FormalPara Originalpublikation

Wang Y, Xu Y, Zhou C et al (2024) Exome sequencing reveals genetic heterogeneity and clinically actionable findings in children with cerebral palsy. Nat Med. https://doi.org/10.1038/s41591-024-02912-z.

Unter Zerebralparesen wird eine Gruppe von Bewegungsstörungen mit frühem Manifestationsbeginn zusammengefasst, die auf unterschiedliche Störungen des sich entwickelnden Gehirns zurückzuführen sind. Mit einer statistischen Häufigkeit von etwa 1 in 500 lebend geborenen Kindern gehören Zerebralparesen zu den häufigsten Ursachen körperlicher Behinderung. Typische klinische Zeichen sind Spastik, Dystonie oder Ataxie. Das historische Verständnis der Erkrankungsgruppe basiert auf der Annahme einer sekundären Verursachung, etwa durch Sauerstoffmangel während der Geburt oder Kernikterus. Im Gegensatz dazu legen neuere Studien eine wichtige Rolle genetischer Faktoren bei der Entstehung nahe. Bisher wurde jedoch nur eine begrenzte Anzahl von Betroffenen mittels umfassender molekulargenetischer Analyse untersucht, und Erhebungen in großen Kohorten fehlten weitestgehend.

Eine Forschergruppe um Wang et al. studierte nun das Spektrum monogener Veränderungen, d. h. seltener genetischer Varianten mit hoher Effektstärke, in einer Population von 1578 Kindern mit Zerebralparese (vorwiegend spastische und dyskinetische Subtypen). Hierzu kamen systematische Sequenzierungen der Exome (d. h. der Gesamtheit der proteinkodierenden Abschnitte der DNA (Desoxyribonukleinsäure [DNS]) eines jeden Patienten) zum Einsatz, mit anschließender Suche nach seltenen, krankheitsverursachenden Varianten in bekannten Krankheitsgenen. Den Forschern gelang es, eine bedeutende genetische Lösequote von 24,5 % (387 von 1578 Indexfällen) aufzudecken. Die ursächlichen Genvarianten betrafen hierbei 219 unterschiedliche Gene, von denen nur 66 in mehr als einem Betroffenen verändert waren, was die erhebliche genetische Vielfältigkeit aufzeigt, die Erscheinungsbildern einer Zerebralparese zugrunde liegen kann. Die überwiegende Mehrzahl der identifizierten Varianten war in Genen zu finden, die für die Gehirnentwicklung verantwortlich sind und die bereits zuvor mit anderen neurologischen Entwicklungsstörungen wie Autismus oder Epilepsie in Verbindung gebracht worden waren. Dies legt einen pathophysiologischen Zusammenhang nahe. Von wesentlicher Bedeutung für die klinische Praxis ist die Beobachtung der Studie, dass die Aufklärungsrate durch Exomsequenzierung in der Untergruppe der betroffenen Kinder mit Verdacht auf peripartale Asphyxie besonders hoch war (30,3 %). Die Autoren vermuteten, dass entweder genetische Veränderungen die Suszeptibilität für Sauerstoffunterversorgung erhöhen könnten (z. B. im Sinne einer Unreife des Atemzentrums) oder aber die Kategorisierung hypoxischer Hirnschaden in einem Teil der Fälle eine Fehleinschätzung darstellen könnte. Bei derartigen Patienten mit Zerebralparese sollte die zugrunde liegende genetische Erkrankung dringend geklärt werden, da diese möglicherweise einer Behandlung zugänglich sein könnte: Wang et al. beschreiben für 8,5 % der gelösten Fälle die Möglichkeit eines gezielteren klinischen Managements auf Basis der Genveränderung. Schließlich stellen die Autoren heraus, dass breite Sequenzanalysen bei Zerebralparesen in unterschiedlichen Populationen weltweit durchgeführt werden sollten, um ein besseres Verständnis für deren genetische Architektur zu erlangen.

Kommentar

Die Ergebnisse der Studie sind bedeutsam, da sie umfassende Einblicke in das genetische Spektrum von Zerebralparesen gewähren und die Verdachtsdiagnose Bewegungsstörung bei hypoxischem Hirnschaden kritisch hinterfragen. Die Studie legt nahe, dass eine genetische Testung bei diagnostizierter Zerebralparese sinnvoll ist, jedoch sind weitere Untersuchungen notwendig, um die Indikation in Zukunft noch exakter zu definieren.