Am 8. Mai 1968 riefen fünf französische Nobelpreisträger, darunter der Biologe Jacques Monod, den französischen Präsidenten Charles de Gaulle dazu auf, sich für eine Beruhigung der Auseinandersetzungen zwischen Studentenbewegung und Staatsmacht einzusetzen und eine Amnestie für verurteilte Studierende zu erlassen. Monod, seit 1959 Professor an der Sorbonne, versuchte in den eskalierenden Mai-Protesten zunächst zwischen Protestierenden und Politik zu vermitteln, solidarisierte sich im Verlauf des Konflikts zunehmend mit den Protestierenden und wurde innerhalb weniger Tage zu einer weithin bekannten Figur intellektuellen politischen Engagements. Ganz anders als ausgerechnet der marxistische Philosoph Louis Althusser an der École normale supérieure (ENS), der als Erneuerer dialektisch-materialistischen Denkens für eine ganze Generation von Studierenden zur Ikone auf der Suche nach wissenschaftlicher Selbstreflexion und kritischer gesellschaftlicher Theorie geworden war. „Althusser nützt nichts“ prangten nun Graffitis an den heiligen Wänden der Sorbonne und brachten damit überdeutlich zum Ausdruck, wie die intellektuelle Gefolgschaft in politische Antipathie gegenüber einem nun als zu theoretisch und für die Praxis der Revolte als irrelevant wahrgenommenen Denken umgeschlagen war.

Die Begebenheiten rund um die Pariser 68er-Revolte und die Positionierung der politischen Intellektuellen Althusser und Monod finden sich in der Mitte des 360 Seiten starken, jederzeit tiefschürfenden, zugleich flüssig und mit Genuss zu lesenden Buches Erdurs über die Zeit der sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, jener auch titelgebenden „epistemologischen Jahre“, als die Epistemologie anstelle von Phänomenologie und Existenzialismus zum bestimmenden Bezugspunkt intellektuellen Denkens in Frankreich aufstieg. Zugleich markiert diese Episode einen Höhepunkt ihrer Politisierung und der zu dieser Zeit allgegenwärtigen Problematisierung des Verhältnisses von epistemologischer Praxis und politischem Engagement.

Verstehen kann man jene Ereignisse aus dem Mai 1968 und den damit verbundenen Konflikt zwischen dem Philosophen Althusser und dem Biologen Monod nur vor dem Hintergrund des engen Austauschs zwischen biologischem und philosophischem Denken in jenen Jahren – dem Thema, das Erdurs „epistemologische Jahre“ umfassend und erfolgreich durchmessen. In geradezu packender Weise und unter Hinzuziehung zahlreicher bislang unbekannter Quellen schildert der Autor in seiner philosophie-, kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen, an der Universität Zürich angefertigten Dissertation die bislang kaum thematisierten Erschütterungen und Folgewirkungen („choque de pensée“), welche der Aufstieg der Molekularbiologie auf und für das philosophisch-politische Denken in Frankreich hatte, vor allem auf die von Gaston Bachelard beeinflusste epistemologische Denktradition („epistemologische Schule von Paris“), aber auch darüber hinaus, beginnend mit Georges Canguilhem über Michel Foucault, Michel Serres, Gilles Deleuze, Jean Hyppolite, Michel de Certeau bis zu sozialwissenschaftlichen Theoretikern wie Edgar Morin, Claude Lévi-Strauss, Jean Braudillard, Bruno Latour und deren französisch-amerikanischen beziehungsweise intellektuellen Pariser Netzwerken. Dabei erschöpft sich diese „Rezeptionsgeschichte“ (Erdur) der Molekularbiologie nicht in der ideengeschichtlichen Darstellung, sondern verfolgt auf höchst lebendige Weise die Akteure, Aushandlungsprozesse, die Zirkulation von Ideen und Wissen, die dabei waltenden Motive und Interessen bis hin zur Rolle der französischen Medienöffentlichkeit immer auf der Spur der eigentlichen historischen, materiellen, soziokulturellen und epistemischen Träger von Ideen.

Ausgangspunkt der Darstellung ist nicht zufällig ein Ereignis, nämlich die Verleihung des Nobelpreises für Medizin und Physiologie im Jahr 1965 an François Jacob, Jacques Monod und André Lwoff, den seitdem bekanntesten französischen Repräsentanten der Molekularbiologie. Mit diesem Datum erreichte die sich in den Lebenswissenschaften vollziehende „wissenschaftliche Revolution“ die französische Öffentlichkeit. Die Begegnungen und Auseinandersetzungen zwischen den Molekularbiologen vom Institut Pasteur und den Pariser Philosophenkreisen stehen im Zentrum der weiteren Darstellung. Methodisch begründet, darstellerisch überzeugend, erzählerisch prägnant und höchst anregend spannt Erdur seine Geschichte anhand weiterer – häufig entsprechend bebilderter – Ereignisse auf, die nicht nur exemplarisch stehen, sondern selbst Zäsuren im Lauf der Geschichte darstellen: wie etwa eine Produktion des französischen Schulfernsehens, in der die Heroen der französischen Philosophie gemeinsam am Stehtisch diskutierten. Die chronologisch nach Etappen und Problemfeldern gegliederte Erzählung zeigt ausgehend von Bachelards Schule bildendem philosophischen Anspruch auf „totalisierende Zeitgenossenschaft mit den Wissenschaften“, wie die molekularbiologische Umwälzung in den Lebenswissenschaften eine epistemologische Erneuerung mit ungeheurer Ausstrahlungskraft über ihren engeren Rahmen hinaus einleitete, wie dies in die angesprochene Politisierung und auch zu einer fortgesetzten Historisierung der Epistemologie führte, beides unter aktiver Mitwirkung der Molekularbiologen Monod und Jacob, und wie dies alles auch in die Sozialwissenschaften hinwirkte, Tendenzen zur Biologisierung des Sozialen und Human Enhancement beförderte – die äußerst spannende Pointe zum Schluss des Buches – bis hin zu den Gründen, warum sich ab circa 1975 das Bezugssystem von Biologie und Philosophie wieder zu lösen begann und die Epistemologie an ihrer Ausstrahlungskraft verlor.

Mit den „epistemologischen Jahren“ zeigt Erdur, über die spezifische und umfassend dargestellte Geschichte der Begegnung von Biologie und Philosophie in Frankreich hinaus, wie Ideengeschichte methodisch anspruchsvoll Leben eingehaucht werden kann.