Das Philosophieren mit Kindern hat sich seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland zunehmend im Elementar- und Primarbereich verbreitet und ist in einigen Bundesländern inzwischen in den Kanon der Grundschulfächer aufgenommen worden. Auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur gibt es eine wachsende Zahl von Publikationen, die in das Philosophieren mit Kindern einführen oder Arbeits- und Impulsmaterialien für philosophische Gespräche anbieten. Dennoch gibt es hierzulande – im Gegensatz zum anglophonen Sprachraum – bislang noch wenig (empirische) Forschung zum Philosophieren mit Kindern. Erst in den letzten Jahren sind verschiedene Studien veröffentlicht worden, die das Ziel verfolgen, kognitive, sprachliche oder soziale Entwicklungsprozesse bei den Kindern zu untersuchen, Wirkungen des Philosophierens auf das Professionsverständnis von Lehrkräften oder die Relevanz des Philosophierens im Hinblick auf persönlichkeitsrelevante Bildungsprozesse zu begründen.

Die Untersuchung von Benjamin Benthaus stellt einen weiteren Baustein in dieser Reihe von Studien dar. Sie verfolgt den Anspruch, vor dem Hintergrund kritischer Positionen zum bestehenden Schul- und Bildungssystem und der Forderung nach einer Rückbesinnung auf Bildung als einem gehaltvollen philosophischen Konzept jenseits von Bildungsstandards und Kompetenzbeschreibungen, die Bedeutung philosophischer Bildung von Kindern im Grundschulalter sowohl theoretisch als auch empirisch zu fundieren. Dabei stehen die didaktischen Potentiale dialektischen Philosophierens als einem „methodischen (Nach‑)Denken des Subjekts in und anhand von Gegensätzen“ im Mittelpunkt, die nach Meinung von Benthaus für das Philosophieren in der Grundschule noch zu wenig Beachtung finden und so gut wie nicht erforscht sind.

Dass in den didaktischen Diskursen zum Philosophieren mit Kindern nur ein einseitiges Verständnis von Dialektik zum Tragen komme, indem Dialektik ausschließlich als „positive Gesprächsdialektik“ (S. 30) verstanden werde, in der der Widerspruch grundsätzlich durch eine Synthese zu überwinden und eine auf Konsens ausgerichtete Lösung anzustreben sei, ist in dieser pauschalen Form allerdings eine nicht haltbare Behauptung. Denn es ist keineswegs der Fall, dass in den kinderphilosophischen Konzeptionen die Überwindung von Antinomien und Gegensätzen eine allgemeine Zielsetzung darstellt.

Im theoretischen Teil der Arbeit steht das Bemühen im Vordergrund, die Bedeutung dialektischen Denkens als Bestandteil kinderphilosophischer Bildung zu fundieren. Hierzu wird zunächst ausführlich auf die Geschichte des Philosophierens mit Kindern eingegangen und es werden verschiedener kinderphilosophische Konzepte vorgestellt. Kritisch anzumerken ist hier, dass die internationale Perspektive – sieht man von den Klassikern Lipman und Matthews ab – nahezu vollständig ausgeblendet wird. Die internationale Kinderphilosph*innenszene der Post-Lipman/Matthews-Ära zeichnet sich durch eine große Vielfalt von Ansätzen aus, deren Rezeption für die angestrebte Systematisierung verschiedener Konzepte sicherlich gewinnbringend gewesen wäre. Im Folgenden beleuchtet Benthaus das Feld der Dialektik und setzt sich im Rahmen einer Begriffsanalyse intensiv mit dem Dialektikbegriff auseinander, um dann aufzuzeigen, dass Dialektik und dialektisches Denken in der Pädagogik, in Lehrplänen, in der Philosophiedidaktik, in der Entwicklungspsychologie und in der empirischen Forschung zum Philosophieren mit Kindern bisher kaum Beachtung gefunden hat. Hier setzt seine eigene empirische Studie an, die darauf abzielt, konkrete Einblicke in das mögliche Spektrum dialektischer Denkbewegungen von Grundschulindern zu erhalten.

Im empirischen Teil der Arbeit geht es konkret um die Frage, welche frühen dialektischen Denkbewegungen sich in den verbalen Äußerungen von Schülern einer dritten Jahrgangstufe beim Philosophieren zeigen. Hierzu wurden die Äußerungen von 20 Grundschulkindern einer dritten Jahrgangsstufe in insgesamt fünf Doppelstunden, in denen zu unterschiedlich konzipierten dialektischen Spannungsfeldern philosophiert wurde, erfasst und auf der Basis einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet und kategorisiert. Im Rahmen der Analyse arbeitet Benthaus zehn verschiedene Kategorien „früher dialektischer Denkbewegungen“ heraus, die vom „Bilateralen Zweifeln“ über das „Konstruieren von Gegensätzen“ bis hin zum „Kontextualisieren von Gegensätzen“ reichen und in weitere Unterkategorien ausdifferenziert sind. Ein wichtiges Ergebnis der sehr sorgfältigen und in den Verfahrensschritten durchgängig transparenten Studie ist, dass Ansätze eines dialektischen Denkens sich schon viel früher zeigen, als bisher von der Entwicklungspsychologie angenommen. Dies bestätigt erneut die früheren Befunde der Entwicklungspsychologin Elfriede Billmann-Mahecha, dass das philosophische Gespräch eine besonders ertragreiche Methode ist, um Denkprozesse und Denkinhalte von Kindern zu erforschen, und die gegenüber herkömmlichen Methoden der Entwicklungspsychologie zu anderen und durchaus neuen Erkenntnissen führt.

Die Befunde von Benjamin Benthaus sind eindrucksvoll und werfen erneut ein Schlaglicht auf das schon seit langer Zeit von Kinderphilosoph*innen formulierte Problem, dass das Denken von Kindern im Allgemeinen unterschätzt und Kinder daher in der Schule häufig kognitiv unterfordert werden. Seine Folgerungen für die Schulpraxis sind bedenkenswert, allerdings ist die Vorstellung, Dialektik oder „dialektische Kompetenzen“ selbst als einen Bildungsstandard von Grundschule zu formulieren, durchaus mit einem Fragezeichen zu versehen. Kritisch anzufragen wäre, ob man hier nicht tendenziell in die Fahrwasser einer didaktische Verplanung, vielleicht sogar Instrumentalisierung des Philosophierens mit Kindern gerät, die – auf den Schleichwegen der Dialektik – dann möglicherweise genau das befördert, was zu bekämpfen sie angetreten ist. Eine systematische, standardisierte Förderung des (dialektischen) Denkens steht jedenfalls im Spannungsfeld zu all jenen kinderphilosophischen Ansätzen im In- und Ausland, die das Kind mit seinen Gesprächsinteressen und eigenen, vielfältigen philosophischen Denkbewegungen in den Mittelpunkt stellen und gegenüber einer wie auch immer gearteten Didaktisierung philosophischer Gespräche mit Kindern eher zurückhaltend sind. Aber wie die Arbeit zeigt, ist das Denken in Gegensätzen besonders fruchtbar und kann zur Belebung der Diskurse beitragen. Insgesamt liegt hier eine beeindruckende, theoretisch anspruchsvolle und fundierte Studie vor, die Besonderheiten und Ausdrucksformen dialektischen Denkens umfangreich aufgearbeitet und dessen Bedeutung für die Theorie und Praxis des Philosophierens mit Kindern aufgezeigt hat.

Was an der vorliegenden Studie angesichts des hohen theoretischen Anspruchs zum Erstaunen gereicht, ist die mangelnde gendersensible Sprachverwendung, denn es wird in altertümlicher Manier und jenseits der Erkenntnisse feministischer Sprachkritik „aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung und der besseren Lesbarkeit“ durchgängig die männliche Form verwendet, mit dem beruhigenden Hinweis, dass aber „die weibliche Form […] dabei stets mitbedacht“ sei. Ob dies eine weitere Spielart dialektischen Denkens ist, mögen die Leser*innen entscheiden.