Bereits im März 2019 verzeichnete eine an der Autonomen Universität Barcelona erstellte Bibliografie 525 im Land veröffentlichte Titel (Eugeni Giral Quintana: „Els 525 llibres del procés“) über den procès, wie der katalanische Unabhängigkeitsversuch, der auch eine Spätfolge der Wirtschaftskrise ist, seit 2010 genannt wird. Heute, nach dem faktischen Auslaufen der politischen Mobilisierung, sind es insgesamt etwa 850 Titel. Und so wird diese Publikationswelle schon museal und erhält ihre Würdigung im kommenden Jahr mit einer Ausstellung in Barcelona, wie die katalanische Tageszeitung „La Vanguardia“ am 5. Juni 2022 vermeldete. Wie dort hinzugefügt wurde, hatte sie neben dem politischen Aspekt für viele insbesondere der kleineren Verlage auch so etwas wie einen ‚Rettungsring‘ dargestellt.

Dass es in Spanien massenhafte Veröffentlichungen zu diesem Thema gegeben hat, ist natürlich nicht überraschend. Ist es doch das Geschehen gewesen, welches das Land wie nichts anderes in den letzten Jahren geprägt hat. Erst im Gefolge des Regierungswechsels von Mariano Rajoy von der konservativen Volkspartei zum Sozialisten Pedro Sánchez im Juni 2018 kam es zu einer gewissen Beruhigung durch die Einleitung von – vorsichtig ausgedrückt – Bemühungen um einen Dialog zwischen den Regierungen in Madrid und Barcelona. Dabei ist der Ausgang weiterhin ungewiss. Als Folge davon ging in Katalonien aber auch die Unterstützung für einen eigenen Staat deutlich zurück oder rückte als Priorität bei breiten Teilen der Bevölkerung zumindest in den Hintergrund (aktuelle Zahlen dazu zum Beispiel in der „FAZ“, 16. September 2021 oder „La Vanguardia“, 16. Mai 2022). Allerdings ist die Unabhängigkeitsforderung keineswegs verschwunden und Umfragen belegen weiterhin eine starke Polarisierung, wenn nun auch mit einem deutlich verschobenen Kräfteverhältnis zwischen den beiden Seiten.

Auch in Deutschland war das Interesse an dem Referendum und der – schnell wieder ‚deaktivierten‘ – Unabhängigkeitserklärung auf dem Gipfel des Konflikts im Herbst 2017 hoch, wozu die Verhaftung des abgesetzten und ins Exil geflohenen katalanischen Regierungschefs Carles Puigdemont mit anschließendem Auslieferungsverfahren im Frühjahr 2018 einen Nachsatz lieferte. Mittlerweile ist die Aufmerksamkeit deutlich auf Fachkreise zurückgegangen. Ebenso ist die publizistische ‚Ausbeute‘ insgesamt gering. Hier hat nun die an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrende Historikerin Birgit Aschmann eine Analyse vorgelegt, die die Zuspitzung des Konflikts 2017/2018 als (vorläufigen) Höhepunkt aus der Entfaltung des katalanischen Nationalismus seit Anfang des 19. Jahrhunderts abzuleiten versucht.

Aus der ersten Formulierung eines regionalistischen Bewusstseins, das für eine komplementäre Identität („als kleinere Einheit“) zur spanischen Nation stand, entwickelte sich schon zu Ende des 19. Jahrhunderts ein Selbstverständnis als gegenüber „Madrid“ gleichberechtigter katalanischer Nation, die womöglich auch die Separation vom spanischen Staat als Ziel anstreben könnte. Im 20. Jahrhundert führte der Weg durch die Wechselfälle von Autonomieversuchen (ab 1914 und dann wieder von 1931 an) und Unterdrückungsmaßnahmen – ab 1924 zunächst noch vergleichsweise begrenzt unter der Diktatur Primo de Riveras und dann ab 1939 mit offen terroristischen Mitteln unter Franco. Die zweite Hälfte des Buchs ist der Nach-Franco-Zeit seit 1975 gewidmet. Darin konzentriert sich der abschließende Teil auf den procès, für den auf dem Höhepunkt ungefähr die Hälfte der Bevölkerung in Katalonien stand. Dabei wurde vielen ausländischen Beobachtern überhaupt erst die Existenz einer katalanischen Individualität bewusst. Doch gelang es den Unabhängigkeitsbefürwortern auch dann nicht, eine deutliche Mehrheit der Bewohner zu überzeugen, womit letztlich ihre Niederlage nicht zu verhindern war.

Aschmanns Arbeit ist keine ‚klassische‘ Politik- oder Organisationsgeschichte des katalanischen Nationalismus. Ihre methodische Basis liefert die „Emotionsgeschichte“. Anhand des Einsatzes von Emotionen für die politische Mobilisierung entfaltet Aschmann die Dynamik des Konflikts, wobei sie neuere sozialwissenschaftliche Ansätze zu Emotionskulturen und -regimen, zum Beispiel von Andreas Reckwitz, heranzieht. Ganz kurz verweist sie in der Einleitung allerdings auch auf andere Parameter für solche Bewegungen im Rahmen von Nationsbildungsprozessen, etwa auf die Herstellung eines nationalen Marktes oder andere sozioökonomische Faktoren.

Deren Stellenwert für die Indienstnahme von Emotionen taucht jedoch nur andeutungsweise auf. Das betraf historisch noch am ehesten die Frage der Aufteilung von Finanzen zwischen Madrid und Barcelona („Fiskalpakt“). Doch nicht selten sind es auch scheinbar so unspektakuläre und wenig publizitätsheischende Dinge wie eine spanische Verkehrspolitik, die systematisch die entlang des Mittelmeeres verlaufende Eisenbahnverbindung von Katalonien bis in den Süden gegenüber den „radialen“ Verbindungen mit Madrid als Zentrum benachteiligte (was die EU schon seit Jahrzehnten als corredor mediterrani anmahnt) und dabei langfristige, aber wenig schlagzeilenträchtige Folgen produzierte. Allerdings hat sich noch immer eine identitäre Symbolik – besonders zugespitzt in der Sprachenfrage gerade als Funktion einer staatlichen Bildungspolitik, und insgesamt in allen Dingen, die sich auf das postulierte ‚Wesen‘ der jeweiligen Nation beziehen – als erfolgreichster Mobilisierungsfaktor erwiesen, weil immer mit hoher Emotionalität verbunden.

Insgesamt ist Aschmanns Buch ganz auf den katalanischen Nationalismus fokussiert und man hat den Eindruck, dass sich dessen „Emotionsregime“ vor allem aus sich selbst heraus maximiert hat, statt sich im Sinne einer Eskalationsspirale in einer engen Interaktion zwischen dem Zentrum Madrid und Katalonien zu entwickeln. Wenn man dieses Buch somit als eine Binnengeschichte versteht, kann man es mit dieser Begrenzung dennoch durchaus mit Gewinn lesen. Für ein ganzheitliches Verständnis der katalanischen Unabhängigkeitsproblematik inklusive ihrer Wechselbeziehungen muss man jedoch darüber hinausgehen.

Es wird sich zeigen müssen, inwieweit die gegenwärtige ‚Beruhigung‘ auf Dauer angelegt ist. Glücklicherweise ist es 2017 nicht zu einem kriegerischen Konflikt gekommen, was durchaus eine manifeste Befürchtung darstellte (siehe auch den Hinweis Aschmanns in der Einleitung, S. 9). Nun wird man auf allen in Katalonien beteiligten Seiten genügend Unterschiede zum gegenwärtigen Konflikt in der Ukraine feststellen können. Doch auffällig sind auch Parallelen, die man für weitergehende und vergleichende Studien heranziehen müsste: Die legitimierende Berufung auf eine in der Zentralmacht verkörperte imperiale Vergangenheit beim spanischen Nationalismus, von der aus der nationale Charakter einer bestimmten Gruppe bestritten wird. Das ist verbunden mit einer Sprachenfrage, der Infragestellung von Traditionen, die nicht vom Zentrum bestimmt werden, und letztlich mit der Ablehnung einer wie auch immer konkret gearteten multinationalen beziehungsweise föderalen Struktur für den Gesamtstaat. Letztlich wird es entscheidend sein, wie viel davon in die weitere Entwicklung einfließen wird.

Immerhin ist das Buch betitelt mit „Beziehungskrisen“. Die äußerste Form der Lösung einer Beziehungskrise ist die Scheidung. In Deutschland gilt für die Ehescheidung aus guten Gründen, nicht zuletzt zur Konfliktbegrenzung, inzwischen das Zerrüttungsprinzip, wogegen in Spanien aufgrund der katholischen Traditionen trotz Einführung des Scheidungsrechts weiterhin das Schuldprinzip bedeutsam ist. Auf die Politik übertragen würde dies allerdings, ausgehend von Polarisierung und Konfrontation, in einer Eskalationsspirale münden, die zum Einsatz von Gewalt führen kann. Es wird von den weiteren Bemühungen um Dialog abhängen, ob sich eine solche Polarisierung noch einmal aufbauen wird, die dann nicht mehr zu kontrollieren wäre.