Eine deutschsprachige „MS brain health“-Gruppe mit ausgewählten Experten soll prüfen, ob sich internationale Empfehlungen mit der deutschen Behandlungsrealität harmonisieren lassen

In diesem Heft der DGNeurologie erscheint die Arbeit von Isabel Voigt und Tjalf Ziemssen zur „Qualitätsverbesserung in der klinischen Versorgung von Patienten mit multipler Sklerose“. Vor dem Hintergrund von Empfehlungen der internationalen „Brain Health Initiative“ und basierend auf den Ergebnissen einer internationalen Arbeitsgruppe von MS-Spezialisten (MS: multiple Sklerose) werden mögliche Maßnahmen zu einer Optimierung der Betreuung und der Behandlungsstrategien bei Patienten mit MS dargestellt. Im Fokus der Betrachtung stehen anstrebenswerte Zeitrahmen für einzelne Prozesse, die in folgende Gruppen geordnet wurden: Überweisung und Diagnose, Prioritäten nach der Diagnose, Monitoringroutine, Behandlungsentscheidungen und Umgang mit neuen Symptomen.

Inwieweit sich internationale Empfehlungen mit der deutschen Behandlungsrealität und den hierzulande vorhandenen Versorgungsstrukturen harmonisieren lassen, ist derzeit nicht zu beantworten – in diesem Zusammenhang soll eine deutschsprachige „MS brain health“-Gruppe mit ausgewählten MS-Experten etabliert werden.

Unstrittig ist, dass sich eine früh im Krankheitsverlauf begonnene Immuntherapie hemmend auf die Schubrate und die Progression der Erkrankung auswirkt. Deshalb sollte die Diagnose zeitnah gestellt werden, um eine immunmodulierende Therapie frühestmöglich beginnen zu können. Diesem Ziel stehen die heterogenen Versorgungsstrukturen in Deutschland oft entgegen. Daher sind wahrscheinlich weitreichende Strategieänderungen in der klinischen Realität notwendig, um die Fortschritte in Diagnostik und Therapie der MS flächendeckend in die Versorgungwirklichkeit umzusetzen. Dabei müssen sicherlich alle an der Versorgung und Behandlung von MS-Patienten beteiligten Professionen einbezogen werden, insbesondere auch die primären MS-Versorger. Die Betreuung von MS-Patienten wird sich zunehmend in die Ambulanz verlagern, sodass intelligente Netzwerkstrukturen – stationär, teilstationär, ambulant und rehabilitativ – gefragt sind. Auf der anderen Seite machen sowohl das oft erforderliche differenzierte Monitoring als auch das Erkennen der im Einzelnen ja sehr ernsten Nebenwirkungen und Folgeerkrankungen der Immunmodulation eine insbesondere auch interdisziplinäre Expertise erforderlich.

Die in der Arbeit formulierten erreichbaren Standards für die Überweisung und die Diagnose nach Erstsymptomen, die Gewährleistung einer ersten Vorstellung innerhalb von 10 Tagen beim Neurologen und der konsekutiv innerhalb von 2 Wochen erfolgenden Durchführung einer MRT (Magnetresonanztomographie) entsprechen sicher nicht der aktuellen Versorgungsrealität. Ob die Einrichtung von MS-Einheiten („MS unit“) geeignet ist, diese Ziele tatsächlich zu erreichen, erscheint ungewiss. Hier müssen Pilotstrukturen etabliert werden, um deren Nutzen zu objektivieren und in weiteren Schritten zu konsentieren.

Insgesamt sind die in der Arbeit formulierten 3 wesentlichen Empfehlungen zum Erhalt der neurologischen Reserve bzw. „brain health“ bei MS sinnvoll:

  • Verzögerungen bei Diagnose und Therapiebeginn bzw. -optimierung sollen vermieden werden.

  • Die Krankheitsaktivität soll detailliert und engmaschig kontrolliert werden, um „treat to a target“ als Therapiekonzept zu realisieren.

  • Es sollte eine belastbare wissenschaftliche Evidenz aus Daten der reellen Versorgungssituation („real world“) generiert werden, die zur Optimierung der personalisierten MS-Therapie benutzt werden kann.

Aus Sicht der DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie) sollten MS-Patienten möglichst von besonders erfahrenen Neurologen in gut vernetzten Strukturen mit interdisziplinärer Anbindung betreut werden – sektorenübergreifend und ohne bürokratische Begrenzungen. Grundsätzlich ist dabei der Ansatz einer standardisierten und überprüfbaren Versorgung und Behandlung von MS-Patienten sehr erstrebenswert, wobei die heterogenen Versorgungsstrukturen in Deutschland berücksichtigt werden müssen. In einem ersten Schritt sollten die bestehenden Strukturen harmonisiert werden – unter Beteiligung stationärer und ambulanter MS-Therapeuten, Rehabilitationseinrichtungen sowie der Kostenträger und der politischen Entscheidungsträger. Ob das Konzept der MS-Einheit dabei die richtige Option darstellt, muss wissenschaftlich evaluiert und begleitet werden.

Ihre

Jürgen H. Faiss

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Frank A. Hoffmann

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Peter Berlit

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