Die Grundschule, die, je nach Gründungsdatum im Jahr 2019 oder 2020 ihren 100. Geburtstag begehen konnte, wird seit ihrer Gründung als erste und gemeinsame Schule tradiert und ist in ihrer äußeren Struktur relativ unangetastet geblieben. Gegründet als Schule für alle Kinder des deutschen Volkes unabhängig von Geschlecht und sozialer Herkunft, hat sie damals zwar nicht alle Reformideen aufgreifen können, dennoch kann sie bis heute in ihrer Ausrichtung als demokratiegemäß verstanden werden. War zur Zeit ihrer Gründung die Idee der Grundschule als „Schule für alle“ nur an Heterogenitätsdimensionen wie soziale Herkunft und Geschlecht gekoppelt, womit etwa Kinder mit Behinderung bewusst ausgeschlossen blieben, so beziehen diese Dimensionen von Verschiedenheit heute in einem erweiterten Verständnis ebenfalls die behinderungsspezifische wie auch die migrationsspezifische Heterogenität mit ein.

Das vorliegende Buch von Johannes Jung, das insgesamt 148 Seiten umfasst, eröffnet eine neue konzeptionelle Reihe, die mit dem programmatischen Titel Grundschule heute darauf verweist, dass es im Zuge der vielfältigen gesellschaftlichen Herausforderungen und Veränderungen der letzten Jahre notwendig erscheint, neu über das Selbstverständnis und die Aufgaben der Grundschule nachzudenken.

Der Anlass für eine solche Reihe liegt in der Tatsache begründet, dass sich die Grundschule verändert hat und eine (neue) Positionierung im Hinblick auf gesellschaftliche und theoretische Prämissen und Veränderungsprozesse als notwendig erachtet wird. Diese Reflexion schließt dabei insbesondere auch an Überlegungen einer (fehlenden) Theorie der Grundschule respektive Grundschulpädagogik an, wie sie von Ludwig Duncker (2007), Friederike Heinzel (2011) oder Heike Deckert-Peaceman und Anja Seifert (2013) in den letzten Jahren formuliert wurden.

Im ersten Teil des Eröffnungsbandes der neuen Reihe aus dem Kohlhammer-Verlag, die von Sanna Pohlmann-Rother und Sarah Lange herausgegeben wird, wird hier mit Bezug auf den Titel Die Grundschule neu bestimmen und den Untertitel Eine praktische Theorie der Frage nachgegangen, welchen bildungstheoretischen Bezugspunkt die Grundschule (weiterhin) haben kann, mit dem sich diese – unabhängig von rein administrativen Zuweisungen von Jahrgangsstufen und einer Einteilung in Schuljahre – als spezifische Schulart beschreiben lässt. Nach einer historisch-systematischen Rückversicherung, in welcher gesellschaftlichen Umbruchzeit die Gründung vor hundert Jahren stattgefunden hat, stellt Johanes Jung im Eingangsteil der Arbeit dezidiert dar, dass sich in der Grundschule der Gegenwart durch einen Zuwachs an Kindern aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte, den zunehmenden Ausbau der Grundschule von einer Halbtags- zu einer Ganztagsschule sowie durch die Idee der curricularen Anschlussfähigkeit von Elementar- und Primarbereich sowohl die Grundschule als auch die Arbeit der Grundschullehrer/innen verändert haben. Die Aufgaben der Lehrer/innen sowie die bildungspolitischen und gesellschaftlichen Erwartungen an die Grundschule haben sich in den Jahrzehnten stetig erweitert und werden im weiteren Verlauf des Buches eingehend auch mit den „Schlagworten Sozialpädagogisierung, Inklusion und Ganztagsbetreuung“ (S. 133) umrissen.

Veränderungsprozesse lassen sich mit Johannes Jung ebenfalls für den Bereich der Grundschulforschung konstatieren. So hat sich auch hier in den letzten Jahrzehnten eine Veränderung ergeben, indem sich Zugänge und methodische wie methodologische Zugangsweisen vergrößert und ausdifferenziert haben. Damit einhergehend ist die Frage nach einer gemeinsamen disziplinären, aber auch institutionellen sowie professionellen Identität – sowohl der Grundschullehrer/innen als auch der grundschulpädagogischen Forscher/innen – zu stellen. Die leitenden Vorstellungen der Grundschule, sowohl eine Brückeninstitution zwischen dem Elementar- und Primarbereich sowie zwischen dem Primar- und dem Sekundarbereich darzustellen als auch eine eigenständige Vermittlungsinstitution und ein Ort der grundlegenden Bildung, werden konsequent im zweiten Kapitel des Buches analytisch und kritisch-reflexiv befragt. Johannes Jung beschreibt hier dediziert in sechs Ausprägungen Leitbilder der Grundschule: 1. als verbindende Brücke/Vermittlungsort, 2. als Ort der Vorbereitung auf die weiterführende Schule, 3. als Ort erster Beschulung, 4. als Ort gemeinsamer Beschulung, 5. als Ort kindegemäßer Beschulung und 6. als Ort grundlegender Beschulung. Mit Blick auf diese Leitbilder will die vorliegende Arbeit von Johannes Jung die Frage beantworten, wie sich das komplexe Verhältnis von Bildungs- und Lernprozessen in der Grundschule sowie der Zusammenhang zwischen Bildung und kompetenzorientiertem Lernen für die Gegenwart beschreiben lässt. Jung verweist hier auf die auch bei der Kompetenzorientierung zentrale Aufgabe einer zu begründenden „Auswahl bildungswirksamer und tragfähiger Inhalte“ und gibt dabei eindeutig dem „unschärferen Begriff der Bildung gegenüber dem neutralen Terminus des Lernens“ (S. 63) den Vorrang.

Gerade weil der historisch gewachsene und tradierte Begriff der grundlegenden Bildung in der Grundschule bis in die Gegenwart vielfach zitiert wird, bleibt im anschließenden dritten Kapitel zu bestimmen, was er eigentlich umfasst, wenn er mehr sein will als eine Mindestbildung oder Grundbildung. In Tiefe und Breite gelingt es Johannes Jung, die Idee einer grundlegenden Bildung in der Grundschule aufzufächern, indem von Klassikern wie Kant, Rousseau und Humboldt bis hin zur Ressonanzpädagogik eines Hartmut Rosa ein weiter Bogen gespannt wird, um komplex zu beantworten, wie Bildung verstanden werden kann und wie diese auf das und im Subjekt sowie in der Wechselwirkung zwischen diesem und der Welt(erschließung) wirkt. Hier liegt die eigentliche Stärke des vorliegenden Bandes. Es geht ihm weniger darum, die Grundschule neu zu bestimmen, als den Bildungsbergriff der Grundschule zu befragen bzw. zu hinterfragen. Ausfühlich werden im Hinblick auf eine (grundlegende) Bildung in der Grundschule die unterschiedlichen Möglichkeiten oder „Dimensionen der Weltbegegnung“ dargestellt, die mehr als eine reine Addition verschiedener Perspektiven oder Dimensionen darstellen: die historische Dimension, gesellschaftlich-soziale Dimension, sprachliche Dimension, mathematische Dimension, sportlich-körperliche Dimension, naturwissenschaftlich-technische Dimension, ästhetisch-expressive Dimension und religiös-konstitutive Dimension. Jung verweist in seinem Verständnis von Weltbegegnungsmodi darauf, dass sich die Idee einer grundlegenden Bildung auf den Aspekt der Transformation, der Veränderung bezieht, „(e)s handelt sich also um Modalitäten des Handelns in der Welt, die viel grundsätzlicher zu verstehen sind als die von Fächern oder Disziplinen vorgezeichneten Methoden und Spielarten des Umgangs.“ (S. 103) Die so skizzierten Modi der Weltbegegnung, die mehr als die Summe ihrer Einzelteile sind, ähneln in ihrer konzeptionellen Ausrichtung dem Ansatz der Vielperspektivität der Sachunterrichtsdidaktik als „Herzstück“ der Grundschuldidaktik, die sich ebenfalls auf ein bildungstheoretisches Verständnis der Transformation als Veränderungsprozesse bezieht. Nicht zufällig sind in diesem Eröffnungsband an dieser Stelle Beispiele aus dem sogenannten Anfangsunterricht und aus dem Sachunterricht gewählt, um die Komplexität des Bildungsbegriffes zu erläutern. Deutlich wird auf den Auftrag der Bildung auch als „Haltungs- und Charakterbildung“ verwiesen und es werden Dilemmata des Grundschulunterrichts benannt. So ist sich die Grundschule auf der Theorieebene „dieses Dilemmas zwischen klaren, reproduzierbaren Fakten und eindeutigen zufriedenstellenden Antworten auf der einen Seite und problemsichtigem Weiterfragen und hoher Reflektiertheit auf der anderen Seite wohl auch bewusst.“ (S. 117) Die theoretische Abhandlung zum Bildungsbegriff und seiner Relevanz für die Grundschule und Grundschulpädagogik wird nicht nur historisch und problemorientiert angelegt, sie weiß auch durch interessante Anmerkungen in Form von Fußnoten und Exkursen weitere wichtige Aspekte zu benennen. Interessante Zitate von Kant zur Aufklärung oder von Austin zur Sprechakttheorie zeigen auf, dass der Bildungsbegriff der „praktischen Theorie“, wie sie im Titel angekündigt wird, hier interdisziplinär gefasst ist und unterschiedliche Diskurse einschließt.

Das Anliegen einer „Zusammenstellung und Auflistung der skizzierten Dimensionen und Modi“ als „Richtungen und Gangarten der Welterschließung“ (S. 127) ist hierbei gleichermaßen interessant für Studierende wie für Lehrkräfte in der Schulpraxis. Die Intention des Buches wird im Schlusskapitel explizit vom Autor formuliert: „Die Konzentration auf Grundlegende Bildung (sollte, Einf.) eine Hilfe für die Kolleginnen und Kollegen in der Praxis bedeuten, damit sie sich nicht in Kleinigkeiten, Nebenaufgaben und Sekundärfunktionen aufreiben.“ (S. 135) Die Publikation beabsichtigt, „Lehrkräften hier einen professionellen Spielraum für ihre Entscheidungen aufzuzeigen, um mit den vielfältigen Forderungen souveräner umgehen zu können.“ (S. 136) Ein Mehrwert liegt hier darin, dass die Frage nach den Bildungszielen und dem eigenen Bildungsverständnis als Lehrer/in nicht als beliebig gesehen werden kann, sondern als Fundament didaktischen Denkens und Handelns eine entlastende und leitende Funktion hat: „Grundlegende Bildung wäre dann der bewusste Umgang mit der Tatsache, dass von ganz konkretem Lernen zu immer abstrakt-symbolischer Repräsentation fortgeschritten wird.“ (S. 138).

Dem vorliegenden Band gelingt es insgesamt, in kurzweiliger und verständlicher Form die Geschichte der Grundschule und ihrer Auseinandersetzung mit der Idee einer grundlegenden Bildung zu skizzieren und hierbei interdisziplinär ältere und neuere Diskurse miteinander zu verbinden.