Internationale Schulaustausche bergen großes Potenzial, Sprachenlernen zu ermöglichen, zu intensivieren. Im Sekundarbereich ist der grenzüberschreitende Austausch ein fester Bestandteil und eng mit dem Fremdsprachenunterricht verbunden. Hier bieten Schulpartnerschaften verlässliche Strukturen, um internationale Begegnungen zu verstetigen. Grundschulpartnerschaften sind indes selten. Kurzfristige Begegnungen für Grundschulen in Grenzbereichen werden zwar gepflegt, insbesondere dann, wenn die Sprache des Nachbarlandes als erste Fremdsprache an der Grundschule eingeführt ist. Mehrtägige Besuche sind jedoch mit hohem administrativem Aufwand verbunden. Noch seltener finden Begegnungen zwischen Grundschulen statt, die nicht die jeweils erste Fremdsprache der Kooperationsschule sprechen. Ermöglicht ein solcher grenzüberschreitender Austausch dennoch Lernerfahrungen? Was lernen Kinder bei diesen Begegnungen, wenn nicht Fremdsprachen und landeskundliche Inhalte im Vordergrund stehen? Kann es Kindern gelingen ihre „Sprachlosigkeit“ zu überwinden oder sind sie auf Übersetzungsleistungen Erwachsener angewiesen? Eröffnen internationale Austausche im Grundschulbereich Lernchancen für interkulturelles, informelles Lernen? Auf diese handlungsleitenden Forschungsfragen hält der Sammelband aufschlussreiche Antworten bereit. Die Publikation macht es sich zur Aufgabe, die vielfältigen (Lern‑)Erfahrungen von Grundschulkindern und Lehrkräften beim grenzüberschreitenden Austausch zu dokumentieren und hinsichtlich der forschungsrelevanten Fragen zu analysieren. Dabei werden dem Leser gewinnbringende Innenansichten des Forschungsprojekts „Interkulturelles informelles Lernen von Kindern – eine vergleichende Grundschulstudie in Frankreich und Deutschland“ ermöglicht. Das vom Deutsch-Französischen Jugendwerk geförderte Projekt stellt den internationalen grenzüberschreitenden Schul- bzw. Klassenaustausch von Grundschulen ins Zentrum. Jeweils fünf Schulen in Frankreich und Deutschland, die sich in Größe, Profil, Region und Schulaustauscherfahrungen unterscheiden, nahmen am Projekt teil. Herausragend an der Rahmung des Forschungsprojektes ist der bewusste Verzicht auf die Sprachenkenntnisse der Schüler*innen. An allen Schulen wurde Englisch und nicht Französisch als erste Fremdsprache angeboten. Die damit einhergehenden Sprachhürden waren intendiert, denn Ziel des Projektes war nicht das Fremdsprachenlernen der Grundschüler*innen, vielmehr Aspekte informellen Lernens im interkulturellen Setting herauszuarbeiten. Das Forschungsinteresse galt den Veränderungsprozessen, die durch die Auseinandersetzung mit ähnlichen und differenten Gegebenheiten auftreten und die Sicht auf die Individuen, ihre Beziehungen aber auch auf Unterricht und Schule beeinflussen. Um Erkenntnisse über Kommunikationsformen, Verständigungsprozesse und Interaktionen zwischen den Kindern bzw. zwischen Kindern und Erwachsenen gewinnen zu können, videographierten deutsche und französische Forscher*innen interkulturelle und informelle Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven. Mithilfe von Interviews wurden deren Erfahrungen und Erlebnisse dokumentiert. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts werden von 12 Autor*innen in 16 Beiträgen vorgestellt. In einem einführenden Beitrag skizzieren die Herausgeber Marianne Krüger-Potratz und Bernd Wagner den Entstehungskontext des Forschungsprojekts, das Forschungsinteresse und die grundlegenden Zielsetzungen. Die Ergebnisse sind in vier Kapitel gegliedert.

Das erste Kapitel beschreibt die Voraussetzungen und Kontexte des binationalen Forschungsprojekts. Marianne Krüger-Potratz verortet das Forschungsprojekt aufschlussreich im Fachdiskurs der Bildungsmobilität und macht anhand aktueller Entwicklungen Kontinuitäten und Diskontinuitäten sichtbar. Die Ausführungen lassen Bildungsmobilität als interdisziplinäres Thema begreifbar werden. Die Darstellung des Forschungsstandes zum Jugend- und Schüleraustausch zeigt dabei die disziplinäre Breite bisheriger Forschungen. Es ist der besondere Verdienst der Autorin, die Geschichte des Schüleraustauschs im Rahmen öffentlicher Bildung und die Sonderstellung der Grundschule darzustellen. Aussagekräftig verdeutlicht der Text, wie wertvolle interkulturelle Lernräume durch internationale Austausche entstehen können. Die Autorin expliziert die Thematik gleichermaßen kritisch und mahnt, dass die Institution Schule prinzipiell auf „Sesshaftigkeit“ ausgerichtet sei und deshalb hierfür eine entsprechende Rahmengestaltung benötigt. Die Konstruktion des Forschungsfeldes nimmt sowohl Hürden, in Form von institutionellen Widerständen, als auch Unterstützungsangebote in den Blick, die den Austausch begleiteten. Besonders hervorzuheben ist, dass die Autor*innen nicht darauf verzichten, zentrale Begriffe zu definieren. Grundlegend und umfassend klären Verónique Fortun-Carillat und Philippe Sarremejane, welches Verständnis die Forscher*innen zugrunde legen, wenn sie von informellem Lernen im interkulturellen Kontext sprechen. Forschungsrelevant wird dabei die Frage nach dem epistemologischen Wert des Terminus, da informelles Lernen polysemisch und konzeptionell unscharf ist und einer Klärung bedarf. Die Autoren begründen eine operationale Definition des Konzepts, indem sie das Gegensatzpaar formal/informell näher betrachten. Dabei arbeiten sie schlüssig heraus, dass Informelles im formalen, normativen und institutionellen Lernen präsent ist. Um dies erkennen und rekonstruieren zu können, wird den Forscher*innen eine subversive Einstellung abverlangt, da gewohnte institutionelle Orientierungspunkte wegbrechen. Die Ausführungen erhellen den basalen Zusammenhang zwischen Interaktion, Lernen und Sinnkonstruktion.

Das zweite Kapitel stellt methodologische Fragen zur Datenerhebung und Auswertung in den Fokus. Der Videodatenkorpus wird dargestellt und ausgewählte Filmsequenzen interpretiert, die interkulturelle Kooperation in ihrer Vielfalt abbilden. Der videoethnographische Zugang lässt die Interaktionen dabei aus zweierlei Perspektiven sichtbar werden, aus Sicht der deutschen und der französischen Forscher*innen. Leitfadengestützte Interviews und teilnehmende Beobachtungen dienen der Explikation und ergänzen die Videographien in geeigneter Form.

Das dritte Kapitel stellt in acht Beiträgen Ergebnisse vor, die durch die Verknüpfung von interkulturellen und informellen Lernprozessen entstehen. Die Beiträge strukturieren die Thematik anhand zentraler Themenschwerpunkte und bieten sowohl theoretische als auch praxisnahe Zugänge. Interkulturelle Erfahrungen werden als Übergangserfahrungen begreifbar. Dem Leser erschließt sich, wie sich ein intermediärer Raum konstituiert, wenn gewohnte Bezugssysteme verlassen werden. Christiane Montadon rekonstruiert anhand der Datenbestände Übergangserfahrungen und macht daran eindrucksvoll deutlich, inwiefern die informelle Dimension für Kreativität und Aktivitäten genutzt wird. Kinder gestalten konstruktiv ihre jeweiligen Lernprozesse mit, die in Handlungspraxen in interkulturellen und informellen Begegnungssituationen sichtbar gemacht werden. Dies gelingt Bernd Wagner in seinem Beitrag „Interkulturelle Sachlernprozesse – Beobachtungen im Kontext deutsch-französischer Schüleraustausche mit Grundschulklassen“ besonders eindrücklich. Anhand von Kommunikation über Alltagsobjekte in Wartesituationen zeigt Wagner auf bemerkenswerte Weise, dass Kinder in der Lage sind, kommunikative Krisensituationen aktiv zu bearbeiten. Er dokumentiert transparent, wie Kinder interkulturelle Kommunikation gestalten, ohne dass sie davon ausgehen, sprachlich verstanden zu werden. Dabei arbeitet der Autor unmissverständlich heraus, dass die Ebene der Performanz in informellen, interkulturellen Kontaktsituationen an Relevanz gewinnt. Die Interaktionen verlaufen über Alltagsobjekte und werden aus dem Bedürfnis nach Kommunikation und Bewegung in interaktive Spiele und mimetische Kommunikationsformen überführt.

Binationale Begegnungen unterstreichen und konkretisieren die Relevanz des Körpers in der kommunikativen Dynamik durch die Inszenierung eines choreographischen Raumes. Valérie Melin expliziert die Konstitution eines interkulturellen Körpers, der einerseits durch Begegnungen hervorgerufen wird, andererseits Situationen für Lernprozesse schafft. Spiel und Körperlichkeit nehmen dabei eine Schlüsselrolle ein. Interaktionen befördern die Konstruktion einer sozialen Bühne für gegenseitige Anerkennung. Weitere Beiträge konkretisieren aufschlussreich den Zusammenhang von Sport, Bewegung und Wettbewerb und analysieren körperliche Ausdrucksformen, die in informellen Momenten des Austausches entstehen. Die Auswertungen liefern wertvolle Erkenntnisse, inwiefern sportliche Aktivitäten informelles Lernen instrumentell, beziehungsspezifisch und symbolisch befördern.

Die facettenreichen Ergebnisse des Forschungsprojekts sind nicht nur aufschlussreich für die zugrunde gelegten Forschungsfragen, sie lassen sich vielmehr nachhaltig für Reflexionsprozesse nutzen. Das vierte Kapitel gibt wertvolle Anregungen, wie aus den gewonnenen Forschungsdaten eine Lehrerfortbildung zum Thema „mobile Schule“ konzipiert werden kann. Angeleitete und spontane Aktivitäten der Schüler*innen in informellen Begegnungen verdeutlichen, wie ein gemeinsames Verständnis von Bildungsmobilität entwickelt werden kann.

Die Publikation erhellt ein bemerkenswertes Forschungsprojekt, das in zahlreichen Facetten informelle und interkulturelle Bildungsprozesse einfängt und rekonstruiert. Die Beiträge analysieren und exemplifizieren eindrücklich, wie Kinder Begegnungssituationen und Herausforderungen meistern, unterschiedliche Strategien und Wege nutzen, um Sprachbarrieren zu umgehen. Die videoethnographische Studie überzeugt in besonderem Maße durch die Ergebnisse und ermutigt zu grenzüberschreitenden Austauschen – auch oder gerade in Grundschulen, die nicht die erlernte Fremdsprache der Kooperationsschule sprechen. Ein äußerst gelungener Sammelband, der weit über die Austauschthematik hinaus, Antworten auf pädagogische Fragestellungen liefert, die im Kontext von Interkulturalität stehen. Die Ergebnisse ermutigen, die unterschiedlichen „Sprachen“ der Kinder, im Sinne von nicht sprachlicher Verständigungskompetenz, Ausdrucksmöglichkeiten und Kommunikationskreativität, zu berücksichtigen, sie konstruktiv zu nutzen, nicht nur in informellen Settings, sie vielmehr konsequent für Schule und Unterricht mitzudenken.