Anna Jehle widmet ihre Dissertationsschrift dem wichtigsten Radiosender Luxemburgs, dem Radio Télévision Luxembourg (RTL), das bereits in den 1930er Jahren als Radio Luxembourg gegründet wurde und bis Mitte der 1960er Jahre als Radio Luxembourg europaweit bekannt war. Durch seine transnationale Bedeutung war Radio Luxembourg bereits oft Untersuchungsgegenstand historischer Studien. Bisher konzentrierte sich die Forschung allerdings auf die Unternehmensgeschichte. Dagegen analysiert Jehle Radio Luxembourg in Frankreich zwischen 1945 und 1975 aus dem Blickwinkel des Wechselverhältnisses zwischen der Entwicklung des Radios und der Ausprägung der Konsumgesellschaft und schafft somit einen spannenden Beitrag zur Mediengeschichte, die dabei als Gesellschaftsgeschichte zu betrachten ist.

Der kommerzielle Erfolg Radio Luxembourgs fiel in die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Ausprägung einer Konsumgesellschaft in Europa. Die Konsumgüterindustrie nutzte zwar verschiedene Medien als Werbeträger, allerdings war der staatliche Rundfunk daran nicht beteiligt. Da das staatliche beziehungsweise öffentliche Rundfunksystem in Europa durch Steuern oder Gebühren finanziert wurde, durfte es keinen Profit erzielen. Auch Werbung war ihm daher untersagt. Dementsprechend wandte sich die Konsumgüterindustrie an Radio Luxembourg, das sich als privatkommerzieller Rundfunkanbieter großenteils durch Werbung finanzierte. Somit war das Radio auch, wie die Autorin schreibt, ein Sonderfall in Europa. Anders als in den meisten europäischen Ländern übertrug Luxemburg die exklusive Sendekonzession an das Medienunternehmen hinter Radio Luxembourg, die Compagnie Luxembourgeoise de Télédiffusion (CLT), und erhielt dadurch ein eigenes Rundfunksystem, ohne für Aufbau und Unterhaltung finanziell aufkommen zu müssen. Zwar verlor die Regierung infolgedessen weitestgehend ihre Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten, sie profitierte jedoch finanziell von den Unternehmensgewinnen. Die CLT konnte dadurch bereits in den 1930er Jahren eine Sendeanlage errichten, die das Radioprogramm weit über die Grenzen Luxemburgs in die Nachbarländer wie Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Belgien und in die Niederlanden ausstrahlte, wo man zahlungskräftige Werbekunden finden konnte. Voraussetzung dafür war allerdings, dass die Programmgestaltung nicht durch politisch festgesetzte Ziele wie beim öffentlichen Rundfunk, sondern durch die Erwartungen und den Geschmack des internationalen Publikums beeinflusst wurde.

Für Jehle stellt aber die Werbung nicht den einzigen Grund für den Erfolg Radio Luxembourgs dar. Vielmehr sieht sie den Sender gleichzeitig als Bestandteil, Katalysator und Agent des Massenkonsums, da er sich als privatkommerzielles Rundfunkunternehmen und Werbeträger im Rahmen der Privatwirtschaft und der Rundfunkpolitik bewegte, zugleich aber als Programmanbieter an der Formung sozio-kultureller Entwicklungen beteiligt war.

Demnach versucht Jehle mithilfe von Pressebeiträgen, Radioprogrammen und vor allem der Quellen aus den Beständen des Unternehmensarchivs der RTL Group in Luxemburg folgenden Fragen nachzugehen: Wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen dem Radiosender, Werbekunden und dem Publikum? Wie wirkte sich der Gesellschaftswandel auf die Medienproduktion aus? Welchen Einfluss hatten die rundfunkpolitischen Rahmenbedingungen auf die Aktivitäten des Senders? Welche Rolle spielte das Radioprogramm als Werbeträger? Dabei nimmt die Autorin in den systematisch geordneten Kapiteln das Radio im Kontext der medienpolitischen Konstituierung des Rundfunksystems in Luxemburg und in Frankreich (Kapitel 1), dessen Programmgeschichte und Programmangebot im Vergleich zu anderen bedeutenden Radiostationen (Kapitel 2 und 3), die Zielgruppensprachen (Kapitel 4) sowie Marketingaktionen (Kapitel 5) und Werbung (Kapitel 6) unter die Lupe.

Der Autorin gelingt es hervorragend, an konkreten Beispielen illustrativ zu zeigen, dass sich das Radioangebot den Marktbedürfnissen anpassen konnte und somit steten Veränderungen unterlag. Beispielsweise wurden von Anfang an vereinzelt zielgruppenspezifische Sendungen entwickelt. Diese gewannen insbesondere mit der Herausbildung der Konsumgesellschaft an Bedeutung. Ein spannendes Beispiel ist dabei die Entwicklung der Programmsendungen für Frauen, die zu den wichtigsten Konsumentinnen der im Radio beworbenen Produkte im Bereich Lebensmittel, Haushaltswaren, Produkte für Kinder, Herrenbekleidung oder Kosmetikprodukte gehörten. Da das Familienbild des Radios nach einer idealisierten französischen Mittelschichtsfamilie gestaltet war, hielt das Radio am eher klassischen Rollenbild der vom Mann abhängigen Hausfrau fest. Trotzdem versuchte das Radio dem gesellschaftlichen Modernisierungsanspruch nachzukommen. Als Beispiel kann hier die Ratgebersendung von Menie Grégoire dienen. Grégoire wandte sich vor allem an Hausfrauen, griff aber Diskussionen auf, die im Privaten und auf politischer Ebene um die Rolle der Frau geführt wurden. Dazu gehörten Themen wie Scheidung, Frau und Beruf, Feminismus, Frauenbewegung, alleinerziehende Mutter, Wiederheirat und ganz besonders Schwangerschaftsverhütung und Schwangerschaftsabbruch, die in den 1960ern bis Mitte der 1970er Jahre die Gesellschaft und insbesondere Frauen sehr beschäftigten. Diesen Bedürfnissen ging das Radio mit der Sendung nach.

Aber auch das Programmformat einer Ratgebersendung, vor allem eines psychologischen Ratgebers, gewann aus verschiedenen Gründen an Bedeutung: zum einen durch die Transistorisierung des Radios, durch die es zum Alltagsbegleiter wurde und als solcher auch auf die Stimmung der Zuhörer_innen, zum Beispiel wachsende Einsamkeit, antworten musste. Zum anderen hingen solche Erneuerungen in den Programmen mit dem Aufstieg des Fernsehens zusammen, zu welchem man konkurrenzfähige neue Formate finden musste. So wurden unter anderem sowohl das Fernsehen ergänzende Programme konzipiert, als auch das Radio verstärkt als Informations- und Servicelieferant vermarktet. Beispielsweise gab es Programme, die in Zeiten politischer Umbrüche die Lücke an politisch-ambitionierten Sendungen füllte, wie etwa während der Maiproteste 1968, um die steigende Nachfrage nach kritischen Sendungen zu befriedigen. Erstaunlich ist allerdings – wie die Autorin herausgefunden hat –, dass das Radio sich auch bei Nachrichten eher zurückhaltend zeigte und nicht unbedingt regierungskritisch war, weil seine Geschäfte stark von Privilegien des Staates abhingen. Die Konkurrenz mit anderen Sendern um bestimmte Zielgruppen beeinflusste wiederum die Radioprogramme, die ab Mitte der 1960er Jahre zum Beispiel an Jugendliche gerichtet waren. War die Jugend mit ihrer eigenen Kultur und Musikvorliebe eine wichtige Käufergruppe für die Konsumindustrie, versuchte das Radio ihren Geschmack zu treffen. Dabei gehörten zu den relevanten Marketingstrategien auch ein konstituierter Fanclub, Gewinnspiele, große Publikumsveranstaltungen, Rock- und Popkonzerte sowie eigene Publikationen wie Zeitschriften, Schallplatten und Bücher.

Insgesamt veranschaulicht Jehle mit ihrer Analyse, dass das Programm durch verschiedene marktorientierte Faktoren wie etwa politische Interessen, technische Entwicklungen, veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen oder Medienkonkurrenz beeinflusst wurde und mit diesen in einem Wechselverhältnis stand. Zudem reagierte das Radio auf politische, emotionale und soziale Bedürfnisse in der Gesellschaft und wurde dadurch zum Spiegel des gesellschaftlichen Wandels.