Von „Opfern“ zu reden und dies in der heute omnipräsenten Form im Sinne leidender Menschen, hat eine Geschichte. Svenja Goltermann führt sie als „Genealogie des passiven Kriegsopfers“ (S. 23) auf die Wende zum 19. Jahrhundert zurück und zeichnet die Voraussetzungen unseres „heute gängigen Opferverständnisses“ (S. 21) vor allem für den Bereich der modernen Kriege als keineswegs lineare Entwicklung nach. Sie betont dabei die Kategorie des Wissens, zunächst vor allem das Sammeln von Informationen über Soldaten im Krieg, die Professionalisierung medizinischer Erkenntnisse sowie den Aufbau von Infrastrukturen staatlicher Stellen und privater Hilfsorganisationen. Die von der Verfasserin ausgemachten „vier paradigmatischen Umbrüche“ der „Opferwahrnehmung“ seit 1800 (S. 24 f.) werden somit nicht anhand literarischer oder visueller Repräsentationen, sondern quellennah auf der Basis offizieller Berichte, medizinischer Dokumentationen und wissenschaftlicher Fachliteratur untersucht.

Den Beginn eines systematischen „Erfassens, Dokumentierens, Identifizierens“ verwundeter, toter und vermisster Soldaten um 1800 führt Goltermann auf kriegsökonomische, zivilrechtliche und medizinische, nicht – wie leicht anzunehmen wäre – auf moralische oder humanitäre Gründe zurück. Mit dem Übergang von Söldner- zu Volksheeren wuchs auf verschiedenen Seiten der Bedarf nach genaueren Informationen. Dieser verdichtete sich zwar im Krimkrieg, hatte aber längere Vorläufer bis in die Kolonien der Mitte des 18. Jahrhunderts und war zudem insgesamt ein „zäher Prozess“ (S. 40), der sich bis über den Ersten Weltkrieg hinaus erstreckte. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts korrespondierte die aus dem Erfassungswesen erwachsende Einführung von Identifizierungsmarken für Soldaten mit einem wachsenden Bedürfnis der Bevölkerung nach einer würdigen, individualisierbaren Grabstätte, die auch staatlicherseits 1914 „in Europa zur Norm“ werden sollte (S. 77).

Als zweiten Umbruch betrachtet Goltermann die ambivalenten Bestrebungen zur „Zivilisierung des Krieges“ und die damit einhergehende „Verschiebung hin zur Konzeption des unschuldigen zivilen Opfers“, letztere erneut ein mühevoller Prozess, der sich vom 19. bis weit ins 20. Jahrhundert ausdehnte. Das entsprechende Kapitel ist schwerpunktmäßig der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg gewidmet; die im Titel benannte Erstreckung bis 1977 kann nur angedeutet werden. Wie genau die kontroverse Diskussion der Mediziner über die Wirkungen der neuartigen Geschosse zur „Genealogie der Opferwahrnehmung“ beigetragen hat, wird nicht transparent genug, ebenso wenig der Zusammenhang mit den völkerrechtlichen Entwicklungen, die Goltermann skizziert. Fragen legitimer Kriegsgewalt wurden völkerrechtlich in dieser Phase fast ausschließlich für Soldaten und somit nicht für Zivilisten sowie koloniale Gewalträume reguliert. Allerdings zeigte sich spätestens um 1900 in der Öffentlichkeit eine „neue Sensibilität gegenüber dem Schicksal von Zivilisten“ (S. 108), die sich dann vor allem im Ersten Weltkrieg die Kriegsparteien zu eigen machten: Das Vorgehen gegen Frauen und Kinder wurde – auch aus kriegsökonomischen Gründen – zum Propagandathema, wobei der Rekurs auf Verletzungen des Völkerrechts, so Goltermann, zu dessen Diskursrelevanz maßgeblich beitrug. Auf den damit verbundenen Bedarf an beweiskräftigem Wissen, das bereits seit den 1870er Jahren vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes zusammengetragen wurde, reagierten die kriegführenden Staaten mit der Einberufung nationaler Kommissionen, die nicht nur umfängliche Dokumentationen erstellten, sondern auch wichtige Transmissionsriemen für den Begriff des „Opfers“ darstellten – eine Funktion, die durchaus noch genauer in Relation zu anderen Diskursakteuren herauszuarbeiten wäre.

Mit dem dritten Umbruch geht es Goltermann um den Zusammenhang von „geschädigten Körpern“, Entschädigungen und den Ausbau des Sozialstaats vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. Wie schwer sich die Staaten dennoch weiterhin mit einer moralischen Anerkennung des physischen und psychischen Leidens der „Kriegsbeschädigten“ taten, wie sie in Deutschland unter Verzicht auf den Begriff des „Opfers“ (auch von den Verbänden) genannt wurden, zeigt die Tatsache, dass nur für den „funktionellen Ausfall“ (S. 161) und zudem nach Dienstgraden gestaffelt Entschädigungsleistungen gezahlt wurden. Psychische Schäden fanden keine Berücksichtigung. Im Mittelpunkt stand die Reintegration in den Arbeitsmarkt. Trug dies insgesamt nicht zu einer stärkeren Akzentuierung des passiven Opferkonzepts bei, so waren es vor allem die Proteste von Kriegsbeschädigten und Kriegerwitwen bis hin zur Politisierung durch die Nationalsozialisten in den 1930er Jahren, die zwar kurzfristig eine heroisierende Semantik des nationalen Opfertums bekräftigten, mittelfristig aber einen Schritt zur Wahrnehmung des leidenden Menschen darstellten.

Dafür stellt der vierte Umbruch einen Schlüsselbaustein dar: die Etablierung des Konzepts des Traumas und damit verbundener Opferrechte nach 1945, insbesondere seit den 1970er Jahren. Erst jetzt, so Goltermann, treten die lange bestimmenden Vorbehalte gegenüber der Bezeichnung als „Opfer“ zugunsten einer Selbst- und Fremdzuschreibung im Sinne einer „attraktiven Subjektposition“ in den Hintergrund (S. 182). Allerdings überdauerte nicht nur das Konzept der „geborenen Opfer“ (Hans von Hentig) oder der „schuldigen Opfer“ (Beniamin Mendelsohn) im Bereich der „Viktimologie“ und darüber hinaus bis weit nach 1945, sondern auch Deutungen von KZ-Schädigungen als Folge einer vorgängigen Persönlichkeitsstörung. Erst die von Goltermann knapp angerissenen NGOs und Ansätze einzelner Psychiater im Gefolge des Vietnamkriegs führten zusammen mit der Diagnose der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ zur weitgehenden Trennung von Gewalteinwirkung und Persönlichkeit, mithin zu einer unkonditionierten Figur des Opfers. Auch hier wird – wie schon zumindest bei den beiden vorhergehenden Umbrüchen – sichtbar, dass fachliches oder staatliches Wissen und damit Opferkonzeptionen nicht ohne Kommunikationsprozesse in der Öffentlichkeit und die zunehmende Bedeutung zivilgesellschaftlicher Akteure gedacht werden können.

Wie von hier aus seit den 1980er Jahren die „Figur des Opfers“, wie Goltermann zu Recht konstatiert, zur „Chiffre für erlittenes Unrecht“ und zu einem „diskursiven Ausgangspunkt“ wurde, um Menschen- und Bürgerrechte einzufordern und zu verteidigen (S. 231), bedürfte einer genaueren Untersuchung, als dies im Rahmen des vorgelegten Buches möglich ist. Dies gilt auch für die vom dritten zum vierten Umbruch erkennbare Verschiebung von Europa zu einer westlichen beziehungsweise globalen Dimension des Themas, die womöglich in noch stärkerem Maße als zuvor durch massenmediale Effekte und den memory boom sowie damit einhergehende Wissenstransfers geprägt ist. Ohne die Etablierung der Erinnerung an den Holocaust vor allem seit den 1970er Jahren und anderer Genozide besonders seit den 1990er Jahren zu berücksichtigen, erschließt sich der fundamentale Wandel zur Figur des „passiven Opfers“ nicht vollständig. Goltermanns Fokus auf den Zusammenhang von Krieg, Wissen und Opferwahrnehmungen öffnet insofern die überaus gewinnbringende Perspektive, hinter eine vermeintliche Erfolgsgeschichte zu schauen und über eine reine Repräsentationsgeschichte hinauszugehen. Sie öffnet damit zugleich in einer sehr gelungenen und gut lesbaren Mischung aus empirischer Vertiefung und argumentativer Bündelung den Blick auf viele Scharnierstellen einer Historisierung des „Opfers“, die noch einer eingehenderen Erörterung bedürfen.