Mit ‚The Rise and Fall of the British Nation‘ hat David Edgerton eines der besten und wichtigsten Bücher zur britischen Geschichte des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Es enthält geradezu eine Überfülle an interessanten Thesen, präsentiert gut begründete Argumente und kommt zu überzeugenden Schlussfolgerungen, die verbreiteten Auffassungen oft widersprechen. Das Buch wurde in Großbritannien breit und überaus positiv rezipiert und besitzt zu Recht großen Einfluss nicht nur auf die fachwissenschaftlichen, sondern auch politischen und Mediendebatten über zentrale Entwicklungen seit Anfang des 20. Jahrhunderts und die aktuelle Situation Großbritanniens. Dabei ist es beeindruckend gut formuliert und versteht es, grundlegende Entwicklungen an ungewöhnlichen Detailinformationen aufzuzeigen. So verweist Edgerton darauf, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Zahl der Wellensittiche deutlich zurückging, während die von Hunden markant zunahm, und sieht darin einen wichtigen Indikator für den gestiegenen Lebensstandard. Denn der Erwerb und Unterhalt von Hunden verursache deutlich höhere Kosten und sei jetzt für weite Teile der Bevölkerung erschwinglich geworden.

Allerdings bietet Edgerton keine Einführung in die britische Geschichte des 20. Jahrhunderts, und auch keinen umfassenden Überblick. Das Buch setzt vielmehr gute Kenntnisse voraus und behandelt davon ausgehend wichtige Themen und Entwicklungen. Dabei interessieren Edgerton vor allem die dazu verbreiteten Darstellungen und Deutungen, mit denen er sich kritisch auseinandersetzt und vielfach zu revisionistischen Schlussfolgerungen kommt. Diese sind nicht unbedingt neu, wenn es etwa um die Frage des ‚decline‘ geht, der Großbritannien im 20. Jahrhundert gekennzeichnet habe. Diese These wurde sowohl von konservativer wie linker Seite vertreten, mit unterschiedlichen Begründungen und Konsequenzen. Die einen – allen voran Margaret Thatcher – nannten (und nennen) als Ursache weitreichende Eingriffe der Regierungen, mächtige Gewerkschaften und einen ausufernden Wohlfahrtsstaat, die zu bekämpfen seien. Die Gegenposition hingegen beklagte einen zu großen Einfluss des Londoner Finanzsektors, einen Gentleman-Kapitalismus, der sich auf Erreichtem ausruhe, oder mangelnde Planungen und sprachen sich deshalb für stärkere staatliche Eingriffe aus. Hierzu liegen inzwischen zahlreiche Untersuchungen vor, deren Ergebnisse Edgerton prägnant zusammenfasst und durch eigene Forschungen bereichert. Einer seiner Schwerpunkte liegt auf der Wissenschafts- und Technikgeschichte, und in früheren Untersuchungen hat er überzeugend gezeigt, wie wenig gerade in diesen Bereichen von einem Niedergang gesprochen werden kann. In der vorliegenden Untersuchung geht er allgemeiner auf die Niedergangs-These ein und zeigt deren Schwächen auf.

In diesem Zusammenhang bekräftigt er seine These eines warfare states, die er bereits in früheren Veröffentlichungen entwickelte und die auch in der aktuellen Studie eine große Rolle spielt. Vor allem nach 1945 habe dieser und nicht der viel beschworene welfare state seinen Höhepunkt erreicht, zu sehen an hohen militärischen Ausgaben, der neu eingeführten allgemeinen Wehrpflicht oder dem kostspieligen Versuch, eine eigene Atombombe zu bauen. Erst in den 1970er Jahren habe der Wohlfahrtsstaat demgegenüber eine größere Bedeutung erlangt, als die Ausgaben hierfür stiegen, während das Militär Kürzungen erfuhr, woran auch die konservativen Regierungen unter Thatcher und John Major wenig änderten.

Ebenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich für Edgerton eine neue Bedeutung der britischen Nation durch. Bis dahin sei ‚Britain‘ vor allem ein abstrakter, statistischer Begriff gewesen. Vorgeherrscht habe eine imperiale, kapitalistische und globale Gesellschaft und ein entsprechendes Selbstverständnis, geprägt durch freien Austausch von Waren und Kapital. Ein ‚echt‘ britisches Frühstück bestand aus dänischem Schinken, niederländischen Eiern und Brot aus argentinischem Weizen. Diese globale Einbindung zeigte sich auch im Zweiten Weltkrieg, als das Vereinte Königreich nicht – wie damals behauptet – alleine Hitler gegenüberstand. Es konnte vielmehr auf die Ressourcen nicht nur des Empire, sondern auch Lateinamerikas und der USA zurückgreifen. Ebenso kritisch sieht Edgerton die These eines ‚People’s War‘ und betont stattdessen die entscheidende Rolle, die Vertreter der etablierten Eliten während des Krieges bei der Organisation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft besaßen.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Nation eine zuvor nicht gekannte Bedeutung erlangt, vor allem in Rhetorik und Praxis der Labour-Regierung. Diese setzte keine sozialistische Politik um, sondern betrieb eine staatlich beeinflusste nationale Wirtschaftspolitik, sie nationalisierte wichtige Industrien und strebte industriell, militärisch und selbst in der Landwirtschaft eine nationale Unabhängigkeit (self-sufficiency) an, die auch weitgehend erreicht wurde. Gekoppelt war diese Politik mit einem bemerkenswerten Sendungsbewusstsein, wie es der linke Labour-Politiker und zwischenzeitliche Minister Aneurin Bevan 1951 formulierte: „This great nation has a message for the world which is distinct from that of America or that of the Soviet Union. Ever since 1945 we have been engaged in this country in the most remarkable piece of social reconstruction the world has ever seen. By the end of 1950 we had … assumed the moral leadership of the world. … There is only one hope for mankind, and that hope still remains on this little island“ (S. 195).

Diese Aussage hätte auch von Margaret Thatcher stammen können, die das Vereinte Königreich zu alter nationaler Größe führen wollte und nach dem Falkland-Krieg formulierte: „We have ceased to be a nation in retreat“ (S. 446). Doch tatsächlich öffnete sie es den Kräften der Globalisierung und des weltweiten Kapitalismus, am deutlichsten sichtbar im Big Bang, der die Londoner City in einen der weltweit wichtigsten Finanzplätze verwandelte. Parallel dazu wollte sie die heimische Industrie stärken und neue britische Unternehmerpersönlichkeiten hervorbringen – laut Edgerton ohne nennenswerten Erfolg. Im Gegenteil, ihre Wirtschaftspolitik bedeutete eine massive Schwächung der produzierenden Industrie mit einem Verlust zahlreicher Arbeitsplätze, die letztlich der Globalisierung geopfert wurden, wie Edgerton an zahlreichen Beispielen herausarbeitet. Dazu gehört, dass der Anteil der britischen Aktiengesellschaften an der Londoner Börse drastisch zurückging und multinationale Unternehmen an deren Stelle traten, während zugleich auch bei den verbliebenen britischen Konzernen ein wachsender Teil der Arbeitsplätze über den Globus verteilt wurde und noch ist.

Diese und zahlreiche andere Folgen der Regierungszeit von Thatcher arbeitet Edgerton im Detail heraus, verweist auf deren oft spalterischen Folgen und betont die ausgleichende Rolle und wichtigen Entscheidungen ihres oft unterschätzten Nachfolgers Major. Wenig Sympathie hingegen zeigt Edgerton für New Labour und kommt auch hier zu vielen begründeten Urteilen. Doch insgesamt fällt dieses abschließende Kapitel nicht ganz so überzeugend aus; die Argumente sind weniger gut begründet, dieses Kapitel beeindruckt vor allem durch klare Meinungsäußerungen. Diese sind ein generelles Merkmal des Buches und zählen zu seinen Vorzügen, da sie in der Regel auf solidem Fundament stehen. Davon gibt es – auch abgesehen vom letzten Kapitel – Ausnahmen wie die Darstellung des Bergarbeiterstreiks. Edgerton kann gute Gründe anführen, um das Verhalten von Thatcher in diesem Streik zu kritisieren. Doch es greift zu kurz, dabei nicht näher auf das nicht minder polarisierende und fragwürdige Verhalten von Arthur Scargill einzugehen.

Damit sind nur einige der Themen skizziert, die das vorliegende Buch behandelt. Es bietet eine herausragende Beschreibung und Analyse zentraler Merkmale und Entwicklungen der britischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Wer sich näher damit befassen möchte und über Grundkenntnisse verfügt, wird enorm viel darüber erfahren, oft überrascht reagieren und viel besser in der Lage sein, andere Darstellungen einzuordnen und sich ein eigenes Urteil zu bilden.