Die deutsche Geschichtswissenschaft tut sich mit Biografien schwer – auch das ist ein Erbe der seit den 1950er Jahren erfolgten Abkehr von der Tradition. Lebensbeschreibungen sind zwar auch hierzulande oft Verkaufserfolge, aber innerhalb der Zunft verdient man sich damit im Regelfall keine Meriten. Besser gesagt: Man hat sie zumeist schon, wenn man in einer oft späten Phase seines Forscherlebens dieses Genre bedient. In den angelsächsischen Ländern, zumal in Großbritannien, ist das ganz anders. Dort wird das Publikum auch regelmäßig zur Abstimmung über die ‚größte‘ Persönlichkeit der britischen Geschichte, über „100 Greatest Britons“ (so die BBC 2002) gebeten. In Deutschland dagegen teilte das Nachschlagewerk „Die großen Deutschen“ nicht nur das Schicksal aller gedruckten Nachschlagewerke und verschwand vom Markt, sondern dokumentierte unfreiwillig auch noch den Konstruktionscharakter dieser Kategorie: In der ersten, von Willy Andreas herausgegebenen Auflage fehlte 1936 in Band 4 Gustav Stresemann als verhasster „Erfüllungspolitiker“, während Theodor Heuss dafür sorgte, dass Stresemann in der von ihm mitverantworteten Neuauflage 1957 als ewig „finassierender“ Machtpolitiker wieder nicht aufgenommen wurde.

Über historische Größe zerbrach man sich vor allem im 19. Jahrhundert den Kopf. Am nachhaltigsten wirkte Jacob Burckhardt, der in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ einerseits „wirkliche Größe“ zu einem Mysterium erklärte, sie andererseits für „notwendig“ erachtete, um „weltgeschichtliche Bewegung“ zu ermöglichen, damit nicht nur „abgestorbene Lebensformen“ und „reflektierendes Geschwätz“ den Gang der Dinge bestimmten. Das hätte auch von Friedrich Nietzsche stammen können oder anderen, die, je mehr das Jahrhundert dem Ende entgegenging, desto stärker auf die erlösende ‚Tat‘ hofften.

Man versteht, dass Ian Kershaw damit nichts zu tun haben will. Mehrfach versichert er hier, dass es ihm um historische Größe nicht gehe, weil deren „objektive Definition […] ein letztlich sinnloses Unterfangen“ sei (S. 20). Damit gibt er allerdings unter der Hand zu erkennen, dass er grundsätzlich an die Möglichkeit ‚objektiver‘ Erkenntnis glaubt. Sein Objektivierungsversuch besteht in der Entwicklung von sieben Fragen an seine „Geschichtsmacher“ – ein scheußlicher Begriff –, die deren Handeln vergleichbar machen sollen. Kershaw fragt nach der Rolle von Systemzusammenbrüchen, Programmen, Umständen der Machtübernahme und Chancen für Machtkonzentration, von Unterstützern und Institutionen, von Krieg und schließlich von demokratischen Verhältnissen. Diese Rahmenbedingungen sind natürlich auf das 20. Jahrhundert zugeschnitten, in dem sich Kershaw bekanntlich sehr gut auskennt, und erlauben zugleich eine Erklärung, weshalb dieses Jahrhundert in eine sehr krisenhafte erste und eine beruhigte zweite Hälfte eingeteilt wird. Dass das eine westeuropäisch-atlantische Perspektive ist – geschenkt. Mit der herausgehobenen Bedeutung von Systemzusammenbrüchen steht und fällt letztlich auch Kershaws Auswahl seines Samples. Darin widmet er sich Wladimir Iljitsch Lenin, Benito Mussolini, Adolf Hitler, Josef Stalin, Winston Churchill, Charles de Gaulle, Konrad Adenauer, Francisco Franco, Josip Broz Tito, Margaret Thatcher, Michail Gorbatschow und Helmut Kohl. Drei Deutsche unter den zwölf belegen die Zentralität Deutschlands für das Europa des 20. Jahrhunderts. Dass Kohl am wenigsten in dieses Schema passt, gibt Kershaw zu, doch mit Gorbatschow allein wären Mauerfall und Wiedervereinigung nicht darstellbar gewesen. Aber man fragt sich schon, weshalb Kemal Atatürk fehlt, der sich bestens in Kershaws Modell einfügen würde. Stefan Plaggenborg hat ihn vor Jahren mit Mussolini und Lenin beziehungsweise Stalin verglichen, was leider – von dieser Zeitschrift abgesehen (Hachtmann, Rüdiger: Wie einzigartig war das NS-Regime?, in: NPL 62 [2017], H. 2, S. 231, 235–238) – weithin unbeachtet geblieben ist.

Die biografischen Skizzen drehen sich bei Kershaw alle um die „Erlangung und Ausübung von Macht“ (S. 12) und folgen darum dem mehr oder minder identischen Schema von Vorbedingungen, Aufstieg, Aktivitäten und „Hinterlassenschaften“. Neuem begegnet man beim Lesen kaum, aber Kershaws klare Sprache und deutliche Urteile bereiten dabei Vergnügen. „Lenin hinterließ eine tiefere Spur in der Geschichte als jede andere Persönlichkeit seiner Zeit“ (S. 73). Mussolini war, obwohl „Ikone des Faschismus“, ein „schwacher Diktator“ (S. 99). Bei Stalin beobachte man „kumulative Radikalisierung“ (S. 168). Kershaw hat seinen Hans Mommsen offensichtlich stets zur Hand. Im Falle Hitlers eher nicht, denn ihm zufolge hat dieser den Holocaust direkt angeordnet, obwohl ein entsprechender Befehl nie gefunden wurde und die von Kershaw genannten Belege (S. 550, Anm. 32) nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Bei Churchill läuft eigentlich alles auf seine Rolle im Mai und Juni 1940 zu, auf die „finest hour“ also; alles Übrige ist Vor- beziehungsweise Nachgeschichte. De Gaulle dagegen hat Frankreich zweimal gerettet, griffige Formulierungen sucht man allerdings vergebens. Das gilt überhaupt für die folgenden Kapitel, von denen zwei immerhin durch einprägsame Überschriften auffallen: Franco ist „nationalistischer Kreuzfahrer“, Tito „ungekrönter König des sozialistischen Jugoslawiens“. Ansonsten sind Titel und Inhalte konventionell, das Feld ist ja sozusagen leergeforscht. Überrascht liest man allerdings, dass Gorbatschow „auf jeden Fall die überragende politische Figur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei (S. 431), wo es doch ein paar Seiten weiter heißt, dass er schon ab 1988 „die Ereignisse nicht mehr unter Kontrolle“ hatte (S. 450). Könnte es nicht sein, dass Gorbatschow aufgrund von Unkenntnis und schlechter Beratung eine Lawine losgetreten hat? Im Alpinismus gelten solche Verursacher gemeinhin nicht als überragende Persönlichkeiten.

Die „Hinterlassenschaften“ sind Kershaws wichtigster Maßstab: Einige seiner ‚Helden‘ hinterließen Ruinen, andere ein neues politisches System, dessen Lebensdauer jedoch sehr unterschiedlich war. Dass im Europa des 20. Jahrhunderts die Demokratien auf lange Sicht am stabilsten waren, ist eine tröstliche Erkenntnis in diesen Zeiten. Das Buch möchte „die entscheidende Rolle der Persönlichkeit“ (S. 511 f.) demonstrieren. Aber weshalb interessiert sich dann Kershaw – anders als Wilfried Nippel in seinen „Virtuosen der Macht“ (2000) – nicht für Charisma als Herrschaftsmittel wie als Deutungsangebot? Bei Nippel ist entschieden mehr zu lernen, Kershaws Buch hält letzten Endes Einsichten bereit, die viele als trivial empfinden mögen. Aber er liefert eben eine Geschichte Europas im zweigeteilten 20. Jahrhundert, die nicht durch Ideologien, Machtansprüche oder Klassenverhältnisse erklärt wird, sondern durch Persönlichkeiten und ihre Hinterlassenschaften. So beendet er sein Buch mit der provokanten Feststellung, dass Hitler und Gorbatschow insofern vergleichbar seien, als beide „epochale historische Veränderungen“ (S. 541) wie niemand sonst herbeigeführt haben. Seit dem 24. Februar 2022 sieht es leider so aus, als müsste diese Liste ergänzt werden.