Seit ungefähr einem Jahrzehnt scheint entschieden, dass nicht die Wissenschaftstheorie (Historik), sondern die Wissenschaftsgeschichte den ergiebigsten Zugang zur kritischen Selbstreflexion und Optimierung der Geschichtswissenschaft bietet. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis erfährt dieses begrifflich etwas sperrig zu fassende Spezialgebiet historischer Forschung deutlich gesteigerte Beachtung. Allerdings folgen die meisten einschlägigen Beiträge zumindest im deutschen Wissenschaftsbereich bisher eher konventionellen Erkenntnisinteressen, Fragestellungen und Analysemustern. Vor allem ist bemerkenswert, dass nach wie vor die individualbiografische Perspektive dominiert. Das gilt für die Editionen – Korrespondenzen einzelner Historiker – ebenso wie für die Darstellungen, wovon eine Reihe jüngerer Monografien und Sammelbände Zeugnis ablegt.Footnote 1

Dass dennoch auch in diesem, mit dem Vorzug detailfreudig vertiefter Analyse wie dem Nachteil nur punktueller Komparatistik verbundenen Rahmen gewichtige Innovationen möglich sind, stellt die jüngste einschlägige Untersuchung des emeritierten Mainzer Frühneuzeithistorikers Heinz Duchhardt unter Beweis.Footnote 2 Ihr geht es um das Phänomen nur angekündigter, lediglich ideell, bereits konzeptionell oder schon praktisch in Angriff genommener, aber dann nicht abschließend realisierter zweiter (oder sogar dritter) Bände ambitionierter Werke, die von der interessierten Öffentlichkeit, der historisch-kulturwissenschaftlichen ‚Zunft‘ und den jeweiligen Autoren zumindest in einer bestimmten Lebens- oder Arbeitsphase als wesentlich erachtet wurden. Ihre „zentrale Frage“ ist diejenige „nach den Gründen, warum und wie ‚gestandene‘ Wissenschaftler ‚ihre‘ Torsi ‚akzeptierten‘, wie sie selbst oder die Nachwelt es begründeten, dass es zur angekündigten Fortsetzung nicht mehr kam [beziehungsweise] welche objektiven Gründe es verhinderten“ (S. 5). Die Umsetzung dieses in der Tat originellen Erkenntnisanliegens erfolgt mittels neun durchgehend quellennaher, detaillierter, nüchtern abwägender Einzelstudien, deren Erstellung anhand einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen und dennoch verbliebener Quellenlücken sich nachvollziehbarerweise aufwendig gestaltete. Das erste Kapitel nimmt die 1911 im ersten Band erschienene, 1965 nachgedruckte, bahnbrechende Rekonstruktion des mittelalterlich-frühneuzeitlichen Reichskammergerichts aus der Feder des Rechtshistorikers Rudolf Smend (1833–1918) in den Blick. Von der Kritik auch als vielversprechender Beitrag zur Rehabilitierung des im Zuge der preußisch-protestantischen Machtstaatlichkeit als schwach geschmähten Alten Reiches gewürdigt, blieb die Erstellung des im Vorwort versprochenen zweiten Bandes aus. Dafür macht Duchhardt innere wie äußere Gründe verantwortlich: von Smend mitvollzogene und mitbetriebene Verlagerungen thematisch-inhaltlicher Prioritäten im rechtshistorischen Feld, entsprechende Anpassungszwänge angesichts der Wechselfälle der deutschen Geschichte vom Kaiserreich zu Weimar und dann zum NS-Regime, institutionell-soziale Karrierebedingungen als Medium oder abhängige Variable dieser Entwicklungen, Zeitknappheit aufgrund teils unausweichlicher, teils selbst gewählter anderweitiger Engagements, beginnend bei der akademischen Lehre und Selbstverwaltung. Publikationsmöglichkeiten hätten für die Fortsetzung offenkundig bestanden. Der Theologensohn habe indessen „ein schlechtes Gewissen, seiner Disziplin den versprochenen zweiten Band vorenthalten zu haben, […] wohl nur selten empfunden“ (S. 24). Im zweiten Kapitel forscht Duchhardt dem Ausbleiben des Folgebandes der ebenfalls als Pionierarbeit geltenden Darstellung „Russlands Orientpolitik in den letzten zwei Jahrhunderten“ (Band 1, 1913) des Osteuropahistorikers Hans Uebersberger (1877–1962) nach. Hier war das Erscheinen des zweiten Bandes sogar schon für „einige Monate“ nach dem ersten angekündigt (S. 27). Mehr noch, auch für seine thematisch anders gelagerte Habilitationsschrift stellte der Autor eine „nicht allzu ferne“ Fortsetzung in Aussicht, die nie erschien (S. 35). Wie im Fall des Reichskammergerichtswerkes, zeigte sich die Fachkritik an der Vorlage des zweiten Teils der „Orientpolitik“ sehr interessiert und versäumte es nicht, auf die Bedeutung des Werkes auch für die Politik hinzuweisen. Dass der Fortsetzungsband ausblieb, obwohl einer Berufungskommission 1914 bereits die ersten Druckproben vorgelegen haben sollen (S. 46), schreibt Duchhardt plausibel einerseits dem ausgeprägten Engagement des „eher aus kleinbürgerlichen Verhältnissen“ (S. 27 f.) der deutsch-slowenischen Grenzregion stammenden und daher zweisprachigen Historikers für die NS-Wissenschafts- und Ostpolitik sowie dessen beeindruckend breit angelegter Vertuschung nach 1945 zu. Andererseits deutet er anderorts stärker beachtete „persönlich-emotionale Motive“ – konkret die Liebesbeziehung zu einer jungen Frau, die als Studentin in sein Leben trat – und daraus erwachsene Belastungen an (S. 27 f., Fußnote 1).Footnote 3 Über diese Perspektive hinaus besonders frappant sind die Hinweise Duchhardts auf die ‚Weichspülung‘ Uebersbergers nach 1945 durch seine Schüler (S. 41–45). Einen etwas anders gelagerten Fall führt Kapitel drei vor. Der aus einem nichtakademischen, später finanziell angeschlagenen Elternhaus stammende, über das gymnasiale Lehramt, die Habilitation und ein Extraordinariat in eine wichtige Projektleitungsstelle der Bayerischen Akademie aufgestiegene Humanismus- und Reformationsexperte Paul Joachimsen (1867–1930) hatte 1910 im ersten Teil seiner erweiterten Habilitationsschrift zur Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung unter dem Einfluss des (Früh- und Hoch‑) Humanismus die Publikation eines zweiten Teils zugesagt. Dass es – möglicherweise nur sehr knapp (S. 62) – nicht dazu kam, dürfte hier einerseits äußerlich den Belastungen geschuldet gewesen sein, die der ungewöhnliche Karriereweg mit sich brachte. Auf der anderen Seite erscheint Duchhardts Vermutung nicht unplausibel, dass auch ein inhaltlicher Grund, konkret Joachimsens negative Einschätzung des noch zu behandelnden Späthumanismus als Dekadenz, eine Rolle spielte. Nochmals anders gelagert war der im vierten Kapitel geschilderte Fall des Nichterscheinens des Fortsetzungsbandes zur Studie „Der deutsche Staat des Mittelalters“ (Band 1 publiziert 1914) von Georg von Below (1858–1927). Der ostpreußische Gutsbesitzer- und Offiziersabkömmling vereinigte, wie Duchhardt konstatiert, monarchisch-konservative bis reaktionäre politische Gesinnung mit methodischem Scharfsinn. Damit vermeidet Duchhardt die heute übliche, einseitige politisch-ideologische Verdammung des durch seine Polemik gegen Karl Lamprecht bekannt gewordenen Historikers. Das wesentlich zeitgeschichtlich vermittelte (S. 75 f.), eigentliche Anliegen des unausweichlich in die Kriegsumstände geratenen Staatsbuches bestand nach eigenem Zeugnis Belows darin, dem Deutschen Kaiserreich eine seit dem Mittelalter hervorgebrachte, kontinuierliche Staatlichkeit zuzuweisen: „Es kann (und darf!) nicht sein, dass Deutschland weniger Staatlichkeit besessen habe als Frankreich oder England“. Während der publizierte erste Band diese „These […] in großen Zügen“ entwickelte, sollte der zweite, als Materialsammlung offenkundig bereits vorbereitete, „die Einzelausführung bringen“ (S. 65 f., 87). Mit der auch familiär hautnahen Erfahrung von Niederlage im Weltkrieg und Etablierung einer Republik entfielen jedoch wichtige zeitgeschichtlich-politische Voraussetzungen. Zudem war die psychische und physische Kraft Belows offenkundig zu schwer angeschlagen, um noch mehr als nur einzelne Gedanken und kurze, thematisch verwandte Beiträge vorbringen zu können. In seiner anschließenden „Zwischenbilanz“ (S. 89 f.) schreibt auch Duchhardt dem Umbruch von 1918/19 zu, Relevanzen, Erkenntnisinteressen und Methoden grundsätzlich verschoben zu haben. Hier könnte der aufmerksame Leser einen Verweis einerseits auf Reinhart Kosellecks Arbeiten zur wechselseitigen Abhängigkeit von Zeiterfahrung, Geschichtsauffassung und Methode geschichtlicher Wissenschaft, andererseits zur dramatischen Krise des protestantisch-borussisch [borussianisch ist seit Wolfgang Hardtwigs Aufsatz zum Borussianismus eigentlich der historiografiegeschichtliche Fachbegriff] imprägnierten Geschichtsbildes infolge des Untergangs des Kaiserreichs, das als entsprechend ersehnter Modellstaat diente, vermissen.Footnote 4

Zu einem dezidierten Fazit gelangt Heinz Duchardt bei seinem nächsten Beispiel (Kapitel 5), der Untersuchung des Ausbleibens eines Folgebandes zur „Geschichte der antiken Philosophie“ (Band 1, 1921) des, wie Joachimsen jüdischstämmigen, in Basel wirkenden Philosophen Karl Joel (1864–1934). Dessen „höchst geistvolles opus maximum blieb ein Torso, weil dieser charismatische und ungemein produktive Philosophiehistoriker seine Arbeitskraft schlicht überschätzt hatte und in einer schon von Krankheiten gezeichneten Schaffensperiode nolens volens einem anderen zweibändigen Projekt den Vorzug geben musste“ (S. 112).

Das sechste Kapitel des Buches fällt wiederum in die Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft im engeren Sinne. Es geht dabei um die offenbar lange geplanten und nachweislich in Angriff genommenen, aber letztlich nicht zustande gekommenen Folgebände von Gerhard Ritters „Geschichte der Universität Heidelberg im Mittelalter“ (Band 1, 1936). Eine fundierte und repräsentative Heidelberger Universitätsgeschichte war von Seiten eben der Universität und der Heidelberger Akademie seit 1914 angestrebt worden, durchaus auch von dem Gedanken motiviert, der protestantischen Wissenschaft Ehre zu verschaffen. 1916 erreichte das Vorhaben über dessen Doktorvater den Pastorensohn und promovierten Gymnasiallehrer Ritter (1888–1967), der 1919 hauptberuflich daran arbeitete, sich aber nach seiner Habilitation 1921 nachvollziehbarer Weise mit anderen Themen befasste und seine Ordinarienkarriere verfolgte. Erst unter ständigem Drängen der Akademie kam dann 1936 der erste Band in Druck, mit vergleichsweise magerem und in zumindest einem Fall sehr kritischem Rezensionsecho, was aber gewiss auch dem damals wie heute vergleichsweise randständigen Thema geschuldet war. Noch im gleichen Jahr bewilligte die Akademie nicht unerhebliche Mittel zur Fertigung des nächsten Bandes und die entsprechenden Arbeiten kamen unter beeindruckendem Hilfskrafteinsatz in Gang, bis der abermalige Weltkrieg mit seinen Dienstverpflichtungen, Archivsperrungen und Papierrationierungen das Ganze beendete. Nach 1945 bekannte sich der Doyen der gemäßigt national-konservativen protestantischen Geschichtswissenschaft zwar „bis ins hohe Alter zu seine[r] sittlichen Verpflichtung“, das Werk fortzuführen oder sogar abzuschließen (S. 138 f.). Ernsthaft fordern mochte es jedoch auch die Akademie nicht mehr, und von Ritters Schülern nahm gewiss auch deshalb keiner den Stab auf, weil dadurch kaum akademische oder öffentliche Reputation zu gewinnen war. Dagegen scheint, wie Kapitel 7 darlegt, der deutlich weniger bekannte, katholische Historiker Heribert Raab (1923–1990), tätig als Mitarbeiter der „Germania Sacra“ unter anderem in Rom, habilitiert in Mainz und schließlich Ordinarius in Fribourg, auf den angekündigten zweiten Band seiner als Habilitationsschrift begonnenen Biografie des trierischen Kurfürsten Clemens Wenzeslaus von Sachsen (Band 1, 1962) auch „aus grundsätzlichen Bedenken“ verzichtet zu haben (S. 155). Die maßgebliche Fachkritik kreidete ihm teilweise vehement an, die Motive und Wege seines Helden allzu katholisch-apologetisch gedeutet zu haben, statt, wie in der damaligen Auftaktphase sozialgeschichtlich-moderner Geschichtswissenschaft en vogue, primär oder ausschließlich auf diesseitig-materielle Interessen abzustellen. Raabs „nie geschriebener und nie gedruckter zweiter Band“ sei mithin „einer der wenigen Fälle […], dass ein problematischer, wenn nicht verfehlter Ansatz nicht nur von der wissenschaftlichen Kritik thematisiert und ‚aufgespießt‘ wurde, sondern zum Wenigsten auch mitverantwortlich dafür war, dass ein Autor einer schwierigen Beweisführung, allen Einwänden zum Trotz doch von der ‚richtigen‘ These ausgegangen zu sein, aus dem Weg ging und sich einem anderen Forschungsfeld zuwandte“ (S. 158). Kapitel 8 widmet sich dem Ausbleiben eines zweiten Bandes zu „Alles oder Nichts (Band 1, 1966), einer ursprünglich vom Bundesverteidigungsministerium angeregten, vom Autor mit diesem ominösen Titel versehenen Geschichte des NS-Staats. Der Verfasser war der „eher ärmlichen bäuerlichen Verhältnissen entstammende“ (S. 160), in Kiel promovierte und habilitierte, kurz an der NS-Reichsuniversität Straßburg, dann am Mainzer Institut für Universalgeschichte tätige Martin Göhring (1903–1968). Nachdem ein erstes Teilmanuskript bei einem Verlag abgelehnt worden war, musste sich der hier ungeschminkt als „schwieriger, nicht nur geldhungriger und geltungssüchtiger und in gewisser Weise auch eitler [Verlags-]Klient“ charakterisierte Autor geradezu in den Tübinger Mohr Siebeck Verlag einschleichen (S. 163), den er dann ständig mit Reklamieren, Monieren, Lamentieren und Geldforderungen eindeckte (S. 166). Das fachwissenschaftliche und publizistische Echo auch des Auslands auf den schließlich vorgelegten ersten Band erwies sich zudem nicht als übermäßig begeistert, obwohl – derartige Feststellungen finden sich äußerst selten! – „Göhring die Rezensenten (meistens) selbst ‚rekrutierte‘“ (S. 168).Footnote 5 Als „immerhin gut lesbare Zusammenfassung des Forschungsstandes“ hatte das Werk angesichts der zeitgenössisch neu aufbrechenden NS-Forschung mithin „nur eine begrenzte Halbwertzeit“ (S. 173). Göhring plante und begann offenkundig gleichwohl einen Folgeband, bis ihm – so die aus den Nachrufen bekannte Formel – der unerwartete Tod die Feder aus der Hand nahm (S. 175).Footnote 6 Weder einer seiner Nachfolger und Anhänger noch der Verlag waren zur Überarbeitung und Fertigstellung des Werkes bereit. „Die Fachwissenschaft trug deswegen wohl kaum Trauer“ (S. 178). Duchhardts letztes (9.) Kapitel bezieht sich auf einen für die Frühneuzeitforschung unzweifelhaft noch immer ganz wesentlichen Fall des kurzzeitigen Saarbrücker, dann Bonner katholischen Ordinarius Konrad Repgen (1923–2017): die nicht über zwei erste Teilbände hinausgekommenen Geschichte des Verhältnisses der Römischen Kurie zum Westfälischen Frieden (Band 1 in zwei Bänden 1962/65). Die Anfänge der Studie sind mit Repgens Habilitation in Bonn und dem von seinem akademischen Lehrer Max Braubach, der „insgesamt weit über 100 Schüler“ an sich binden konnte (S. 183), betriebenen Großvorhaben einer Edition aller wesentlichen Akten des Westfälischen Friedens verknüpft. Dass sie kaum vorwärts kam, ja nicht einmal bis zum Frieden selbst vorstieß, schreibt unser Autor, der als Frühneuzeithistoriker Repgen geradezu unvermeidlich persönlich kannte (S. 194), neben den üblichen und weniger üblichen anderweitigen Verpflichtungen und Umständen vornehmlich dem akribisch-peniblen und daher vergleichsweise langsamen Arbeitsstil schon des akademischen Lehrers und dann dessen „Meisterschülers“ zu (S. 182). Weniger deutlich wird, dass Repgen sich allerdings auch dazu berufen fühlte, der nicht nur aus seiner Sicht immer noch protestantismuslastigen ‚Zunft‘ auch außerhalb des frühneuzeitlichen Teilgebiets thematisch-inhaltlich, methodisch und im Hinblick auf die Positionsbesetzungen engagiert gegen zu halten, und dadurch manche Energien band. Dass „einer der großen deutschen Historiker des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts“ (S. 179) einen Torso hinterließ, unterstreicht dennoch unzweifelhaft in erster Linie, dass auch objektiv Quellenzugangsproblematik, Quellenfülle und Quellenauswertungsaufwand Projekte scheitern lassen können.

Der knappe „Schluss“ des Bandes (S. 197–205) unternimmt erwartungsgemäß einen ersten Schritt zur vergleichenden Gewichtung der erarbeiteten Befunde auf nächsthöherer Abstraktionsebene. Der angestrebte, nicht repräsentative, aber reflektiert explorative Einblick in „das breite Spektrum“ (S. 197) der historisch arbeitenden, hinsichtlich ihrer Herkunft, der Konfession (mit „absoluter Dominanz protestantischer Autoren“ (S. 198)), des Professionstypus (stiller Gelehrter versus ‚öffentlicher‘ Wissenschaftler) und ihrer Lebenswege erfassten Männer (!) hat unzweifelhaft als gelungen zu gelten. Hinsichtlich der Ursachen, die für die Nichtrealisierung von Folgebänden sorgten, fächert die Pionierstudie ein breites Panorama innerer und äußerer Gründe auf, ohne den augenfälligen wesentlichen äußeren Grund im beobachteten Zeitraum, die Weltkriege und ihre massiven Einschnitte, übermäßig zu strapazieren. Soziale Herkunft, Konfession, vielleicht auch Alter spielten eine eher geringe Rolle. Duchhardt meint immerhin eine relative Häufung aufgegebener Projekte in der Rechtsgeschichte feststellen zu können. Dies sei dadurch bedingt, dass die praktische Juristenausbildung den Verfassern überdurchschnittliche Energien abverlangte (S. 202 f.). Am Ende folgen kritische Verweise auf die Quellenlage, insbesondere die schlechte Überlieferung von Verlagsakten, schließlich eine Reihe weiterführender, unverkennbar auch persönlich inspirierter Fragen, die sich einerseits wieder auf die reputativen Konsequenzen gebrochener Fortsetzungsversprechen im Rahmen der ‚Zunft‘ und der Öffentlichkeit, andererseits aber – und das noch deutlicher – auf die mentale Verarbeitung dieses Mangels bei den Autoren selbst beziehen: „das Gefühl, eine Bringschuld nicht beglichen zu haben“; die Notwendigkeit, „solche Verlustängste“ zu bewältigen, wobei die Untersuchung solcher Bewältigungsformen nicht mehr in die Kompetenz des Historikers fielen (S. 205).Footnote 7

Das Potenzial dieser Kollektion individualbiografischer Studien für eine systematisch konzipierte Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft ist beträchtlich, wie schon ein kurzer Blick auf dieses von anderen Autoren durchaus betretene Feld unterstreicht.

Die vorliegenden Ausführungen beziehen sich wie gesagt zunächst auf die soziale Herkunft, die damit verbundene konfessionelle und akademische Sozialisation sowie den Karriereverlauf der erfassten Autoren. Deren Ausprägungen wären denjenigen Befunden zuzuordnen, die für die gesamte Historikerzunft und den angelagerten historischen Sonderrichtungen (zum Beispiel eben Rechtsgeschichte) erarbeitet worden sind. Der Herkunft im engeren sozialen Sinne, gar aufgefasst als ‚Klassenherkunft‘, wird man heute – wie von Duchhardt bereits angedeutet – indessen keine übermäßige Bedeutung für die Wissenschaftsauffassung und -praxis mehr zuschreiben, während dem konfessionellen Faktor eher wieder größere Wichtigkeit zugesprochen wird, vor allem hinsichtlich der Komponenten Berufseifer, Berufsethos (siehe unten), Deutungshorizonte und Themenwahl beziehungsweise thematische Prioritätensetzung.Footnote 8 Hinzu kommt der vorliegend sachbedingt ausgeblendete, aber notierte Genderaspekt, für den nunmehr die beeindruckende Studie von Falko Schnicke vorliegt.Footnote 9 Mit dem Aspekt der akademischen Sozialisation eng verknüpft wird aktuell nicht nur die Einübung in das oder – böse ausgedrückt – die Abrichtung zum Historikergeschäft, sondern insbesondere der Erwerb oder die Stabilisierung von sozialen Beziehungen, vor allem in Form der akademischen Schülerschaft. Zwar sind Kontinuität und Wandel dieser partiell tabuisierten wissenschaftlich-disziplinären Sozialstruktur zumindest seit 1970 noch unklar. Um sie näher auszuleuchten, „bedürfte es eines umfassenden Projekts zur Genealogie der deutschen Historikerzunft […], das die Pionierstudie von Wolfgang Weber über die ‚Priester der Clio‘ fortführen würde“.Footnote 10 Dass die Struktur ‚Schule‘ – wobei zwischen direkten und indirekten, ‚Kurz-‘ und ‚Langschülern‘ et cetera zu unterscheiden wäre – und die mehr oder weniger fluiden Zweckzusammenschlüsse von Schulen (action groups) bereits einem freien Markt geschichtswissenschaftlicher Einzelkämpfer gewichen seien, deren Karrieren allein von ihrer persönlichen Performanz, argumentativen Brillanz und soziokulturellen Passform abhängten, ist jedoch ziemlich unwahrscheinlich. Schulen von mehr oder weniger nahestehende Kollegen und Weggefährten einerseits sowie der Lagerbildung in der weiteren Öffentlichkeit andererseits zu unterscheiden erscheint besonders auch im Hinblick auf Duchhardts Leitfrage nach der moralischen Verpflichtung beziehungsweise dem Sich-Verpflichtet-Fühlen wichtig. Wem genau gelten diese Verpflichtungen, ist das Vorbringen von Entschuldigungsgründen adressatenspezifisch aufzufächern, ist ein ‚Versagensgeständnis‘ vor dem akademischen Ziehvater oder den eigenen Schülern besonders peinigend? Oder gehören schnelle In-Aussicht-Stellungen oder Zusagen heute lediglich zum unausweichlichen Selbstvermarktungsgeschäft? Auch der damit angesprochene Sonderbereich der wissenschaftlichen beziehungsweise akademischen (fach- und fakultätsspezifischen, universitären) und allgemein (bildungs-)bürgerlichen Ethik (etwas weniger prätentiös: Anstand, Comment)Footnote 11 ist bereits in den Fokus geschichtswissenschaftshistorischer und allgemein geisteswissenschaftshistorischer Forschung gerückt. An der Universität Leiden hat sich um eine entsprechend denominierte Professur ein einschlägiger Schwerpunkt und eine entsprechende Zeitschrift (History of Humanities) etabliert. Der Inhaber dieser Professur, Paul J. Herman, ist mit Studien etwa zum Selbstverständnis und den daraus abgeleiteten professionellen Normen der „scholarly persona“ und der „scholarly integrity“ – mit Schwerpunkt auf Historikern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – hervorgetreten.Footnote 12 Andere Ansätze operieren mit dem analytischen Begriff „tribal culture“, woran sich die Herkunft dieser analytischen Perspektiven aus der Kulturwissenschaft ablesen lässt.Footnote 13 In die mithin deutlich zu differenzierende Beurteilung gebrochener Zusagen wird man ferner – freilich angemessen kritisch – die Kategorie ‚wissenschaftliches Fehlverhalten‘ einbeziehen müssen.Footnote 14 Im Übrigen scheint auch die Berücksichtigung anderer Phänomene unvollendeter, nichtrealisierter oder revidierter Projekte und Werke in der Geschichtswissenschaft erforderlich, um die von Heinz Duchhardt untersuchten Fälle angemessen beurteilen zu können. Das aufgehobene Max Planck Institut für Geschichte hat „in der Ära Heimpel“ laut Peter Schöttler keines seiner großen Langzeitvorhaben abgeschlossen.Footnote 15 Die erste Auflage der Edition der Briefe Leopold von Rankes, immerhin unter der Ägide der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, wurde wegen erheblicher Mängel eingestampft und soll durch eine Neuauflage ersetzt werden.Footnote 16 Ein möglicherweise spannendes Thema wäre etwa auch, zu untersuchen, welchen Publikationsverpflichtungen Stipendiaten oder sonstige Geldempfänger bestimmter Stiftungen oder Mäzene aus welchen Gründen nicht nachgekommen sind oder nicht nachkommen konnten, und welche Konsequenzen die etwaigen Verfehlungen gegebenenfalls hatten.

Ein Ort, indem das disziplinäre Ethos regelmäßig besonders prägnant zum Ausdruck kommt, sind die von Duchhardt angesprochenen Rezensionen, die eben keineswegs nur der Wissenschaft in ihrer kognitiven Verfassung dienen, sondern auch ihrer sozialen Verfassung zugehören. Erwähnt sei nur der triviale Tatbestand, dass Rezensionen nicht nur über Buch-, sondern auch über Wissenschaftlerkarrieren entscheiden können. Eine umfassende historische Untersuchung der Textsorte Rezension in der Geschichtswissenschaft sowohl in deren kognitiver als auch sozialer Dimension gibt es bis heute ebenso wenig wie eine profunde Ausbildung künftiger Historiker in dieser fachwissenschaftlich zentralen Textsorte, von löblichen Ausnahmen abgesehen.Footnote 17 In diese künftige Forschung wären sämtliche von unserem Mainzer Autor explizit und implizit aufgeworfenen Fragen einzubeziehen: Wer bespricht wie ein umfangreiches oder ambitiöses Werk eines hoch angesehenen Fachvertreters in welchem führenden oder eben im Gegenteil eher als weniger bedeutend erachteten Fachjournal? Wer darf eine solche Besprechung schreiben? Wie kommt überhaupt der Abdruck einer Rezension, wie die Auswahl der Rezensenten (siehe den Fall Martin Göhring) zustande? Welche Art, welcher Grad von Kritik erscheinen zulässig, nach welchen Kriterien hat diese Kritik zu erfolgen? Wie sieht es mit den hier und da mündlich beiläufig verdammten Besprechungskartellen – positive Rezensionen auf Gegenseitigkeit – im Fach Geschichte aus?

Nachdem die Rezension über ihre unmittelbare Aufgabe hinaus eine zentrale Funktion in der fachlichen und außerfachlichen Wissenschaftskommunikation insgesamt einnimmt, ist schließlich auch diese Kommunikation, die gleichzeitig die soziale Vernetzung konstituiert, systematisch in den Blick zu nehmen. Das gilt einerseits für die fachwissenschaftlichen Medien: die Bedeutung und der Wandel etwa der Historischen Zeitschrift für das Gesamtfach, der Geschichte und Gesellschaft für die Bielefelder Schule, das äußere (finanziell-ökonomische) Scheitern einer Spezialzeitschrift wie derjenigen, an der Heinz Duchhardt selbst beteiligt war.Footnote 18 Andererseits kommen die angesichts von Globalisierung und Europäisierung eher beachteten Studien zum internationalen und nationalen Tagungswesen des Faches Geschichte hinzu.Footnote 19 Jüngere Individualbiografien zu Historikern weisen eigene Abschnitte zu den kommunikativen und sozialen Vernetzungen ihrer Helden aus. Paul Nolte hat unlängst eine eindrucksvolle Pionierstudie zur Entstehung eines einzelnen, ‚zünftig‘ noch immer höchst angesehenen historischen Werkes vorgelegt, dem sich nicht nur komplexe kognitive Denkprozesse, beflügelte und resignative Arbeitsphasen und nicht zuletzt Abbruchgefahren, sondern auch entsprechende Kommunikationsprozesse zumal zum Verleger entnehmen lassen.Footnote 20 Dagegen fehlen systematische und nüchterne Analysen etwa zum Begutachtungswesen. Die Bedeutung dieses Verfahrens für die kognitive und soziale Reproduktion und Innovation der Disziplin dürfte kaum jemand in Abrede stellen. Gutachterliche Stellungnahmen entscheiden bereits über Publikationschancen, also die Eintrittskarten in das akademische Geschäft schlechthin, auch wenn aktuell und in absehbarer Zukunft offenbar nicht die fachwissenschaftliche Expertise, vielmehr ökonomisch-finanzielle, also markt- beziehungsweise absatzbezogene Erwägungen und Entscheidungen der Verlegerseite in den Vordergrund rücken. Noch wesentlicher sind Projektbegutachtungen, gefolgt von Personalgutachten, dem nach wie vor am stärksten tabuisierten, dabei gerade relevantesten Feld.Footnote 21 Welche Evaluationskriterien wurden und werden wann in welcher Gewichtung und in welchen Formulierungen angesetzt? Wie sieht es neben den problematischen Kriterien ‚Leistung‘ und ‚Wirkung/Erfolg (impact)‘ mit dem in Berufungsprozessen oft umschriebenen, also nicht explizit erörterten Kriterium ‚Passfähigkeit‘ aus? Diese kann sich ja auf ganz verschiedene Elemente beziehen, so das Fach, die Fakultät, die Universität, die Region und ähnliches, aber auch inhaltlich-thematische Nähe (welche Schwerpunkte werden vertreten) und soziale Beziehungen (die berühmte ‚Chemie‘ muss stimmen). Auch hier spielen unaufhebbar das von Duchhardt betonte Ethos, die Selbstauffassung, das Selbstwertgefühl, die Integrität der betroffenen ‚wissenschaftlichen Person‘ und der Beteiligten eine zentrale Rolle. Dass gegen Lebensende auch bei denjenigen, die Berufungsprozesse glücklich überstanden, leicht Pessimismus, Resignation und Vergeblichkeits-Anwallungen auftreten können, sei zum Abschluss wenigstens anhand eines Zitats belegt: Johannes Haller, der konservativ-nationale Historiker, meinte im Mai 1947, kurz vor seinem Tode im Dezember des gleichen Jahres, einem Freund folgende Bilanz anvertrauen zu müssen: „Die Rückschau auf meinen langen Lebensweg stimmt mich vollends herab. Lauter Anfänge, denen der Abschluss fehlt, nichts Ganzes, u. nirgends ein durchschlagender Erfolg! Die wissenschaftliche Richtung, für die ich gekämpft habe – mit Kritik u. eigenen Leistungen – ist nicht anerkannt, findet keine Fortsetzung, meine Figur ist u. bleibt die eines zu Paradoxien geneigten Outsiders, u. es kommt vor, dass die Studierenden vor mir gewarnt werden. Der ‚Kollege‘ von dem ich weiss, daß er das tut, soll jetzt auf das Katheder berufen werden, das bis vor 15 Jahren das meine war. Ich denke, das genügt, mir das Vergebliche meiner wissenschaftlichen Lebensarbeit zu bescheinigen“.Footnote 22

In summa: Die Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft ist im Aufbruch begriffen und soll es sein, auch wenn ihre Fragen und Befunde möglicherweise zum Abbruch etablierter Tabus und Vorstellungen führen. Worauf es dabei ankommt, zeichnet sich unverkennbar bereits ab. Die zu untersuchenden Historiker sind nicht mehr bevorzugt als mehr oder weniger geniale, individuelle Geistesheroen ohne wesentliche eigene Bedürfnisse und Interessen zu betrachten, sondern als nach Vernetzung, Entscheidungschance, Einfluss und Reputation je spezifisch positionierte soziale Akteure in ihren wechselnden, bis vor kurzem zunehmend verdichteten disziplinären (und außerdisziplinären) Konstellationen. Dieser Perspektivwechsel öffnet den Blick für alle diejenigen Bedingungen, die das Denken und Handeln strukturell wie situativ eigentlich bestimmen, und ermöglicht deren je spezifische Analyse: Motive, Lektüren, Rezeptionen, Interaktionen, Wahrnehmungen, Gepflogenheiten, Werte, Theorien, Erwartungen, Ideale, Interessen und so weiter. Die Bandbreite der wissenschaftsgeschichtlich wesentlichen (und legitimen) Themen erweitert sich dadurch erheblich. Gleichzeitig werden Quellenwahl und Quellenauswertung komplexer und schwieriger. Nur auf diese Weise lassen sich meines Erachtens jedoch erkenntnishemmende Grundstrukturen wie zum Beispiel Autoritätsgläubigkeit und -fügsamkeit, Innovationsabneigung oder überzogene Fachräson (Intransparenz und Zensur zwecks fachlicher Reputations- und Existenzsicherung) kritisch fassen und überwinden.

1 Besprochene Literatur

  • Duchhardt, Heinz: Abgebrochene Forschung. Zur Geschichte unvollendeter Wissenschaftsprojekte, 221 S., Mohr Siebeck, Tübingen 2020.