„Migration in Karten – Eine kritisch-kartographische Betrachtung“: unter diesem Titel gab Prof. Antonie Schmiz von der FU Berlin eine Keynote beim letzten Neujahrsempfang der DGfK. Die Reaktionen der Zuhörenden, zumeist aus der „Klassischen Kartographie“, waren interessant zu beobachten: Sie reichten von Unverständnis bis zu überraschter Zustimmung. Damit stellt sich die Frage: Wie weit liegen denn eigentlich „klassische“ und „kritische“ Kartographie auseinander?

Die Kritische Kartographie hat sich mehr oder weniger unabhängig in den Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelt. „Kritisch“ wird hierbei nicht verstanden als „Fehler in der Karte suchen“—Kernpunkt ist vielmehr das Hinterfragen des dominanten technischen Paradigmas der Kartographie und des Anspruchs, Karten als neutrale Abbilder der Wirklichkeit zu verstehen. Andererseits wird betont, dass Karten nicht nur reine Ausgabeprodukte, sondern auch Ausdruck und Produzenten von sozialen Machtverhältnissen sind.

Konkrete Beispiele für eine kritische Auseinandersetzung sind die Wahl einer Kartenabbildung (die bestimmte Weltbilder erzeugen können, vgl. die Diskussionen um die Peters-Projektion), die Anwendung einer Generalisierungsoperation (die zu einem „kartographischen Schweigen“ oder gar zur Manipulation durch Auslassung führen kann) oder auch die Wahl einer Datenklassifikations-Methode (die bestimmte Aussagen betonen oder auch unterdrücken kann). In der Kritischen Kartographie wird argumentiert, dass die tatsächliche Gestaltung durch gesellschaftliche Machtstrukturen wesentlich beeinflusst wird.

In der „Klassischen Kartographie“ wird üblicherweise darauf erwidert, es sei durchaus bekannt, dass die Grundprinzipien der Kartographie (Kommunikation, Modellierung, Kodierung) keineswegs zu einer exakten Abbildung der Wirklichkeit führen können—und damit ein „neutrales Abbild“ auch nicht realistisch ist. Folglich ist es auch nicht möglich, „gute“ und „schlechte“ Karten streng voneinander zu unterscheiden. Idealerweise gibt es einen „unkritischen“ Zweck (wie z. B. die Navigation), der mit einer passenden Gestaltung für möglichst viele Menschen effektiv und effizient erfüllt werden kann—dann ist der Begriff „gute Karte“ bestimmt angemessen. Man könnte auch sagen: „Gute“ Kartographinnen und Kartographen sind durch ihre Ausbildung und Erfahrung automatisch auch kritische Kartographinnen und Kartographen!

Woran es aber sicherlich mangelt, ist das Verständnis in der Öffentlichkeit—z. B. für die Problematik der Abbildung der gekrümmten Erdoberfläche in die Kartenebene. Was man dagegen tun könnte, damit sich keine falschen Vorstellungen eines Weltbildes manifestieren können, wurde in der klassischen Kartographie bisher allerdings noch zu wenig thematisiert.

Womit wir wieder bei der heiklen Peters-Projektion wären… Die Kritik aus der „Klassischen Kartographie“ bezüglich der Formverzerrungen und nicht exakten Flächentreue ist zweifelsohne angebracht. Gleichzeitig dient dieser Fall aber auch immer wieder als guter Aufhänger, das Thema in der Öffentlichkeit zu platzieren—und auf die Problematik der Kartenabbildungen hinzuweisen, zu informieren und zu sensibilisieren. Holger Kumke von der Sektion Bayern und ich durften genau das erleben, als wir vor einigen Wochen bei „MDR Wissen“ (siehe unten) zu Mercator, Peters und Co. interviewt wurden.

Auch wenn man dieses Thema in einem Editorial nicht umfassend behandeln kann, sei aber folgende, sehr plakative Zusammenfassung erlaubt: Die „Klassische Kartographie“ befasst sich (zumindest nach außen hin vornehmlich sichtbar) mehr mit dem, „wie“ Karten erzeugt werden, während die Kritische Kartographie mehr das „wer“ (im Hinblick auf Machtstrukturen und Einfluss) und „was“ (im Hinblick auf „kritische“ Themen) betont. Aus meiner Sicht ist das kein Konflikt, sondern bietet eher eine breitere Aufstellung der „einen“ Kartographie mit vielen Überlappungen an, die unbedingt gemeinsam und ohne Abgrenzungsgedanken gedacht und praktiziert werden sollte. Es wäre schön, wenn wir dies—über einzelnen Beiträge in den KN hinaus—z. B. im Rahmen eines Workshops, einer Kommission o. ä. in Zukunft auch umsetzen könnten.

Jochen Schiewe.

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Link zum o. g. MDR-Wissen-Interview: https://www.mdr.de/wissen/verzerrte-karten-wahre-groesse-immernoch-mercator-100.htmlhttps://www.mdr.de/wissen/verzerrte-karten-wahre-groesse-immernoch-mercator-100.html