Angesichts des zuletzt gesteigerten Interesses an der Stadt als politischem Aktionsraum, gerade auch in linken und emanzipatorischen Kontexten, ist es nicht verwunderlich, dass nach historischen Vorbildern und Inspirationsquellen gefahndet wird. Auch dem Roten Wien – gemeint ist die durchgängig sozialdemokratisch regierte Hauptstadt Österreichs zwischen 1919 und 1934 – wird erneut Aufmerksamkeit zuteil, welches vielen sicherlich aufgrund seiner Wohnbaupolitik ein Begriff und zugleich doch sehr viel mehr ist. Nachdem es unlängst erst anlässlich des 100. Jahrestags seiner ‚Entstehung‘ im städtischen Wien Museum mit einer Ausstellung samt beindruckendem Begleitband gewürdigt wurde, liegt nun auch ein voluminöser Quellenband vor, der die Diskurse abzubilden beansprucht, die „im, rund um und über das Rote Wien“ (S. 13) geführt wurden. Mit einer zeitgleich in englischer Übersetzung veröffentlichten Version (The Red Vienna Sourcebook, Camden House) begegnet das Herausgebertrio – hinter dem das Forschungsnetzwerk BTWH, das Ludwig Boltzmann Institute for Digital History und der Verein für die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung stehen – zugleich auch dem international gewachsenen Forschungsinteresse.

Das Rote Wien gilt ihnen dabei nicht nur als „einzigartiges Experiment des demokratischen Sozialismus“ (S. 3), sondern zugleich als Verdichtungsraum „eine[r] Epoche, in der sich ein gesamtes intellektuelles Koordinatensystem verschoben hat“ (S. 8). Diese, ob der im Roten Wien zutage tretenden, überschäumenden produktiven Innovationskraft in nahezu allen gesellschaftlichen Lebensbereichen nicht unberechtigte Einordnung veranlasst sie, die Epoche in Anlehnung an die für das Wien um 1900 geprägte Begrifflichkeit als Zweite Wiener Moderne zu bezeichnen. Entsprechend weit und folgerichtig ist daher auch der Gegenstandsbereich der über 280 zumeist in Auszügen vorliegenden Textdokumente, die mit wenigen Ausnahmen allesamt zwischen 1919 und 1934 veröffentlicht wurden und keineswegs nur aus den Federn der Protagonisten und Anhänger des Roten Wien stammen, sondern auch von dessen klerikal-konservativen und offen faschistischen Gegnern verfasst wurden, wie zum Beispiel dem Wiener Kardinal Friedrich Piffl, Ignaz Seipel oder Alfred Frauenfeld.

Gegliedert ist die Sammlung in zwölf Teile mit insgesamt 36 Kapiteln, die neben den Quellentexten und zugehörigen situierenden Kurzkommentaren jeweils eine von wechselnden Kapitelverantwortlichen gestaltete Einführung umfassen, die in ihrer informierten Prägnanz durchweg informativ und hilfreich bei der Auseinandersetzung mit dem historischen Material sind. Die beeindruckende thematische Bandbreite der in den Kapiteln verhandelten diskursiven Felder reicht von ‚Austromarxismus‘ und ‚Antisemitismus‘ über ‚Jüdisches Leben‘, ‚Natur‘ und ‚Sexualität‘ bis hin zu ‚Wohlfahrt‘ und ‚Zeitungen‘ im Roten Wien, wobei sich zwischen ihnen zahlreiche Verbindungslinien auftun und der sozio-politische Gegenentwurf ‚Rotes Wien‘ als zusammenhängendes, fein verästeltes Gewebe erkennbar wird, das freilich von einer inneren Dynamik durchzogen und – gezwungenermaßen experimentell – beständig im Werden war. Gerahmt wird der texteditorische Kern von einer von den Herausgebern verfassten bündigen Einführung, die eine Übersicht der Historie des Roten Wiens und der bisherigen wissenschaftlichen Rezeption(swellen) bietet, sowie einer Zeittafel und dem für gezielte Recherchen enorm hilfreichen Sach- und Personenregister am Ende des Bandes.

Einen Schlüsselbereich – wenn auch keineswegs den einzigen – stellt die zu Recht fast zu Beginn des Bandes angesiedelte, von Veronika Duma verantwortete Rubrik der Steuerpolitik dar, war doch die mit dem föderalisierenden Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 eingeleitete und 1922 realisierte Transformation der Stadt Wien in ein eigenständiges Bundesland mit weitreichenden Steuergesetzgebungskompetenzen die zentrale Ermöglichungsgrundlage zahlreicher Elemente des politischen Projekts Rotes Wien, die die Stadtregierung innovativ und emanzipatorisch zu nutzen wusste und sich so monetäre Gestaltungsspielräume eröffnete. Dass dieses Modell, auch darauf verweist Duma, dabei auf wackeligen Beinen stand, zeigte sich spätestens mit dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise von 1929 und ihren verheerenden Folgen auch für die revolutionäre Reformpolitik des Roten Wiens. Über alternative Modellierungen und Überlegungen zur Ökonomie, wie etwa Fragen der Sozialisierung und Gemeineigentum, bekommt man leider wenig bis nichts zu lesen, was aber auch das einzige Manko dieses ambitionierten Editionsprojekts darstellen dürfte.

Das Quellenbuch ermöglicht es, in die Welt des Roten Wiens einzutauchen. Es eignet sich sowohl für das punktuell-gezielte forscherische Interesse wie auch das interessierte Treiben-lassen bei der ungerichteten Lektüre, die Erheiterndes ebenso zutage fördert (etwa wenn der Journalist Anton Kuhn die Seele des Post‑k. u. k.-Wiens im damalige Szenegetränk Soda mit Himbeer symbolisch verdichtet findet), wie auch die am Ende des Bandes zu findenden bitteren Reflexionen Otto Bauers über den fatalen, zu langen Gewaltverzicht bei der Verteidigung der demokratischen Republik im Angesicht der faschistischen Bedrohung, die 1934 im gewaltsamen Bürgerkrieg und der Machtübernahme gipfelte.

Ist all das bloß von historischem Interesse? Die Herausgeber haben dazu eine klare Meinung: Wenngleich sie sich bei der Interpretation zurückhaltend geben und eine „autoritative Gesamtinterpretation“ (S. 13) vermeiden wollen, so machen sie keinen Hehl daraus, dass sie sich von ihrer Editionsarbeit mehr als eine archivarische Leistung erhoffen. Sie wollen keineswegs nur abbilden, sehen sie doch angesichts zeitgenössischer Krisen der liberal-kapitalistischen Gesellschaften im Roten Wien eine „alternative Geschichte, die zu unserer Gegenwart spricht“ (S. 15) und gegenwärtige politische Projekte zu inspirieren und ideell zu munitionieren vermag: Das Rote Wien könne „als neu zu entdeckendes Modell dienen, das für Strategien städtischer ökonomischer Krisenbewältigung, der Re-Demokratisierung des urbanen Raums oder die Frage der Wohnbaupolitik als Vorbild und Vergleichsfolie herangezogen werden kann“ (S. 8).

Das Rote Wien, das macht das Quellenbuch deutlich, kann im besten Sinne als eine der von Marx und zahlreichen Marxisten zu Unrecht verspotteten ‚Garküchen für die Zukunft‘ betrachtet werden, in der Rezepte verfasst und – durchaus erfolgreich – auch ausprobiert wurden. Es ist ein enormer Verdienst der Herausgeber und Kapitelverantwortlichen, diesen ‚Schatz der Revolution‘ (Hannah Arendt) zusammengetragen und in bündiger Form verfügbar gemacht zu haben. Diese Rezepte heute wieder zu lesen, sie theoretisch wie praktisch erneut auszuprobieren und womöglich zu variieren, neu zu interpretieren oder auch beiseitezulegen, dürfte sich lohnen. Das ermöglicht zu haben, ist neben der archivarischen Leistung der zweite immense Verdienst der Herausgeber.