Die konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), zu der sich Deutschland seit dem Jahr 2009 verpflichtete, bedeutet in letzter Konsequenz, dass jedes Kind das Recht auf gemeinsamen inklusiven Unterricht hat. Der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Förderbedarfe wird bildungspolitisch induziert, was jedoch in Deutschland von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich umgesetzt wird. Es entstand ein „Flickenteppich“ der Umsetzung der UN-BRK, in dem weiterhin mehrere pädagogische Ansätze im inklusiven Setting und im exklusiven Setting nebeneinander bestehen.

Trotz aller Schwierigkeiten diese Aufgabe umzusetzen, haben sich mittlerweile einige Schulen und Lehrkräfte auf den Weg gemacht, um einen gemeinsamen inklusiven Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen zu realisieren.

Vor allem die Umsetzung in inklusiven Settings bedeutet, dass es insbesondere die Lehrkräfte betreffende notwendige Veränderungen braucht.

Über eine wichtige „Konstante der Veränderung“ ist man sich national und international einig: Es kommt bei der gelingenden Umsetzung auf eine gute Kooperation zwischen Regelschullehrkräften und Sonderpädagogen_innen an.

Die Dissertation von Phillip Neumann „Kooperation selbst bestimmt? Interdisziplinäre Kooperation und Zielkonflikte in inklusiven Grundschulen und Förderschulen“ beschäftigt sich vorrangig mit interdisziplinärer Kooperation zwischen Lehrkräften und Sonderpädagog_innen in inklusiven Grundschulen und intradisziplinäre Kooperation von Sonderpädagog_innen in Förderschulen für den Förderschwerpunkt Lernen.

Die Arbeit ist stringent aufgebaut und in 9 Kapitel gegliedert: Theoretische Grundlagen (Kap. 2–5), Forschungsfragen, Methodik und Ergebnisse der empirischen Untersuchung (Kap. 6–8) sowie Zusammenfassung/Fazit (Kap. 9).

Der erste Teil des Buches ist grundlagentheoretisch ausgerichtet und bietet den Leser_innen in seiner Gesamtschau eine hervorragende Quelle bisheriger Theorien und Erkenntnisse.

Der Autor nennt verschiedene Kooperationsmodi (Austausch, Zusammenarbeit, Ko-Konstruktion), die er durch Befragungen aus den Daten der Bielefelder Längsschnittstudie zum Lernen in inklusiven und exklusiven Förderarrangements (BiLieF) generieren konnte. Dabei geht er differenziert vor.

Als ein immer noch berufsstrukturelles Hemmnis für Kooperation wird international das Autonomie-Paritäts-Muster (nach Lortie 1972, 1975) gesehen, nach dem Lehrpersonen für ihre berufliche Tätigkeit besonders ihre Autonomie reklamieren und Eingriffe von Außenstehenden (auch Kolleg_innen) eher zurückweisen. Gerade vor dem bereits geschilderten Hintergrund der Bedeutung wachsender interdisziplinärer Kooperation mit den damit verbundenen Herausforderungen, wird in Phillip Neumanns Arbeit das Autonomie-Paritäts-Muster auf einen empirischen Prüfstand gestellt. Ergänzt man die systemisch-konstruktivistische Betrachtungsweise auf die Lehrpersonen, kann dieses Muster „aufgeweicht“ werden, indem das auf der Individualebene liegende Empfinden der eigenen Grenzen der Vorstellung von Kooperation und Autonomie entspringt. Phillip Neumann ergänzt die Betrachtung mit Hilfe des Musters um diese individuelle Komponente, nämlich um die Frage, ob Lehrkräfte sich in ihrer Autonomie eingeschränkt fühlen, wenn sie häufigere und intensivere Formen von Kooperation eingehen. Der Autor greift dabei auf die Selbstbestimmungstheorie nach Deci/Ryan zurück und adaptiert sie auch auf die Kooperation von Lehrkräften und Sonderpädagog_innen. Er vermutet zu Recht, dass kooperatives Handeln auch als selbstbestimmt wahrgenommen werden kann, wenn dies einen Teil des professionellen Selbstverständnisses (im Sinne des Berufsethos) darstellt. Schließlich fügt der Autor noch mit den „endemischen Unsicherheiten“, die er nicht unbedacht lassen möchte, einen ergänzenden Aspekt des Autonomie-Paritätsmusters an; nach Lorties Theoriemodell war die Ursache der ablehnenden Haltung der Lehrkräfte gegenüber Kooperation (so die theoretische Annahme) in den inhärenten Herausforderungen und Widersprüchen des Systems Schule zu finden. Deswegen ergänzt der Autor auch die Kategorien der Antinomien, die produktiv zur gesamten Deutung beitragen sollen. Phillip Neumann erweitert die Betrachtungen um das Rollenverständnis und Überlegungen zum Berufsethos von Lehrkräften und Sonderpädagog_innen, die historisch nachgezeichnet und reflektiert werden (z. B. die Sonderpädagogik als die Pädagogik, die eher Defizite der Schüler_innen in den Blick nimmt).

Bisherige Forschungen verwenden vorrangig Methoden der qualitativ-empirischen Sozialforschung und konnten wichtige Erkenntnisse für Gelingensbedingungen, Herausforderungen oder notwendige Strukturmerkmale für die interdisziplinäre Kooperation gewinnen. Diese sollten auch durch quantitative Untersuchungen zur Kooperation, wie diese, ergänzt werden – die Häufigkeit und Art näher betrachten.

Für die empirische Untersuchung von Phillip Neumann standen insgesamt 217 Lehrkräfte/Sonderpädagog_innen zur Verfügung. Der Autor verwendet vor allem drei Teilstichproben, die er durch die BiLieF-Studie generieren konnten und untersucht mittels eines streng empirischen Vorgehens, inwiefern sich Art und Ausmaß der Kooperation zwischen Lehrkräften in inklusiven und exklusiven Settings unterscheiden. Dazu formuliert er verschiedene Ausgangshypothesen zu Kooperation gekoppelt mit den Kriterien aus der Selbstbestimmungstheorie: dem Kompetenz- und Autonomieerleben sowie der sozialen Eingebundenheit. Die Erweiterung der Fragestellungen mit systemisch-konstruktivistischem Blick und der Kombination mit der Selbstbestimmungstheorie können im Nachhinein als vielversprechend eingeschätzt werden.

Seine vorher gefassten Hypothesen werden dann 1. an Grundschullehrkräften in inklusiven Settings (n = 104), 2. an Sonderpädagog_innen in inklusiven Settings (n = 41) und 3. an Sonderpädagog_innen an Förderschulen (n = 72) untersucht.

Er untersucht zudem, ob es Unterschiede im Maß der wahrgenommenen Zielkonflikte und Antinomien in den Teilstichproben gibt. Der Autor leitet Messmodelle durch eine explorative Faktorenanalyse ab, was er anschließend mittels konfirmativer Faktorenanalyse prüft. Das entstandene 2‑Faktorenmodell verwendet er dann, um mittels ANOVA (Analysis of Variance) zu prüfen, ob sich das Kooperationsverhalten zwischen den drei Teilstichproben unterscheidet.

Seine Ergebnisse liefern wichtige Hinweise für das Verständnis und die Verbesserung der interdisziplinären Kooperation zwischen Lehrkräften und Sonderpädagog_innen in inklusiven Settings. Auch die anschließenden Zusammenfassungen und Deutungen des Autors sind überzeugend: Sonderpädagog_innen an Förderschulen kooperieren seltener mit Kolleg_innen in Bezug auf Unterrichtsinhalte als die Lehrkräfte und Sonderpädagog_innen in inklusiven Grundschulen, wobei in der Kommunikation über den Unterricht bezüglich der Häufigkeit kein signifikanter Unterschied besteht. Dies lässt vermuten, dass gerade in inklusiven Settings eine stärkere Zusammenarbeit stattfinden kann, was jedoch keine Aussagen über deren Qualität zulässt. Auch die empfundene Wichtigkeit der Kooperation ist bei Lehrkräften und Sonderpädagog_innen an inklusiven Grundschulen am größten. Befunde, die das Autonomie-Paritätsmuster vollumfänglich bestätigt hätten, z. B. dass die Häufigkeit der Kooperation Einfluss auf das Autonomie- oder Kompetenzerleben hätte, konnten jedoch nicht gefunden werden. Vermutlich ist die Vorstellung von Kooperation mittlerweile bereits Teil des professionellen Selbstverständnisses der Lehrkräfte.

Werden Kooperationszeiten für Lehrkräfte ins Deputat miteingeplant, findet mehr Kooperation sowie Kommunikation über Unterricht statt. Antinomien wurden in allen Teilstichproben nur selten festgestellt. An dieser Stelle wären weitergehende Untersuchungen notwendig. Die Befunde zeigen auch, dass Sonderpädagog_innen, die in inklusiven Settings mit der Kooperation beginnen, mit Zielkonflikten bzw. widersprüchlichen Anforderungen (im Sinne von Antinomien) konfrontiert sind, hier also gerade zu Anfang Unterstützungsbedarf benötigen würden.

Im letzten Abschnitt der Arbeit (Zusammenfassung und Diskussion) werden Desiderata für weitere Forschungsarbeiten zu interdisziplinärer Kooperation formuliert. Zum Einen wäre eine inhaltliche Klärung zu den veränderten Rahmenbedingungen wichtig, die auf die Kooperationsstrukturen und Teamstrukturen im Laufe der Zeit sowie mit Berücksichtigung zunehmender Erfahrung einwirken können. Zum Anderen, so der Autor, mangele es an Studien mit längsschnittlichen Forschungsdesigns, die Prozesse der Teamentwicklung unter unterschiedlichen Bedingungen abbilden können. Auch die in der Arbeit aufgeworfenen Zweifel des Autors an der Aktualität des Autonomie-Paritäts-Musters konnten durch die vorliegenden Untersuchungen bestätigt werden.

Insgesamt leistet die Arbeit von Phillip Neumann aufgrund der Erkenntnisse bei der interdisziplinären Kooperation in inklusiven Settings einen Beitrag für eine gelingende Umsetzung der Inklusion.