Wissenschaftskommunikation hat durch die Corona-Pandemie unzweifelhaft an Bedeutung gewonnen. Förderinstitutionen knüpfen die Mittelvergabe immer häufiger an die öffentlichkeitswirksame Darstellung von Forschungsergebnissen. Dadurch soll auch wachsender Skepsis gegenüber der Wissenschaft begegnet werden. Von einer solchen Skepsis sind nicht zuletzt Ökonominnen und Ökonomen betroffen, deren Grundannahmen seit der Finanzkrise von 2008 in Rede stehen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) dürfte in Deutschland das bekannteste nicht-medizinische Expertengremium sein. Aufgrund seiner Konjunkturprognosen und Handlungsempfehlungen wird dem Rat unmittelbare politische Relevanz attestiert. Lino Wehrheim unterzieht diese Annahme in seiner Dissertation einem empirischen Test, der eine fallweise, vorrangig legitimatorische Bezugnahme der Politik auf die Ratsempfehlungen bestätigt. Zwar habe die Häufigkeit dieser Bezugnahmen in den letzten fünfzehn Jahren abgenommen, so Wehrheim. Doch von einem Bedeutungsverlust des Rats könne keine Rede sein, wie der Autor mit Verweis auf eine anhaltende Resonanz in Politik und Medien feststellt. Verändert hätten sich stattdessen die Rezeptionsmuster: Personalisierung und Originalität der Äußerungen gewönnen angesichts stetig wachsender Angebote an professioneller Expertise an Bedeutung (S. 363).
Über den SVR liegen bereits zahlreiche Studien vor. Doch diese widmeten sich entweder nur der Frühgeschichte des Rates bis Anfang der 1980er Jahre oder aber gäben nur anekdotische Evidenz an die Hand, was nach Wehrheim zu „einer gewissen Mythenbildung“ (S. 9) beigetragen habe. Wehrheims Arbeit ist innovativ, da sie die Ratsgutachten mit den Mitteln der Textanalyse ausleuchtet. Sie ist extensiv, da sie die Zeitspanne von 1965 bis 2015 abdeckt. Die cliometrische und empirisch-quantitative Erforschung der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik wird dadurch sinnvoll erweitert. Unter Resonanz versteht Wehrheim keine kausale oder instrumentelle Wirkung, sondern Reaktionen durch wechselseitige Bezugnahme (S. 21). Beratungserfolg, so Wehrheim, sei gegeben, „wenn Angebot und Nachfrage auf dem Markt der Politikberatung zueinander finden“ (S. 22). Damit knüpft der Autor implizit an das von George Stigler popularisierte Konzept des „Marktplatzes der Ideen“ an.
Für seinen Nachweis zieht Wehrheim Jahres- und Sondergutachten des SVR heran, wertet Presseberichte aus einer Gruppe überregionaler Qualitätszeitungen aus und konsultiert Protokolle aus den Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages. Angereichert und interpretiert werden die Ergebnisse mit Stellungnahmen von früheren Ratsmitgliedern sowie sozialwissenschaftlichen Debattenbeiträgen. Insgesamt verknüpft Wehrheim Literaturstränge aus Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte mit Arbeiten zur Politikberatung und Literatur zum Einsatz des text minings im sozialwissenschaftlichen Bereich. Der handwerklich gut gemachte Band überzeugt durch klare Formulierungen, eine nachvollziehbare Gliederung sowie ein Personen- und Sachregister. Die Studie wurde inzwischen mit dem Friedrich-Lütge-Preis der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ausgezeichnet.
Herzstück der Arbeit bildet die Auswertung der Gutachten, für die Wehrheim auf die Methode des topic modeling zurückgreift. Die Gutachten hat er dafür in handhabbare Teile zergliedert und dann maschinenlesbar gemacht. In dem von Wehrheim verwendeten Modell wurden mehr als zwei Millionen Worteinheiten (Token) ausgewertet und thematisch geordnet. Eine inhaltliche Untersuchung schied dabei aus, wie Wehrheim mit Verweis auf die „Komplexität der Argumentationsstrukturen des Rates“ (S. 63) herausstellt. In mehr als achtzig (!) Abbildungen – überwiegend in Form gut lesbarer Zeitreihen – macht er die Datenmenge auch für Außenstehende relativ schnell verstehbar. Besondere visuelle Attraktivität weisen die Wortwolken zu zentralen Themen der SVR-Gutachten in Kapitel 3 (S. 64–154) auf. Bemerkenswerte Beispiele für Informationsvisualisierung stellen zudem die Topic-Karte (S. 67) und deren Verteilung entlang einer vom Autoren vorgenommenen Periodisierung der Gutachten (S. 71f.) dar. Die anschließenden Kapitel 4 und 5 vollziehen die Resonanz der Ratsgutachten dann in zusätzlichen Analysen der Medienberichterstattung und der Parlamentsdebatten nach. Diese Kapitel sind schon aufgrund ihres Zahlenmaterials zur Entwicklung der Medienlandschaft und zur Prominenz einzelner Bundestagsabgeordneter von übergreifendem Interesse. Verwiesen sei auf die Resonanzkurven einzelner Zeitungen (S. 177) und die Bezugnahme der Bundestagsfraktionen auf die SVR-Gutachten über Zeit (S. 293f.).
Die sozialwissenschaftliche Auswertung von Textdaten ist lange Zeit aufgrund der hohen zeitlichen und organisatorischen Kosten vermieden worden. Die Automatisierung von Auswertungsmethoden stellt da eine willkommene Arbeitserleichterung dar, da sie Kosten senkt und heuristische Funktion hat. Nichtsdestotrotz bleiben Textdaten Artefakte, die in ein plausibles theoretisches Fundament gebettet werden müssen, um kulturelles Sinnverstehen zu ermöglichen. Wehrheim erkennt dies an, da seine Studie „keine theoriegeschichtliche Untersuchung der Positionen des SVR“ (S. 63) darstellt. Künftige Forschungen sollten daher datengetriebene Analyse mit Ideengeschichte verknüpfen. Hierzu gehört außerdem die Einbettung ökonomischer Diskurse in die transnationale Geschichte des Neoliberalismus, wofür nicht nur die Omnipräsenz einzelner Ratsmitglieder in Denkfabriken ausschlaggebend ist, sondern auch der generelle Bedeutungswandel von Expertise. Die wahrgenommene Skepsis gegenüber (ökonomischer) Expertise erscheint in politikwissenschaftlicher Sicht dann auch als Krise der politischen Repräsentation.
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Leipold, A. Wehrheim, Lino: Im Olymp der Ökonomen. Zur öffentlichen Resonanz wirtschaftspolitischer Experten von 1965 bis 2015, 404 S., Mohr Siebeck, Tübingen 2021.. Neue Polit. Lit. 67, 221–223 (2022). https://doi.org/10.1007/s42520-022-00433-y
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