Angelika Bengel befasst sich in ihrer Studie mit der „Schulentwicklung Inklusion“ an einer ausgewählten Grundschule, an der sie die Einführung inklusiver Beschulung über zwei Jahre begleitet hat. Sie strebt an „nach den Bedingungen für einen Schulentwicklungsprozess hin zu einer Schule für Alle aus der Perspektive der Lehrenden zu forschen“ (S. 91, Hervorheb. i. O.). Inklusion stellt Lehrer*innen vor neue Anforderungen, wobei es um das „Zusammenspiel von persönlichen Veränderungserfahrungen auf der Mitgliederebene zu den sich verändernden Rahmenbedingungen der Einzelschule“ (S. 5) geht.

Das Buch umfasst 181 Seiten sowie ein Literaturverzeichnis. Es gliedert sich in acht Kapitel, d. h. in einen theoretischen Teil, in dem es um Fragen einer Schule für alle Kinder, um Organisationsentwicklung im Kontext von Inklusion sowie die entsprechende Forschung zu Schulentwicklung geht. Im empirischen Teil klärt die Autorin ihren methodischen Zugang, konkretisiert ihr Design und stellt ausführlich den konkreten Umgang der Lehrer*innen mit dem Veränderungsvorhaben vor. Die Arbeit wird durch eine Schlussbetrachtung sowie ein Resümee abgeschlossen. In formaler Hinsicht hätte dem Buch ein sorgfältigeres Lektorat gut getan.

Ausgehend von der Kritik an der schleppenden Umsetzung von Inklusion in der BRD stellt Angelika Bengel dar, dass Inklusion „nicht als sonderpädagogische Aufgabenstellung interpretiert werden“ (S. 12) kann. Sie thematisiert die normative Aufgeladenheit des Begriffs, jedoch auch die Zielvision einer Schule „für alle Kinder des Einzugsgebiets“, an der Heterogenität „positiv begegnet“ wird (S. 15). Die Entwicklung konkretisiert sich bzgl. der Ansprüche, die an alle Lehrer*innen gestellt werden. Gleichwohl wird zwischen Regelschul- und sonderpädagogischen Lehrkräften de facto oft eine kontraproduktive Differenz ihrer Expertisen, Haltungen und Zuständigkeiten konstruiert, die häufig hierarchisch dargestellt wird und ihren Ausdruck in der ungleichen Besoldung und teilweise auch in Stereotypen findet.

Schulentwicklung stellt einen komplexen Prozess dar, bei dem Programme und Ziele, Kommunikation und Personal miteinander verwoben und mit gesellschaftlichen Anforderungen und Widerständen konfrontiert sind (S. 36). Schulentwicklung Inklusion bedarf einer Thematisierung verschiedener Spannungsfelder hinsichtlich der divergierenden Funktionen von Schule sowie der ungeklärten und widersprüchlichen Verbindung von Grundschul- und Sonderpädagogik. Neben der „Sonderpädagogisierung der Inklusion“ und der angeblichen „Sonderpädagogik als Verliererin der Inklusion“ (nach Drieschner, Hervorheb. i. O., S. 51) müsste hier zwingend auch die „Sonderpädagogisierung der Grundschule“ (Götz et al. 2018) erwähnt und bearbeitet werden. Frau Bengel umgeht eine explizite Thematisierung dieser Diskussion, teilweise bleibt die Argumentation einer eher sonderpädagogischen Perspektive verhaftet, gleichwohl ist die wertschätzende Wahrnehmung aller Lehrkräfte, die sich um die Förderung der heterogenen Lerngruppen bemühen, der Arbeit deutlich anzumerken.

Frau Bengel stellt die Rollen von Lehrkräften im Schulentwicklungsprozess sowie Professionalisierungsmodelle komprimiert dar, gleichwohl sollten hier m. E. einzelne Behauptungen auch kritisch geprüft werden (wie z. B. eine Differenz von Regel- und Sonderpädagogen hinsichtlich Nähe und Distanz, S. 59). Sie zieht die „Erkenntnis, dass sich Organisationen nicht verändern können, wenn sich das Verhalten ihrer Mitglieder nicht wandelt, zum anderen wird ein individueller Wandel der Mitglieder erfolglos bleiben, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht mitentwickeln“ (S. 61) und dass „die Notwendigkeit eines gemeinsamen Schulentwicklungsprozesses betont werden“ (S. 62) müsse.

Der aktuelle Forschungsstand wird referiert (Kap. 3), wobei die vier Schwerpunkte Schulkultur, Leitung und Mitbestimmung, Struktur und Praktiken sowie Unterstützung durch Bildungspolitik und -verwaltung herausgearbeitet werden. Leider werden bezogen auf die Einstellungen von Lehrer*innen zur schulischen Inklusion relativ alte Studien herangezogen, die fast vollständig vor der Ratifizierung der UN-BRK erstellt wurden. Am Ende des Kapitels formuliert Frau Bengel ihre Hypothesen (S. 75–76), die anschließend empirisch überprüft werden.

Die Kap. 4 und 5 beinhalten eine transparente Darstellung und Begründung der Grounded Theory Methode sowie des gewählten Designs. Die Beschränkung „auf eine einzige Schule im inklusiven Schulentwicklungsprozess“, ermöglicht „die Perspektive von Lehrer*innen, die in einem Team zusammenarbeiten, darzustellen und Aussagen über dieses kleine System zu treffen“ (S. 89). Das Datenmaterial umfasst Dokumentenanalysen, Fotografie-Interviews sowie Gruppendiskussionen, die mit insgesamt 20 Lehrer*innen in zwei Gruppen (jeweils fünf Regel- und Förderschullehrkräfte) in vier aufeinanderfolgenden Schulhalbjahren (2012/13–2014/15) erstellt wurden. Insofern sind Grenzen bezüglich der Forschungsarbeit selbstverständlich und werden von Frau Bengel entsprechend reflektiert, der Zugewinn liegt jedoch in der Möglichkeit, diesen „Mikroorganismus einer einzigen Schule“ (S. 89) detailliert beschreiben zu können.

Im Kap. 6 finden sich die zentralen Themen, die unter den Kategorien Rahmenbedingungen (Beteiligung, Unterrichtsvorbereitung, Zuständigkeiten), Kompetenzen (Umgang mit heterogenen Lerngruppen, Wissen, Arbeit mit Eltern) und Unterrichtsbedingungen (Unterrichtsgestaltung, Leistung, Lehrer*innen-Schüler*innen Beziehung) systematisiert werden (S. 107 ff.). Die Ober- und Unterthemen der Kategorien können an dieser Stelle leider nicht sämtlich wiedergegeben werden. Die geführten Diskussionen sowie die Positionierungen und Argumentationen bilden m. E. jedoch fast den kompletten Inklusionsdiskurs im Konkreten ab.

Besonders interessant ist die heterogene Positionierung innerhalb des Kollegiums, die sich in der Kategorie „Einschätzung des Vorhabens“ zwischen Zweifeln und Visionen, in der Kategorie „Umsetzungspraxis im Unterricht“ zwischen Bewahren und Neuausrichten und in der Kategorie „Strategien“ zwischen Abwarten und Vorantreiben (S. 131) abbildet. Dabei verlaufen die Professionsgrenzen in sämtlichen Kategorien quer, d. h. es finden sich sowohl bei den Grundschul- als auch den Förderschullehrkräften jeweils unterstützende als auch ablehnende Positionen bzw. Standpunkte dazwischen. Dieses Ergebnis ist professionstheoretisch für mich zentral. Zudem können die verschiedenen Positionen auch nicht auf die Ausstattung mit Ressourcen zurückgeführt werden, da die „Kontrastgruppe ‚Bewahren‘ durchgehend mehr doppelt besetzte Unterrichtseinheiten im Vergleich zur Kontrastgruppe ‚Neuausrichten‘ hat“ (S. 153). Dieses Argument darf keinesfalls als simple pro-Kopf-Logik oder als Plädoyer gegen Doppelbesetzungen missverstanden werden, zeigt aber, dass die Kompetenzen und Haltungen der Lehrkräfte, ihre individuelle Arbeitsbelastung und Innovationsbereitschaft sowie das jeweilige Team die Umsetzung vor Ort und die Perspektive darauf beeinflussen, mehr als abgezählte Stunden und die Reduzierung der Vielfalt der Kinder auf ihre Anzahl und die Frage eines vermeintlichen sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF).

Insofern zeigen sich am Mikrokosmos dieser Schule die relevanten Fragen: Die Zwei-Gruppen-Theorie, d. h. die Trennung in Kinder mit und ohne SPF, in Lehrkräfte, denen die Zuständigkeit und Expertise für Kinder mit SPF zu- oder abgesprochen wird sowie deren Professionalisierung. Das Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma, das für die steigende Zahl der Kinder mit dem Label SPF mit verantwortlich ist. Die Kooperation, konkrete Unterrichtsgestaltung und Umsetzung von Differenzierung mit individualisierter Didaktik. Die tradierte Leistungsbewertung, die der Vielfalt der Kinder und ihren individuellen Entwicklungen nicht gerecht werden kann.

Abschließend arbeitet Frau Bengel vier zentrale Aspekte heraus:

„Die Interpretation durch die Lehrer*innen“ (S. 161 f.): „… dass es unter dem Dach einer einzigen Schule Promotoren und Hemmnisse auf der Seite der Organisation Schule, jedoch auch auf der Seite der Mitglieder gibt.“ (S. 163).

„Die Schulorganisation als Hemmschuh“ (S. 168 f.): „Für den Schulentwicklungsauftrag an das Kollegium ließ sich ein Doublebind herausstellen: Veränderung ja – aber unter den bestehenden Strukturen“ (S. 171).

„Eine veränderte Schüler*innenschaft als Ausgangspunkt“ (S. 171 f.): Die Lehrkräfte handeln zwischen den Polen der Einteilung in zuvor bestimmte Gruppen vs. einer De-Kategorisierung sowie Unterricht (mit Vereinfachungen) im Gleichschritt vs. einer neuen Didaktik. „Ein Zusammenhang zwischen einer Verwendung oder Ablehnung von Etikettierungen und einer Arbeit im Lehrer*innenteam oder Zuständigkeit nach Berufshintergrund kann nicht herausgearbeitet werden“ (S. 175).

„Professionalisierung als Strategie“: Die Anforderungsbearbeitung variiert zwischen aktiver Suche und persönlicher Weiterbildung vs. der Delegation von Aufgaben und dem Festhalten an gewohnten Abläufen, davon erschwert, dass der Schulorganisation verbindliche Strukturen fehlen. „Die Professionalisierung der Lehrer*innen für den inklusiven Unterricht lässt sich daher als Privataufgabe (…) darstellen.“ (S. 177).

Abschließend limitiert Frau Bengel die Aussagekraft ihrer Studie, trotzdem ist dieser detaillierte Einblick in eine Schule, an der sich neben der Heterogenität der Schüler*innen eben auch die Gruppe der Lehrkräfte als heterogen präsentiert, gewinnbringend zu lesen, da sich so „eine vielschichtige und teilweise widersprüchliche Realität eines Schulentwicklungsprozesses abbilden“ lässt (S. 178).

Insofern möchte ich die Lektüre des Buches allen jenen empfehlen, die sich für schulische Inklusion interessieren. Es zeigt fast sämtliche Diskurse in der konkreten Umsetzung, was für Studierende, Lehrkräfte und Wissenschaftler*innen beider Disziplinen – der Grundschulpädagogik und der Sonderpädagogik – höchst informativ ist. Die individuellen Perspektiven der Akteur*innen in der Praxis, die von Frau Bengel sorgfältig herausarbeitet werden, sind eindrucksvoll, sind sie es doch schließlich, die sich in der widersprüchlichen Realität verorten und Inklusion in einem System umsetzen sollen, das nach wie vor auf Selektion ausgerichtet ist. Das Buch ist ein Plädoyer für eine reflexive Professionalisierung für inklusives und kooperatives Arbeiten in der Schule. Dass dafür noch viel zu tun ist, wird klar ersichtlich. Gerade die Grundschulpädagogik sollte sich hier jedoch positionieren und ihr professionelles Selbstverständnis behaupten. Deshalb möchte ich abschließend die Grundschullehrkraft zitieren, die formuliert: dann „kann man (…) auch diesen alten grundschulpädagogischen Satz ‚Das Kind da abholen, wo es steht‘ endlich auch tatsächlich machen“ (S. 133).