die Schaffung der Union, welcher der Kompromiss dienlich war, letztlich mehr zur Überwindung der Sklaverei beigetragen habe als zu ihrem FortbestehenFootnote 63 – womit seine Einschätzung von der oben erwähnten Rileys abweicht. Der Grund dafür, dass Margalit den Missouri Compromise schließlich trotzdem als einen faulen Kompromiss bewertet, ist, dass dieser die Sklaverei noch über einen zu langen Zeitraum zugelassen habe. Die zeitliche Obergrenze für die Abschaffung einer menschenverachtenden Praxis, die ein Kompromiss einhalten müsse, um unterm Strich als nicht-faul gelten zu können, sei eine Generation – und diese Obergrenze habe der Missouri Compromise ausgereizt.Footnote 64

Auch wenn bei den von Margalit diskutierten faulen Kompromissen offenkundig Dritte unter den getroffenen Vereinbarungen leiden, ist das ausschlaggebende Kriterium für ihn also die Frage, ob und gegebenenfalls wie lange ein Kompromiss zur Einrichtung oder Erhaltung grausamer und menschenverachtender Praktiken beiträgt. Obwohl die Reflexion dieses Phänomens viel Raum in dem Buch einnimmt, widmet sich Margalit auch der Frage, was positive Kompromisse (sogenannte „sanguine compromises“) auszeichne. Diesbezüglich hebt er folgende Kriterien hervor: Die Parteien müssten jeweils die Legitimität der anderen Sichtweise anerkennen und bereit sein, ihre nicht realisierbaren Träume aufzugeben; ferner brauche es wechselseitige Zugeständnisse, mit denen sich die Parteien in der Mitte treffen, sowie die Abwesenheit von Zwang.Footnote 65

Margalits Werk ist mit seinem Interesse an „rotten compromises“ und „sanguine compromises“ insofern repräsentativ für die Debatte in der politischen Theorie und Philosophie, als gemeinhin angenommen wird, dass Kompromisse weder per se kritikwürdig noch per se lobenswert sind, sondern in schlechten und guten Varianten auftreten können. Die Definitionen dessen, was schlecht und gut ist, variieren jedoch. Simon May etwa argumentiert in seinem Beitrag zu dem von Rostbøll und Scavenius herausgegebenen Sammelband, dass die Bandbreite an Kompromissen, die nicht geschlossen werden dürften, nicht bloß faule Kompromisse in Margalits Sinne umfassten. Vielmehr verbiete das normative Prinzip demokratischer Legitimität Kompromisse über die Gleichheit von Bürger*innen.Footnote 66 In Mays Plädoyer dafür, die Kategorie verwerflicher Kompromisse weniger eng zu definieren, als Margalit es tut, spiegelt sich die oben betonte Tendenz in der politiktheoretischen und philosophischen Debatte, über die Rolle des Kompromisses in Demokratien zu reflektieren.

Bezüglich der Frage, was gute Kompromisse auszeichnet, schlägt Zanetti vor, zwischen erfolgreichen und ‚an sich‘ guten Kompromissen zu unterscheiden.Footnote 67 Mit David Gauthier definiert sie erfolgreiche Kompromisse als solche, die aufgrund ihrer Fairness stabil sind. Fairness meint hier für alle Beteiligten bestmöglich vorteilhaft: Jede beteiligte Partei „erhält den größtmöglichen gleichen relativen Nutzen der Kooperation“ und macht „eine gleiche relative Konzession“.Footnote 68 An sich gute Kompromisse hingegen seien nicht nur fair in diesem Sinne. Sie setzten vielmehr wechselseitiges Vertrauen voraus, ein ernsthaftes Bemühen der Beteiligten um eine gemeinsame Lösung, gegenseitigen Respekt, transparente Informationen über den relevanten Gegenstand, gleiche Chance auf Beeinflussung des Ergebnisses und letztlich ein Resultat, das die Beteiligten als vernünftig ansehen können.Footnote 69

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass sich diejenigen Teile der Debatte in der politischen Theorie und Philosophie, die sich der Evaluation von Kompromisstypen widmen, tendenziell einer von zwei Strategien bedienen: Es werden entweder Kompromisse beschrieben, die so schlecht sind, dass sie unbedingt vermieden werden müssen, oder Kompromisse, die – wie im Falle von Zanettis Definition von ‚an sich‘ guten Kompromissen – mit so anspruchsvollen Kriterien ausgestattet sind, dass man sich fragen muss, ob und wo gute Kompromisse in der Realität überhaupt vorkommen. Aufschlussreich könnte es sein, das Spektrum zwischen diesen beiden Polen auszuleuchten und auch danach zu fragen, ob und inwiefern Vorstellungen von guten und schlechten Kompromissen kontextabhängig sind und dementsprechend variieren. Die historische Forschung zeigt, dass sich Evaluationskriterien – wie auch Verständnisse und Praktiken des Kompromisses als solche – im Laufe der Zeit verändert haben. Insofern bedürfen sie auch in politiktheoretischen Ansätzen einer Interpretation des relevanten historischen Kontextes, um nicht allzu abstrakt zu geraten oder die eigenen kulturellen Vorannahmen zu invisibilisieren. Weiter stellt sich die Frage, ob Kompromisse überhaupt sinnvoll evaluiert werden können, ohne dass die in der geschichtswissenschaftlichen Forschung oft betonte Rolle von Dritten systematisch berücksichtigt wird. Anton Ford zeigt in seinem Beitrag zu dem von Knight herausgegebenen Sammelband, dass die normativen Debatten in der politischen Theorie oft lediglich das Verhältnis zwischen den Konfliktparteien betrachteten, die einen Kompromiss aushandeln. Dabei drohe aus dem Blick zu geraten, dass ‚gute‘ Kompromisse zwischen den Konfliktparteien ‚schlecht‘ sein könnten, wenn und insofern sie nicht direkt beteiligten Dritten Schaden zufügen.Footnote 70 Damit formuliert Ford eine Aufgabe für zukünftige politiktheoretische und philosophische Forschung zu Kriterien für die Evaluation von Kompromissen, die für ein Ausgreifen über die eigenen Disziplingrenzen und eine Auseinandersetzung mit den Befunden historischer Forschung prädestiniert ist.

4 Die historische Variabilität von Kompromisskonzepten und Kompromisspraktiken

Die Begriffs- und Konzeptgeschichte des Kompromisses ist umfänglich bislang noch nicht geschrieben worden.Footnote 71 Am nächsten kommt dem wohl Alin Fumurescu, der sich in zwei Monografien ideengeschichtlich mit dem Thema beschäftigt hat. Während sich die frühere Arbeit auf England und Frankreich konzentriertFootnote 72, nimmt die neuere Nordamerika in den Blick.Footnote 73 Ein Schwerpunkt liegt in beiden Fällen auf der Frühen Neuzeit. Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt Fumurescu die seit dem 12. Jahrhundert anzutreffende Unterscheidung zwischen forum internum und forum externum. Während sich die oder der Einzelne im inneren Forum des Gewissens nur vor Gott habe verantworten müssen, sei das Individuum im äußeren Forum durch die Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Gemeinschaften identifiziert worden. Diese Unterscheidung, so Fumurescu in „Compromise. A Political and Philosophical History“, habe die Grundlage für den Individualismus in der westlichen Welt gelegt und wirke bis heute insbesondere im Verständnis des Kompromisses nach. Seit dem 16. Jahrhundert habe es in England und Frankreich unterschiedliche Entwicklungen gegeben: In Frankreich sei der Konformitätsdruck hinsichtlich des forum externum immer größer geworden, was kompensiert worden sei durch ein Bestreben, das forum internum zu beschützen. Während Gleichheit in der Gemeinschaft erwünscht gewesen sei, sei das Gewissen zum Schutzraum für Authentizität und Singularität geworden. In beiden Arenen habe kein Bedarf an Kompromissen bestanden, vielmehr habe der Kompromiss als sozial gefährlich und als für die Person und ihr Gewissen kompromittierend gegolten. In England hingegen sei die Distanz zwischen beiden Polen kollabiert, wodurch das Vertragsdenken grundlegend für die Politik habe werden können. Damit habe sich der Kompromiss als zentrales politisches Prinzip etabliert.

In seiner zweiten Studie sucht Fumurescu den Grund für die Rolle von Kompromissen im politischen System und der Gesellschaft der USA erneut in der Frühen Neuzeit. Die heutige Haltung zum Kompromiss sei stark beeinflusst vom Verständnis politischer Repräsentation, welches wiederum in Beziehung stehe zur Selbstrepräsentation. Die Bereitschaft zum politischen Kompromiss hänge daher ab von der Auffassung vom Selbst in der Relation zum Volk; diese sei in der Frühen Neuzeit grundgelegt worden. Im Puritanismus habe die Vorstellung geherrscht, dass gleichrangige Individuen übereinkommen könnten, einen neuen politischen Körper zu bilden und sich einer neuen Regierung zu unterwerfen. Die Puritaner seien überzeugt gewesen, dass zwar alle Angehörigen des Volkes die gleiche konstitutive Macht besäßen, aber unterschiedliche politische Fähigkeiten. Als diesen Gegebenheiten Rechnung tragende Regierungsform habe man eine gewählte Verdienstaristokratie vorgesehen. Aus diesen Ideen sei ein duales Verständnis des Volkes erwachsen, die titelgebende Vorstellung von den zwei Körpern, die in den USA gelebte Realität geworden sei. Es hätten sich zwei Ordnungen etabliert, horizontal die Gemeindeordnung mit untereinander kompromissfähigen Mitgliedern und vertikal die Hinordnung einer jeden Gemeinde auf Gott. Mal sei die Vorstellung des Volkes als Ansammlung von Individuen, mal diejenige des Volkes als Korporation in den Vordergrund getreten. Die Philadelphia Convention habe schließlich die Theorie der zwei Körper des Volkes in einem wirkmächtigen historischen Kompromiss formalisiert: Die Individuen sollten nun im Repräsentantenhaus repräsentiert sein, die Korporationen im Senat. Der erreichte Kompromiss sei nur möglich gewesen, weil people als sein zentraler Begriff unterbestimmt geblieben sei. Gerade diese der Idee der zwei Körper des Volkes innewohnende Ambiguität macht Fumurescu zufolge die Dynamik amerikanischer Politik aus: Statt sich auf eine Ideologie zu fokussieren, hätten stets verschiedene Ideale miteinander konkurriert. Das korporatistische Prinzip sei dabei nie überwunden worden. Es habe sowohl nach innen, also innerhalb der jeweiligen Korporation, wie nach außen, also zwischen Korporationen, Kompromisse ermöglicht. Eine gegenwärtige Abnahme der Kompromissbereitschaft versteht Fumurescu als Abkehr von der Dialektik der zwei Körper des Volkes: Heute werde entweder der Individualismus praktiziert oder eine rigorose Parteinahme für eine Gruppierung, wodurch die politische und gesellschaftliche Kompromissbereitschaft erodiere.

So eindrucksvoll dieser Entwurf ist, weist er doch einige Probleme auf: Die Unterscheidung zwischen forum externum und forum internum wird in ihrer Bedeutung weit überschätzt. Tatsächlich spielte sie im vortridentinischen Denken eine geringere Rolle, als Fumurescu anhand weniger und meistens aus zweiter Hand rezipierter Quellen glauben machen will; zudem waren die beiden fora in der kanonistischen und theologischen Theorie zwar begrifflich, aber weniger in der religiösen Praxis geschieden.Footnote 74 Für das frühneuzeitliche England und Frankreich wäre nachzuweisen, dass die Ideen einiger weniger Denker tatsächlich einen so erheblichen Einfluss auf die Mentalität der jeweiligen Gesellschaft wie auf die politische Ordnung hatten. Die einschlägige historische Forschung hat hier ein sehr viel differenzierteres und komplexeres Bild des frühneuzeitlichen Europas gezeichnet, wonach sich politische und soziale Entwicklungen nicht auf einzelne Ideen reduzieren lassen. Für die Nachwirkungen des Puritanismus gilt analog, dass die Argumentation zu reduktionistisch ist: Sie arbeitet ein Denkmodell heraus, auf welches dann unter Absehung von allen übrigen kulturellen und sozialen Faktoren die Ordnung eines politischen Systems, ja der ganzen Gesellschaft zurückgeführt wird. Eine ihre Möglichkeiten und Begrenzungen kritisch reflektierende Ideengeschichte kann solch weitreichende Erklärungsansprüche heute kaum mehr stellen, da sie damit zwangsläufig Komplexität ignoriert.

Die geschichtswissenschaftliche Forschung hat gegenüber solchen groß angelegten Erzählungen gezeigt, dass es adäquater ist, Kompromisse situativ zu analysieren. Die konkreten sozialen, politischen, institutionellen, diskursiven und personalen Gegebenheiten sind zu berücksichtigen, um zu verstehen, warum Kompromisse in einer je spezifischen Weise geschlossen wurden – oder dies nicht geschah. Insbesondere im synchronen oder diachronen Vergleich zeigen sich dann Regelmäßigkeiten und Muster. Hinsichtlich verschiedener Gesichtspunkte ergibt sich dabei eine große historische Variabilität: Das beginnt bereits mit der Bereitschaft der Beteiligten, überhaupt einen Kompromiss einzugehen. So hat Dejan Djokić argumentiert, dass gerade die mangelnde Fähigkeit der Politiker, einen Kompromiss hinsichtlich der Zentralisierung staatlicher Gewalt einzugehen, zum Scheitern des ersten jugoslawischen Staates in der Zwischenkriegszeit geführt habe.Footnote 75 Ein größer angelegter Epochenvergleich dürfte fundamental verschiedene Einstellungen zur Wünschbarkeit von Kompromissen zutage fördern. Der bisherigen Forschung lässt sich etwa entnehmen, dass mittelalterliche Akteure von einer Konsenserwartung geleitet waren. Diese manifestierte sich darin, dass die Beteiligten das ausgehandelte Ergebnis mittrugen, auf dem Weg dahin konnten aber durchaus Druck, Zwang und sogar Gewalt eingesetzt werden.Footnote 76 Aus Konsens als angestrebtem Ideal ist übrigens nicht zu schließen, dass im europäischen Mittelalter keine Kompromisse geschlossen worden wären. Diese gab es sehr wohl – vorwiegend dann, wenn ein wirkliches Einvernehmen nicht erreicht werden konnte –, sie waren aber nicht umstandslos als solche benennbar. Insbesondere als schmerzhaft empfundene Kompromisse konnten nur in Ausnahmefällen artikuliert werden. In der Frühen Neuzeit blieb es schwierig, einen Kompromiss als solchen zu benennen, wenngleich das Aushandeln von Kompromissen nun zum Standardrepertoire von Diplomaten und anderen Unterhändlern gehörte.Footnote 77 Allerdings war ungeachtet der grundsätzlichen Akzeptanz der Praxis strittig, in welchen Fragen Kompromisse zulässig waren: Besonders in konfessionellen Auseinandersetzungen fanden sich häufig Gruppierungen, die jeden Kompromiss ablehnten und damit die Handlungsmöglichkeiten der Obrigkeit stark einschränkten.Footnote 78 In neuzeitlichen Demokratien ist Kompromissbereitschaft offenbar ebenfalls nicht selbstverständliches Handlungsprinzip. Vielmehr musste sie in den Nachkriegsdemokratien der 1950er und 1960er Jahre in Westeuropa oder in Japan erst schrittweise etabliert werden, wobei vor allem die Erfahrungen des Scheiterns der Demokratien in der ersten Jahrhunderthälfte und des Weltkrieges einen Lernprozess in Gang setzten, der Ausgleich, Moderation und eben den Willen zum Kompromiss gegenüber offenem und gewaltsamem Konfliktaustrag privilegierte. Dabei deuten die Arbeiten von Kapur und Conway darauf hin, dass in den Nachkriegsjahren zunächst in der Politik – und zwar sowohl innen- wie außenpolitisch – Kompromissorientierung als ein Handlungsprinzip etabliert wurde, bevor andere gesellschaftliche Gruppen diese Ausrichtung übernahmen.Footnote 79

Historisch variabel sind ebenfalls die Arten und Weisen, wie ein Kompromiss ausgehandelt wurde. Das schließt teils hochritualisierte und symbolisch aufgeladene VerhandlungstechnikenFootnote 80 sowie diplomatische und rechtliche Standardisierungen ebenso mit ein wie die Kreise der beteiligten Personen und mögliche Dritte, die als Vermittler hinzugezogen werden konnten. Institutionen wie FriedenskongresseFootnote 81 oder die in vielen Kulturen und zu allen Zeiten eingesetzten SchiedsgerichteFootnote 82, aber auch die Konferenzen zwischen den Kolonialmächten im späten 19. und im 20. JahrhundertFootnote 83 sowie ParlamenteFootnote 84 erleichterten es, Übereinkünfte auszuhandeln, da sie den Verhandlungen nicht allein einen Rahmen gaben. Die entsprechenden Forschungen haben gezeigt, dass institutionelle Settings, wozu nicht nur Rollenverteilungen, sondern zum Beispiel auch räumliche Ordnungen gehörenFootnote 85, in Verbindungen mit Interaktionsroutinen bei allen Störungen im Detail insgesamt sicherstellten, dass Akteur*innen mit verschiedenen Positionen und Interessen miteinander ins Gespräch kamen und mit Möglichkeiten für die Bearbeitung der jeweiligen Differenzen ausgestattet wurden. Insbesondere aber schufen die genannten Einrichtungen unter den Beteiligten sowie in der Öffentlichkeit die Erwartung, dass durch Verhandlungen Übereinkünfte geschlossen würden. Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die KSZE wiederum erwiesen sich trotz der institutionalisierten Erwartung, Ergebnisse auf dem Weg des Aushandelns und Übereinkommens zu produzieren, nicht durchweg als Kompromissmaschinen; vielmehr unterminierten Eigeninteressen der Staaten und Konkurrenz zwischen verschiedenen Gruppierungen immer wieder die Chancen, Kompromisse herzustellen oder gar einen Konsens zu erzeugen.Footnote 86 Eine systematische historische Untersuchung all dieser Aspekte steht allerdings noch aus.

Hinsichtlich der Distribution des Kompromisses besteht die Leitunterscheidung zwischen sozialen Ordnungen, in denen ein Kompromiss als solcher aussagbar war, und jenen, in denen die Beteiligten nicht oder nur in seltenen Ausnahmefällen verkünden konnten, schmerzhafte Zugeständnisse gemacht zu haben. In Demokratien scheint die Sagbarkeit des Kompromisses allgemein deutlich größer zu sein, wobei sich ein eigenes Repertoire ausbilden kann, wie Übereinkünfte präsentiert werden, um deren Akzeptanz bei den verschiedenen Publika zu sichern. Auch zu diesem Aspekt fehlen jedoch detaillierte historische Untersuchungen.

5 Voraussetzungen von Kompromissen

Die Voraussetzungen von Kompromissen sind über die Fächergrenzen hinweg bisher nur ansatzweise erforscht. Weil der Kompromiss als ein spezifischer Konfliktregelungsmechanismus in der Regel nicht alternativlos ist – die Beteiligten haben oft auch andere Optionen, um mit einem Konflikt umzugehen –, lässt sich das Auftreten oder die Abwesenheit von Kompromissen aber nur dann hinreichend erklären, wenn ermöglichende, förderliche und hinderliche Bedingungen für Kompromisspraktiken in den Blick genommen werden. Im vierten Schritt unserer Diskussion gehen wir deshalb der Frage nach, welche Perspektiven auf Voraussetzungen von Kompromissen sich in der ausgewählten Literatur finden.

Willems führt in einer Auseinandersetzung mit dem Literaturstand eine umfangreiche Liste an Bedingungen an, die Kompromissen förderlich sein könnten. So würden Kompromisse wahrscheinlicher, wenn das Konfliktniveau nicht zu hoch sei, wenn die beteiligten Parteien über eine gemeinsame moralische Sprache verfügten, wenn die Bereitschaft bestehe, den Argumenten der anderen Seite zuzuhören und anderen die eigenen Argumente verständlich zu machen, und wenn ein „erhebliches Maß an empirischer Unsicherheit, begrifflicher Ambiguität und moralischer Komplexität“Footnote 87 gegeben sei. Weiter sei es Kompromissen dienlich, wenn die Vorläufigkeit der zu treffenden Regelungen betont und eine Pluralität an Werten anerkannt werde.Footnote 88 Solche Versuche, der Komplexität an potenziellen Bedingungsfaktoren Rechnung zu tragen, sind jedoch die Ausnahme. Die meisten Autor*innen fokussieren einzelne Faktoren.

Amy Gutmann und Dennis Thompson argumentieren, dass politische Kompromisse in der Demokratie auf ein besonderes Mindset der Akteur*innen angewiesen sind. Unter einem Mindset verstehen sie ein spezifisches Zusammenspiel von Haltungen und Argumenten, das ein Individuum dazu anhält, sein Denken und Handeln auf eine Weise zu strukturieren, die in der Konsequenz bestimmte Sichtweisen und Entscheidungen wahrscheinlicher macht als andere.Footnote 89 Das Mindset, das Kompromisse begünstige, nennen Gutmann und Thompson „spirit of compromise“. Akteur*innen, die dieses Mindset besitzen, würden erstens anerkennen, dass Kompromisse in der Demokratie wichtig sind, um politische Ziele zu erreichen, und dass eine Verweigerung, Kompromisse zu schließen, einer Stärkung des oft verbesserungswürdigen Status quo gleichkommt.Footnote 90 Zweitens seien sie bereit und in der Lage, mit ihren politischen Gegner*innen in gutem Glauben zu verhandeln und ihnen nicht übermäßig negative Hintergedanken zu unterstellen.Footnote 91 Das „uncompromising mindset“ zeichne sich durch gegenteilige Merkmale aus: Es impliziere eine hartnäckige Weigerung, Abstriche bezüglich der eigenen Prinzipien zu machen, und eine Haltung des Misstrauens gegenüber politischen Gegner*innen.Footnote 92 Gutmann und Thompson halten beide Mindsets für grundsätzlich wichtig in der Demokratie und betonen, dass sie in unterschiedlichen Modi demokratischer Politik ihren Platz haben. Während das „uncompromising mindset“ politische Kampagnen prägen dürfe und solle, sei in Phasen des Regierens, in denen es nicht um politische Profilierung, sondern um politische Entscheidungen gehe, das „compromising mindset“ erforderlich. In einer kritischen Gegenwartsanalyse der US-amerikanischen Politik diagnostizieren die Autor*innen, dass eine entsprechend ausgewogene Balancierung der beiden Mindsets zusehends prekär werde. Zunehmend griffen Logiken der politischen Kampagne auch in Phasen des Regierens ein, sodass das „uncompromising mindset“ immer dominanter werde und letztlich das kompromissorientierte Aushandeln von Meinungsverschiedenheiten in der politischen Entscheidungsfindung gefährde.

In der Geschichtswissenschaft werden selten Sichtweisen und Haltungen von Akteur*innen als Voraussetzungen von Kompromissen behandelt. Starke Aufmerksamkeit haben dagegen institutionelle und organisatorische Bedingungsfaktoren erfahren. Als solche anzusehen ist etwa die Diplomatie, die mit ihrem spezifischen Regelsystem und der Rolle der Diplomat*innen als Expert*innen für Konfliktlösung zweifellos zu den zentralen institutionellen Voraussetzungen der Kompromissfindung im politischen Bereich seit der Frühen Neuzeit zählt.Footnote 93 Wenn Peter Ridder zeigt, wie der UN-Menschenrechtsschutz ein Ergebnis des Kalten Krieges war, wird ersichtlich, dass Konflikt und Konkurrenz zwischen den beiden Lagern nicht nur auch auf dem Feld der Menschenrechte ausgetragen wurden, sondern dass gerade diese Konkurrenz beide Seiten nötigte, Kompromisse zu schließen.Footnote 94 Ein zentraler Faktor hierbei waren laut Ridder die dekolonialisierten Staaten sowie seit den 1970er Jahren zivile Akteur*innen als Dritte, auf die beide Blöcke Einfluss nehmen wollten und die zugleich mit ihren Anliegen und Interessen das Agieren der USA wie der Sowjetunion beeinflussten. Gerade weil Ridders Darstellung zufolge Menschenrechtspolitik vor allem Machtpolitik war, waren Kompromisse möglich, wenn es für die Beteiligten keine andere Aussicht darauf gab, ihre Interessen durchzusetzen. Die Vereinten Nationen hätten dabei nicht nur die Arena gebildet, in der solche Übereinkünfte ausgehandelt werden konnten, sondern seien zugleich entscheidend von ihnen geprägt worden, wie die Einrichtung eines UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, eines Menschenrechtsausschusses oder die Einsetzung von Sonderberichterstatter*innen zeigten. Ridder zufolge waren Kompromisse häufig nicht das Ergebnis einer offenen Debatte, vielmehr wurden Kompromisslösungen in einer verfahrenen Situation von einer Partei, etwa den Vertreter*innen eines Staates, als Vorschlag eingebracht, auf den sich dann die anderen Beteiligten nach weiteren Verhandlungen einigen konnten.

Als ebenso reichhaltig wie variabel erweisen sich die praxisbezogenen Voraussetzungen von Kompromissen: In den Beiträgen des „Handbuchs Frieden im Europa der Frühen Neuzeit“ wird deutlich, dass Kompromisse in unterschiedlichen Stadien von Verhandlungen und Einigungen auftraten. Sie schufen die Voraussetzung für weitere Verhandlungen; sie ermöglichten, fundamentale Differenzen zu überbrücken; schließlich konnte auch die eigentliche Lösung ein Kompromiss sein.Footnote 95 Demzufolge sind Kompromisse nicht nur ein Ergebnis von Aushandlungsprozessen, sondern können ihrerseits ein Möglichkeitsfaktor dafür sein, dass Einigungen verschiedenen Typs erzielt werden. Für Japan beschreibt Nick Kapur in diesem Sinne den langen Prozess, in welchem die Nachkriegsdemokratie Abstand von einer rücksichtslosen Mehrheitspolitik und einem absoluten Ideal freier Rede nahm und sich einem Konsensideal verschrieb.Footnote 96 Außerparlamentarische Gewalt, wie sie 1959/1960 in den Anpo-Protesten gegen die Erneuerung des Sicherheitsvertrages zwischen Japan und den USA und noch einmal in den Studentenunruhen in den späten 1960er Jahren ausbrauch, wurde dabei schrittweise als Mittel politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzung eliminiert. Dieser neue Konsens über die Spielregeln des Konfliktaustrags in der japanischen Demokratie, der offenen Dissens zugunsten von Mäßigung und Ausgleich zurückdrängte, wurde laut Kapurs Ausführungen zuallererst ermöglicht durch den Kompromiss zwischen dem neuen US-Präsidenten John F. Kennedy und der neuen japanischen Regierung unter Hayato Ikeda, die im Juni 1961 eine engere Zusammenarbeit vereinbarten. Denn nun seien nicht nur die Interessen Japans ausdrücklich anerkannt, sondern auch die Grundlagen für ein ökonomisches Wachstum gelegt worden, was Japan fest in der westlichen Sphäre verankern sollte. Vorausgegangen war aber eine gewaltsame Eskalation der Proteste gegen die Übereinkunft von 1960, die nicht zuletzt durch das harte Vorgehen des damaligen Premierministers Nobusuke Kishi versursacht worden war. In Kapurs Analyse bildet die revolutionäre Stimmung dieser Monate die Grundlage für divergierende Entwicklungen in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, die im Endeffekt massiven Protest als Mittel politischer Auseinandersetzungen in Japan bis in die Gegenwart eliminierten. Kompromisse in einem Feld, nämlich dem von Diplomatie und Außenpolitik, ermöglichten demnach politische und innergesellschaftliche Konsensbildung, ohne dass diese Folgen bei der Kompromissschließung so antizipierbar gewesen wären.

Stoltzfus’ Studie thematisiert Voraussetzungen von Kompromissbildung im nationalsozialistischen Regime. Stoltzfus zufolge war das Regime dann kompromissbereit, wenn es nicht auf entschiedene Opposition traf, sondern auf einen Widerstand, der vor allem aus bestehenden, etwa religiösen Traditionen gespeist war.Footnote 97 Als Alternative zum Kompromiss habe immer direkte Gewaltanwendung zur Verfügung gestanden, auf die taktisch verzichtet worden sei, wenn es gegolten habe, langfristige Unterstützung in spezifischen Milieus wie in der Arbeiterschaft oder im süddeutschen Katholizismus zu erzeugen. Kompromisse mit Vertretern von Kirche oder Arbeiterschaft gingen die Nationalsozialisten dann ein, wenn sie sich davon größeren Nutzen versprachen als vom Einsatz von Zwang und Gewalt. Die Möglichkeit, bei Bedarf auf Zwang und Gewalt zurückzugreifen, war in der nationalsozialistischen Diktatur laut Stoltzfus stets die Voraussetzung dafür, situativ kompromissbereit zu agieren. Zugleich war die Anerkennung der fundamentalen nationalsozialistischen Ansprüche auf Kontrolle von Politik und Gesellschaft unverhandelbar und konnte selbst nicht Gegenstand von Kompromissen sein. Diese bezogen sich daher stärker auf die Arrangements, wie jene Ansprüche in der Praxis mit konkurrierenden Interessen ausgeglichen werden konnten. Es bliebe zu prüfen, ob in diesem Gefüge eine allgemeine Bedingung für den Einsatz von Kompromissen in Diktaturen liegt.

Auch wenn institutionelle und praxisbezogene Voraussetzungen von Kompromissen in der Geschichtswissenschaft im Fokus stehen, finden sich vereinzelt Analysen, die die Sichtweisen und Haltungen von Akteur*innen in den Blick nehmen. Hier ist etwa Jan Timmers Studie zu Vertrauen in der römischen Republik zu nennen.Footnote 98 Dass 50/49 v. Chr. kein Kompromiss zwischen Julius Caesar und den sich um Pompeius scharenden Senatoren möglich war und infolgedessen ein Bürgerkrieg ausbrach, war Timmer zufolge in einer Vertrauenskrise der späten Republik begründet. Die im Konflikt stehenden Akteure hätten untereinander kein Vertrauen mehr gehabt und ebenso dem Funktionieren der Institutionen nicht länger vertraut. Folglich sei ihre Kompromissbereitschaft gering und die Antwort auf die Konflikte letztlich der Bürgerkrieg gewesen. Vertrauen ist demzufolge auf personaler, aber auch auf struktureller Ebene eine jener Voraussetzungen dafür, dass Akteur*innen – nicht nur im alten Rom – überhaupt bereit sind, Kompromisse einzugehen.

Elizabeth Anthonys Arbeit zur Rückkehr jüdischer Menschen nach Wien in den Jahren nach dem Holocaust stellt die in der Person liegenden Voraussetzungen für einen Kompromiss in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen, wobei ihre Akteur*innen nicht rein individualisiert, sondern häufig wiederum als Angehörige sozialer Formationen agierten.Footnote 99 Gleichsam mikroskopisch untersucht Anthony, wie die Rückkehrenden sich unter vielerlei, emotional häufig schwerfallenden Zugeständnissen gegenüber eigenen Erwartungen und den Gegebenheiten im Österreich der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Leben aufbauten. Die österreichischen Jüdinnen und Juden hätten sich ein neues Zuhause geschaffen, indem sie aus dem früheren Leben beibehalten hätten, was sie benötigten, und in ihr neues einpassten. Die Überlebenden der Verfolgung hätten sich ein Gefühl der Zugehörigkeit zu der Stadt bewahrt, das es ihnen ermöglichte, zurückzukehren. Dieses Wiener Bewusstsein habe ihnen geholfen zu identifizieren, wo sie Kompromisse machen mussten, um bleiben zu können. Nicht eine Kompromissbereitschaft a priori, sondern eine affektive Struktur ist für Anthony folglich Voraussetzung dafür, ein neues Leben aufzunehmen, das durch zahlreiche Kompromisse gekennzeichnet gewesen sei: Diese betrafen sowohl die eigenen Haltungen und Erwartungen gegenüber einer Mehrheitsgesellschaft, die weiterhin judenfeindliche Haltungen pflegte und in der einstige Nationalsozialisten nicht selten den Ton angaben, die Bewältigung der Herausforderungen des Alltags- und Berufslebens in einer stark zerstörten und besetzten Stadt, und schließlich die Schaffung neuer Institutionen beziehungsweise die Wiedererrichtung alter wie insbesondere der Israelitischen Kultusgemeinde Wien innerhalb eines Gemeinwesens, das sich nach der Zeit des Nationalsozialismus selbst neu konfigurieren musste. Die damit angeschnittene Perspektive affektiv-emotionaler Voraussetzungen dafür, Kompromisse einzugehen, aber auch deren emotionale Folgen für die Beteiligten wären – wie oben bezogen auf die Möglichkeiten einer Körper- und Affektgeschichte der Demokratie erörtert – Ansatzpunkte für größerflächige Forschungen zum Zusammenwirken von Kompromissbereitschaft, darüber hinausgehenden affektiven und epistemischen Dispositionen und Rückwirkungen des Kompromissgeschehens auf die verschiedenen involvierten Gruppen.

6 Fazit

Unser Ziel war es, anhand von ausgewählter aktueller Literatur einen Überblick über die Forschung zum Kompromiss in Politik- und Geschichtswissenschaft zu geben. Dies haben wir ganz bewusst anhand von thematischen Schwerpunktsetzungen und nicht getrennt nach Disziplinen getan, um Möglichkeiten und Potenziale eines interdisziplinären Dialogs aufzuspüren. Die Befunde geben Anlass, unsere eingangs formulierte Vermutung, dass sich ein interdisziplinärer Dialog zum Thema lohnen könnte, zu bekräftigen.

Während die politische Theorie und Philosophie Reflexionen über die Funktion von Kompromissen im Bereich der (demokratischen) Politik bereitstellen, produziert die Geschichtswissenschaft Wissen über die Kontextgebundenheit und Variabilität von Kompromissen – insbesondere, aber nicht nur, im Bereich der Politik. Historische Studien zeigen, dass der Kompromiss eine Konfliktregelungstechnik ist, derer sich auch Nicht-Demokratien bedienen, und erweitern so den in der politischen Theorie und Philosophie vorherrschenden Fokus auf demokratische Kontexte. Die mangelnde theoretische Profilierung des Kompromisses in der Geschichtswissenschaft könnte insofern auch ein Vorteil sein, als sie erlaubt, das Aushandeln und Finden von Kompromissen in ganz verschiedenen Feldern zu beleuchten, ohne dass Vorannahmen über ‚das Politische‘ oder ‚die Demokratie‘ den Blick vorschnell einengen. So wird deutlich, dass es, ebenso wie Konflikte, auch Instrumente zu deren Bearbeitung nicht nur in der Politik, sondern in allen Bereichen menschlichen Lebens geben muss. Gerade daran wird die fundamentale Rolle von Kompromissen deutlich, Zusammenleben zwischen sozialen Gruppen und Individuen zu ermöglichen, indem durch Zugeständnisse der offene Konfliktaustrag und eine gewaltsame Eskalation vermieden werden. So wird Kommunikations- und Handlungsfähigkeit auch zwischen solchen Akteur*innen gesichert, die in ihren Interessen, Werthaltungen und Weltanschauungen differieren.

Während sich Studien aus beiden Disziplinen für die evaluative Dimension interessieren, lassen sich in der von uns behandelten Literatur diesbezüglich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede feststellen. Disziplinübergreifend finden faule Kompromisse eine große Aufmerksamkeit. Allerdings interessieren sich die politische Theorie und Philosophie stärker für die Qualitäten explizit guter Kompromisse, während die historische Forschung der Rolle von Dritten als Vermittler*innen, indirekt und direkt Betroffenen und Publikum, dem der gefundene Kompromiss präsentiert wird, eine größere Aufmerksamkeit widmet. Die Voraussetzungen von Kompromissen werden in den meisten Studien aus beiden Disziplinen nur fragmentarisch und mit Blick auf einzelne Bedingungsfaktoren behandelt. Es zeigt sich aber gerade im zeitlichen und kulturellen Vergleich, dass Kompromisse in ihrer Phänomengestalt historisch ebenso stark variierten wie hinsichtlich der Voraussetzungen, die Akteur*innen überhaupt zu dieser Konfliktregelungstechnik greifen ließen. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass in Verhandlungen ein Kompromiss gefunden und dieser anschließend hinreichende Akzeptanz und damit Wirksamkeit erfährt, ist stark kontextabhängig. Die vorliegende Forschung erlaubt allerdings noch keine systematische Analyse der verschiedenen Voraussetzungen von Kompromissen und ihrer Gelingensbedingungen. Gerade in diesem Punkt ist von einer interdisziplinären Zusammenarbeit eine weitere Klärung des Bildes zu erwarten.

Sofern die Konfliktregelungstechnik Kompromiss auf eine Weise erforscht werden soll, die der Vielfalt und Varianz nicht nur von Kompromisspraktiken, sondern auch der vielschichtigen Voraussetzungen von Kompromisspraktiken und Kompromissbereitschaft Rechnung trägt, erscheint uns ein Dialog von Politik- und Geschichtswissenschaft unverzichtbar. Die terminologischen Angebote der Politikwissenschaft können dabei Kriterien bereitstellen, anhand derer trennschärfer als bislang in historischen Arbeiten zwischen verschiedenen Typen der Konfliktregulierung unterschieden werden kann. So dürfte bei nicht wenigen historischen Fällen strittig sein, inwiefern es sich hier überhaupt um einen Kompromiss handelte. Das gilt insbesondere für Vereinbarungen, die unter Zwang oder indirekter Gewaltandrohung getroffen wurden. Umgekehrt kann die Rekonstruktion der Arten und Weisen, wie historische Kompromisse gefunden wurden, Hinweise darauf geben, inwiefern die in theoretischer Hinsicht wünschbare Unterscheidung zwischen Typen von Konfliktregulierung für konkrete Fälle überhaupt möglich ist. Überblickt man die in der von uns diskutierten Literatur behandelten Fälle, lässt sich häufig feststellen, dass bei den erreichten Einigungen Elemente von Kompromissen mit solchen des Deals oder des Konsenses verbunden sind. Das gilt zumal für die zeitliche Erstreckung, in der Übereinkünfte getroffen wurden: Dann konnten Kompromisse hinsichtlich derer, die überhaupt an den Verhandlungen beteiligt sein sollten, die Grundlage für einen Konsens bilden; Einvernehmen über die zu verwendenden Verfahren konnten wiederum Kompromisse ermöglichen; Deals zum wechselseitigen Vorteil bestimmten möglicherweise die praktische Umsetzung eines gefundenen Kompromisses. Das für das historische Arbeiten kennzeichnende Denken in zeitlichen Verläufen könnte insofern Anregungen für die politiktheoretische Reflexion bieten.

Ein solcher interdisziplinärer Dialog über den Kompromiss ist noch ein unerfülltes Desiderat. In der Literatur finden sich kaum kollaborative Ambitionen von Forscher*innen aus beiden Fächern. Es wäre deshalb nicht nur wünschenswert, die in diesem Rezensionsaufsatz an verschiedenen Stellen aufgezeigten Leerstellen zu überwinden, was insbesondere für die Geschichtswissenschaft bedeuten würde, die bisher eher punktuell vorliegenden Erkenntnisgewinne stärker systematisierend in Richtung einer historischen Kompromissforschung zusammenzuführen. Begrifflich stehen hier Angebote aus der Politikwissenschaft und politischen Theorie, aber auch der Philosophie und Soziologie bereit. Umgekehrt könnte die politikwissenschaftliche Debatte von einer größeren historischen Tiefenschärfe und einem Blick über die Demokratien Westeuropas und der USA hinaus zweifellos profitieren. Für all diese Ziele bedarf es jedoch Arbeiten, die die Besonderheiten politiktheoretischer/philosophischer und historischer Forschungsperspektiven auf den Kompromiss, die aus den jeweils spezifischen Kompetenzen der Disziplinen resultieren, als sich ergänzende Elemente einer interdisziplinären Kompromissforschung zusammenführen.

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