1 Einleitung

Ein immer wiederkehrender Befund mathematikdidaktischer Forschung besteht in der Heterogenität der Vorgehensweisen von Grundschulkindern im Mathematikunterricht (u. a. Deutscher 2015; Söbbeke 2005). Kinder nutzen z. B. unterschiedliche Lösungswege für Aufgaben und interpretieren mathematische Strukturen etwa in Anschauungsmittel hinein (Wittmann 2003). Ein individuell präferierte Vorgehens- und Deutungsweisen ermöglichender Fachunterricht scheint vor dem Hintergrund dieser Forschungserkenntnisse eine zentrale Herausforderung zu sein – einer Herausforderung, der laut der 2016 veröffentlichten bildungspolitischen Initiativen und Maßnahmen durch den Einsatz digitaler Medien zielführend begegnet werden könne. So heißt es in den KMK-Standards „Bildung in der digitalen Welt“: „Gerade die zunehmende Heterogenität von Lerngruppen, auch im Hinblick auf die inklusive Bildung, macht es erforderlich, individualisierte Lernarrangements zu entwickeln und verfügbar zu machen. Digitale Lernumgebungen können hier die notwendigen Freiräume schaffen.“ (KMK 2016, S. 13).

Das erklärte Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, auf der Basis bildungstheoretischer und fachdidaktischer Orientierungen bezüglich eines „guten Mathematikunterrichts“ in der Grundschule die Möglichkeiten digitaler Medien hinsichtlich des Umgangs mit Heterogenität von Vorgehensweisen herauszustellen. Hierfür werden in der theoretischen Rahmung zunächst Merkmale guten Mathematikunterrichts vor dem Hintergrund heterogener Lerngruppen sowie zentrale fachdidaktische Potentiale digitaler Medien beschrieben. Darauf aufbauend werden Erkenntnisse einer qualitativen Interviewstudie (vgl. Walter 2018) dargelegt, die dem übergeordneten Forschungsinteresse nachging, wie Grundschulkinder diese fachdidaktischen Potentiale nutzen. In unserem Beitrag fokussieren wir die Nutzungs- und Denkweisen von Kindern bei der Verwendung des in der Grundschule wohlbekannten physischen Zwanzigerfeldes sowie der virtuellen Entsprechung.

2 Mathematiklernen in der Grundschule

2.1 Funktionen und Inhalte des Mathematikunterrichts in der Grundschule

Die Frage danach, was mathematische Bildung ausmacht, wird gesellschaftlich sowie wissenschaftlich diskutiert und ist demgemäß im stetigen Wandel (Käpnick 2014). Eine Vielzahl an Unterrichtsvorschlägen und Einführungswerken zum Grundschulmathematikunterricht ist im Laufe der letzten Jahrzehnte publiziert worden (z. B. Baum und Wielpütz 2003; Krauthausen 2018; Radatz und Schipper 1983; Wittmann und Müller 1995). Analysiert man die fachdidaktische Literatur, so soll Mathematikunterricht in der Grundschule im Wesentlichen zwei Hauptfunktionen erfüllen: zum einen im Zusammenwirken mit anderen Fächern einen Beitrag zur Entwicklung der kindlichen Gesamtpersönlichkeit leisten und zum anderen mathematische Grundlagen inklusive den Erwerb typischer Denk- und Arbeitsweisen schaffen (s. insbesondere Käpnick 2014). Diese Funktionen gehen weit über den Erwerb von bloßen Rechenfähigkeiten hinaus; neben einer Orientierung an mathematischen Leitideen und ihrer Vernetzung zählen zu typischen Denk- und Arbeitsweisen etwa das Entdecken, Beschreiben und Begründen. In den Bildungsstandards für den Primarbereich findet sich dies anhand der inhalts- und prozessbezogenen Kompetenzbereiche wieder, deren Erwerb ein Kernziel des Mathematikunterrichts darstellt (vgl. KMK 2005).

Die Bildungsstandards für das Fach Mathematik sind inhaltlich wenig umstritten, bilden sie doch Ideen ab, die in der deutschsprachigen Mathematikdidaktik bereits früh diskutiert und teilweise implementiert waren (vgl. Krauthausen 2018; Selter 2017). Ihnen kommt eine wichtige Orientierungsfunktion bzgl. der Inhalte des Grundschulmathematikunterrichtes zu. Gleichwohl ist die Kompetenzorientierung und damit die veränderte Aufgaben- und Unterrichtskultur Thema kritischer Auseinandersetzung (Wittmann 2015). Gefahren werden insbesondere in der einseitigen Betonung einer Anwendungsorientierung zu Ungunsten der Strukturorientierung sowie einer Ausrichtung der Unterrichtsinhalte auf kurzfristige, messbare Lernziele gesehen. Daher verstehen wir die Bildungsstandards als Hilfe, die vorgesehen Inhalte des Mathematikunterrichts zu verdeutlichen.

2.2 Heterogenität der Vorgehensweisen im Mathematikunterricht

Heterogenität ist in der Schulpädagogik ein häufig genutzter Begriff, der selbst Gegenstand von Forschung und Kritik geworden ist (Budde 2012). Trotzdem wird die Bedeutung unterschiedlich gefasst. „Etymologisch lässt sich Heterogenität aus dem Altgriechischen herleiten und bedeutet Verschiedenheit (heteros) in Bezug auf Klasse oder Art (genos)“ (Prammer-Semmler 2016, S. 91). Schulklassen werden als heterogen und damit als unterschiedlich in Bezug auf eine Eigenschaft bezeichnet. Es braucht demgemäß ein Bezugsmerkmal, wie z. B. Leistung. Das Bezugsmerkmal ist in der Regel eine gesellschaftliche Norm (Walgenbach 2017). Unabhängig davon, ob Verschiedenheit wertend vorliegt oder nicht, steht fest: Heterogenität kann nur im Verhältnis zur Homogenität existieren (Sturm 2016). Für Walgenbach (2017) bewegt sich das Diskursfeld in evaluativen, deskriptiven, ungleichheitskritischen und didaktischen Dimensionen.

Bezüglich dieser Dimensionen lässt sich für die Mathematikdidaktik der Grundschule konstatieren, dass Heterogenität in erster Linie deskriptiv und didaktisch verhandelt wird: Unterschiede werden beschrieben und Konzepte für den Unterricht ausgearbeitet. Zwar existieren auch ungleichheitskritische Beiträge (Bohlmann 2016), diese sind allerdings deutlich seltener vertreten. Obwohl die Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler unterschiedlich sind, durchaus früh in der deutschsprachigen Mathematikdidaktik aufgegriffen wurde (Lorenz 1992), wird der Begriff Heterogenität (bis heute) zurückhaltender verwendet. So stehen der hohen Zahl schulpädagogischer Monographien und Sammelbände nur wenige mathematikdidaktische Werke gegenüber, die Heterogenität im Titel tragen (vgl. Dexel et al. 2018).

Sieht man von der Begriffsbezeichnung ab und fasst die Vielfalt von Schülerinnen und Schüler allgemeiner als Gegenstand deutschsprachiger mathematikdidaktischer Überlegungen auf, ist seit den 1990er Jahren verstärkte Aufmerksamkeit zu verzeichnen. Empirische. Aktuellere Forschungsarbeiten beziehen sich auf vielfältige Heterogenitätsdimensionen und ihre Verknüpfung, z. B. Geschlecht und Begabung (Benölken 2017). Darüber hinaus betreffen zahlreiche Studien die individuellen Ausprägungen bei Wahrnehmungs- und Vorstellungsprozessen von Schülerinnen und Schülern hinsichtlich mathematischer Darstellungen und Anschauungsmittel (z. B. Lorenz 1992; Rottmann und Schipper 2002; Deutscher 2015). Mit Krauthausen (2018, S. 310) sind Anschauungsmittel als „Arbeitsmittel oder Darstellungen mathematischer Ideen in der Hand der Lernenden zu sehen, als Werkzeuge ihres eigenen Mathematiktreibens“. Beispiele hierfür sind in den oben aufgeführten Studien u. a. das Zwanziger- bzw. Hunderterfeld, Wendeplättchen sowie der Zahlenstrahl. Der Einsatz von Anschauungsmitteln hat das Ziel, tragfähige mentale Vorstellungsbilder zu konstruieren, mit denen gedanklich operiert werden kann. Häufig bilden sie eine Brücke zwischen den verschiedenen Darstellungsebenen mathematischer Sachverhalte (enaktiv-ikonisch-symbolisch; vgl. Bruner 1974). Sie sind damit unverzichtbar für das Mathematiklernen, zumal ein mathematischer Begriff erst dann als verstanden gilt, wenn er auf verschiedenen Darstellungen gedeutet werden kann und eine gegebene Darstellung in eine beliebige andere überführt werden kann (vgl. Duval 2006). Die empirischen Untersuchungen (vgl. Deutscher 2015; Lorenz 1992; Söbbeke 2005) zeigen jedoch, dass die Kinder die wohlbekannten Anschauungsmittel mitunter anders als erwartet bzw. intendiert nutzen. Diese haben somit keine eindeutige Bedeutung, die stets automatisch von Lernenden erkannt und genutzt wird.

Relevant für den Unterricht erscheint es demgemäß, dass Grundschulkinder sehr unterschiedliche Zugangs- und Deutungsweisen zeigen, mit denen die Lehrkraft umgehen muss. Es stellt sich die Frage, wie die Lehrkraft es schaffen kann, unterschiedliche Vorgehensweisen zu einer Aktivität konstruktiv zusammenzuführen. Darüber hinaus ist es notwendig zu wissen, welche Materialien überhaupt unterschiedliche Vorgehensweisen ermöglichen.

2.3 Digitale Medien als mögliche Lösung für den Umgang mit der Heterogenität von Vorgehensweisen?

Angesichts der skizzierten Befunde zur Heterogenität der Leistungen und Vorgehensweisen von Kindern im Mathematikunterricht stellt sich die Frage, wie dieser Kernherausforderung begegnet werden kann. Schenkt man aktuellen bildungspolitischen Initiativen und den damit verbundenen Entscheidungsträgern Glauben, liegt im Einsatz digitaler Medien ein möglicher Lösungsansatz. Im Zuge der Ankündigung milliardenschwerer Investitionen zum Ausbau der digitalen Infrastruktur an Schulen räumte die Bundesministerin für Bildung und Forschung a.D. Johanna Wanka Lernsoftware großes Potential im Hinblick auf den Umgang mit heterogenen Gruppen ein: „Kluge Lernsoftware kann enorm viel dazu beitragen, dass man sehr stark auf ganz individuelle Schülerpersönlichkeiten eingeht.“ (ARD 2016).

Es soll an dieser Stelle nicht abgestritten werden, dass „kluge Lernsoftware“ existiert und für den zielführenden Umgang mit Heterogenität im Fachunterricht geeignet sein kann. Gerade in den vergangenen Jahren ist die mathematikdidaktische Community in der Grundschule aktiver im Bereich der fachdidaktisch fundierten Entwicklung geworden. Dies zeigt sich unter anderem in den Softwareentwicklungen von Urff (o.J.), Etzold (o.J.) oder Chorney et al. (im Druck), die allesamt einen erkennbaren fachdidaktischen Hintergrund aufweisen und den status quo mathematikdidaktischer Forschung berücksichtigen. Analysen aktuell verfügbarer Software für den Mathematikunterricht deuten jedoch darauf hin, dass die Mehrzahl ausdrücklich nicht für den Umgang mit der Heterogenität von Vorgehensweisen geeignet ist und noch viel Entwicklungsarbeit zur Bereitstellung „kluger Software“ zwingend notwendig ist: So kategorisierten Goodwin und Highfield (2012, 2013, S. 210 f.) 74 % der im Apple App Store verfügbaren Mathematiksoftware als „Instructive Apps“, die national auch unter dem Terminus drill & practice-Software bekannt sind. Kennzeichnend sind vornehmlich mathematisch-symbolisch dargebotene (zusammenhangslose) Aufgabenbatterien, bei denen nicht der Lösungsprozess, sondern lediglich das Lösungsprodukt entscheidend ist. Es ist hinlänglich bekannt, dass dieser Softwaretypus kaum geeignet sein kann, um Kinder beim Aufbau konzeptuellen Wissens und dem Verfolgen individueller Vorgehensweisen zu unterstützen (vgl. Goodwin und Highfield 2013; Harrass 2007; Urff 2014). Vor dem Hintergrund der Fülle fragwürdiger Software spricht Krauthausen (2012, S. 49) von einem „Qualitätsdilemma digitaler Lernumgebungen“.

Bei aller berechtigter Kritik zum status quo aktuell vielfach genutzter digitaler Lernangebote sind jedoch auch die – in ihrer Anzahl überschaubar vielen – gehaltvollen Softwareangebote nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Tablet-App virtuelles Zwanzigerfeld (s. Abb. 1, Urff o.J.) kann als eine solche kategorisiert werden, zumal sie fachdidaktische Potentiale digitaler Medien aufweist (vgl. Walter 2016) und neue Lernwege im Fach potentiell ermöglicht (vgl. Bönig und Thöne 2019; Krauthausen 2012). Die Umsetzung zweier fachdidaktischer Potentiale digitaler Medien, die in der empirischen Untersuchung (s. Abschn. 5) näher beleuchtet werden, ist wie folgt gestaltet:

Abb. 1
figure 1

Synchronität und Vernetzung von Darstellungsebenen beim virtuellen Zwanzigerfeld

2.3.1 Synchronität und Vernetzung von Darstellungsebenen

Digitale Medien bieten im Gegensatz zu physischen Unterrichtsmedien das „Alleinstellungsmerkmal“ (Rauh 2012, S. 55), enaktive, ikonische und symbolische Darstellungen sowohl synchron als auch vernetzt darzubieten. Wird eine Darstellung manipuliert, passen sich die jeweils anderen Darstellungen zeitgleich und automatisiert an. So ändert sich durch das virtuell-enaktive Hinzufügen im virtuellen Zwanzigerfeld von fünf blauen Plättchen nicht nur die ikonische Darstellung (Plättchenbild), indem fünf weitere Plättchen erscheinen. Zusätzlich ändert sich auch das entsprechende Zahlzeichen am unteren Bildschirmrand (symbolische Darstellung, s. Abb. 1).

Diesem Gestaltungsmerkmal digitaler Lernangebote wird das Potential beigemessen, Kinder dabei zu unterstützen, die Verwobenheit von Darstellungen zu verstehen (u. a. Ainsworth et al. 1997; Moyer-Packenham und Bolyard 2016; Ladel 2009; Schmidt-Thieme und Weigand 2015).

2.3.2 Strukturierungshilfen

Das virtuelle Zwanzigerfeld bietet die Möglichkeit, virtuelle Plättchenbilder per Knopfdruck auf die entsprechende Schaltfläche am linken, unteren Bildschirmrand umzustrukturieren. Die Summanden einer Additionsaufgabe können entweder zeilenweise oder zeilenfüllend mit Plättchen dargestellt werden (s. Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Strukturierungshilfen beim virtuellen Zwanzigerfeld

Die Umstrukturierung von Plättchenbildern stellt eine Variante von Strukturierungshilfen dar, die vom Nutzer aktiviert werden muss. Es sind noch weitere Strukturierungshilfen implizit vorhanden, die standardmäßig aktiviert sind und keine explizite Aktivierung seitens des Nutzers erfordern. So werden die einzelnen Plättchen stets exakt in den entsprechenden Positionen des Zwanzigerfeldes dargestellt, so dass keine Plättchen übereinanderliegen können und möglichen Fehldeutungen vorgebeugt werden kann, wie es bei vergleichbaren physischen Materialien vielfach zu beobachten ist (vgl. Sarama und Clements 2016). Darüber hinaus werden die Plättchen zu jedem Zeitpunkt nach „Kraft der Fünf“ strukturiert (vgl. Krauthausen 1995), so dass durchgehend die Strukturen des Arbeitsmittels berücksichtigt und eine strukturierte quasisimultane Anzahlerfassung zu jedem Zeitpunkt ermöglicht wird.

In der Synchronität und Vernetzung von Darstellungsebenen sowie Strukturierungshilfen sind zwei zentrale fachdidaktische Potentiale digitaler Medien begründet, die auf der Grundlage theoretischer Überlegungen vielversprechend erscheinen. Die Chancen dieser Potentiale für den Umgang mit der Heterogenität von Vorgehensweisen im Mathematikunterricht müssen jedoch analysiert werden müssen. Gute didaktische Materialien garantieren keinen guten Unterricht, zumal Schülerinnen und Schüler diese nicht per se so nutzen, wie es aus fachdidaktischer Perspektive wünschenswert wäre (vgl. Abschn. 2.2). Im Vergleich zu physischen Arbeitsmitteln hat mathematikdidaktische Forschung der empirischen Erfassung von Nutzungsweisen bei der Verwendung virtueller Arbeitsmittel bisher kaum Rechnung getragen.

3 Ziel der empirischen Untersuchung und Forschungsfragen

Die vorgestellte empirische Untersuchung hat das Ziel, die Nutzungsweisen von Lernenden bei der Verwendung eines virtuellen Arbeitsmittels unter besonderer Berücksichtigung ausgewählter fachdidaktischer Potentiale digitaler Medien sowie dessen physischer Entsprechung empirisch zu erfassen und gegenüberzustellen. Die Befunde basieren auf den Daten der Studie von Walter (2018) und werden hier ausschnitthaft dargelegt und hinsichtlich des zielführenden Umgangs mit Heterogenität gedeutet. Um das Ziel der empirischen Untersuchung zu erreichen, sind zwei Forschungsfragen zu beantworten:

Forschungsfrage 1

Welche Unterschiede sind in den Nutzungsweisen von Schülerinnen und Schülern bei der Verwendung des physischen und des virtuellen Zwanzigerfeldes im Zuge der Fokussierung von Repräsentationen während der Darstellung von Additionsaufgaben festzustellen? (Beantwortung s. Abschn. 5.1)

Forschungsfrage 2

Welche Unterschiede sind in den Nutzungsweisen von Schülerinnen und Schülern bei der Verwendung des physischen und des virtuellen Zwanzigerfeldes im Zuge der Generierung ikonischer Repräsentationen von Additionsaufgaben festzustellen? (Beantwortung s. Abschn. 5.2)

4 Methodisches Vorgehen

Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden leitfadengestützte Einzelinterviews mit 19 Zweitklässlerinnen und Zweitklässlern an zwei aufeinanderfolgenden Schultagen geführt und videographiert. Die Interviews wurden im Sinne der revidierten klinischen Methode konzipiert, dessen grundlegende Ausrichtung auf der Rekonstruktion kindlicher Denk- und Vorgehensweisen liegt. Dabei wird versucht, das Kind durch „behutsames Nachfragen zur Offenlegung seiner Gedankenwelt zu animieren“ (Selter und Spiegel 1997, S. 103). Durch die Wahl dieses qualitativen Forschungszugangs wurde dem Ziel der Untersuchung Rechnung getragen, Prozesse individueller Nutzungsweisen bei der Verwendung virtueller und physischer Materialien empirisch zu ergründen. Um Durchführungsobjektivität zu garantieren, wurden alle Interviews vom Erstautor dieses Beitrags durchgeführt.

Während die Kinder am ersten der beiden Tage das physische Zwanzigerfeld nutzten, wurde das virtuelle Zwanzigerfeld am zweiten Tag eingesetzt. An beiden Tagen wurden den Kindern strukturgleiche Aufgaben gestellt. So wurden sie gebeten, bspw. die Aufgaben 7 + 6, 3 + 8 (Tag 1) bzw. 8 + 7, 4 + 9 (Tag 2) zunächst am jeweiligen Zwanzigerfeld darzustellen und anschließend weitere Darstellungsweisen zu erzeugen. Die Strukturgleichheit der Aufgaben wurde zum einen aufgrund des Vorhandenseins des Zehnerübergangs angenommen. Zum anderen stellen die Additionsaufgaben, die für die Bearbeitung am virtuellen Zwanzigerfeld vorgesehen waren, gleichsinnig veränderte Additionsaufgaben dar, zumal jeder Summand lediglich um eins erhöht wurde. Dadurch liegen vergleichbare Zahl- und Aufgabenmerkmale vor, die ähnliche Vorgehensweisen von Kindern hervorrufen können.

Bevor die genannten Aufgaben den Kindern gestellt wurden, erfolgte eine Thematisierung grundlegender Charakteristika des jeweils nachfolgend genutzten Arbeitsmittels (hier: physisches oder virtuelles Zwanzigerfeld). Dabei wurde insbesondere gemeinsam mit dem Kind thematisiert und aus fachdidaktischer Sicht geschickte Nutzungsweisen erarbeitet.

Auf die Erhebung der Daten folgte eine qualitative Inhaltsanalyse der Denk- und Nutzungsweisen bei der Verwendung des jeweils eingesetzten Zwanzigerfeldes entlang der drei Grundformen des Interpretierens: Zusammenfassung, Explikation, Strukturierung (vgl. Mayring 2015). Diese wurden daraufhin mittels komparativer Analysen gegenübergestellt (vgl. Glaser und Strauss 2005), um Unterschiede festzustellen und die Nutzungsweisen deuten zu können.

5 Ergebnisse

5.1 Fokussierung von Repräsentationen

Die Darstellung von Additionsaufgaben am Zwanzigerfeld stellt eine gängige Aktivität im arithmetischen Anfangsunterricht dar. Durch den Einsatz virtueller Arbeitsmittel besteht bei dieser Aktivität die Möglichkeit, verschiedene der synchronisierten und vernetzten Repräsentationen zu fokussieren.

Während der Darstellung der in der empirischen Studie für die Bearbeitung am virtuellen Zwanzigerfeld vorgesehenen Aufgaben 4 + 9 sowie 8 + 7 konnten drei verschiedene Nutzungsweisen hinsichtlich der Fokussierung von Darstellungen festgestellt werden, die sich allesamt lediglich auf eine einzelne der offerierten Darstellungen beziehen:

5.1.1 Fokussierung der symbolischen Darstellung

Eine Fokussierung der symbolischen Darstellung besteht, wenn die Lernenden die am unteren Bildschirmrand dargestellten Zahlsymbole als Referenz fokussieren und erst dann den Darstellungsprozess einer Aufgabe beenden, wenn die gewünschte Aufgabe angezeigt wird. Bei der Erfassung dieser Nutzungsweise ist insbesondere ein Gestaltungsmerkmal der App zentral: Wird ein Plättchen hinzugefügt, so erscheint es nicht direkt an der vorbestimmten Position, sondern „schwebt“ langsam ausgehend von der Schaltfläche hin zum Zwanzigerfeld – und erst wenn das Plättchen auf dem Zwanzigerfeld „liegt“, ändert sich auch die symbolische Darstellung der Aufgabe (s. Abb. 3a).

Abb. 3
figure 3

Fokussierung der symbolischen Darstellung. a Hinzufügen eines Plättchens; b Als die „7“ erscheint, legt Lars seine Handflächen auf den Tisch

Resultierend aus diesem Gestaltungsprinzip der App konnte bei einigen Kindern beobachtet werden, dass sie ihre Finger so lange in Richtung der Schaltfläche für das Hinzufügen eines Plättchens ausgestreckt ließen, bis die gewünschte Zahl am unteren Bildschirmrand erschien. Erst dann legten sie ihre Hände auf den Tisch und signalisierten damit, keine weiteren Plättchen mehr legen zu wollen (s. Abb. 3b). Abgesichert wurde dieses aus Mimik und Gestik des Kindes erwachsende Interpretation durch anschließendes Nachfragen über die individuellen Fokussierungen.

5.1.2 Fokussierung der Plättchenauswahl

Eine zweite Nutzungsweise besteht in der Fokussierung der Plättchenauswahl, bei der lediglich die Schaltflächen am oberen Bildschirmrand betrachtet werden, nicht aber das Zwanzigerfeld oder die Zahlsymbole. Der Schüler David (7 Jahre) wählte dieses Vorgehen, nachdem er gebeten wurde, die Aufgabe 8 + 7 so darzustellen, wie er sie zuvor mental berechnete (Tab. 1).

Tab. 1 Fokussierung der Plättchenauswahl – Davids Nutzungsweise

Dem Vorgehen ist zu entnehmen, dass David alle Plättchen ohne Ausnahme einzeln legte (Zeile 2). Im weiteren Verlauf der Szene gibt er an, lediglich die Plättchenauswahl und nicht andere Darstellungen fokussiert (Zeilen 4 bis 8) sowie begleitend gezählt zu haben (Zeile 10). Ausnahmslos konnte bei allen Kindern, die eine Fokussierung der Plättchenauswahl während des Darstellens von Aufgaben wählten, eine konsequent zählende Vorgehensweise beobachtet werden, die aus fachdidaktischer Perspektive wenig tragfähig erscheint.

5.1.3 Fokussierung der ikonischen Repräsentation

Die Fokussierung der ikonischen Repräsentation zeichnet sich dadurch aus, dass Lernende sich auf das ikonische Plättchenbild einer Aufgabe beziehen, das sich im zentral auf der Bildschirmoberfläche befindet. Auch die Schülerin Valerie (7 Jahre) wählte diese Fokussierungsvariante während des Darstellens von 8 + 7 (Tab. 2):

Tab. 2 Fokussierung der ikonischen Repräsentation – Valeries Nutzungsweise

Obgleich Valerie unbeabsichtigt zu Beginn eine Fokussierung der Zahlsymbole nahegelegt wird (Zeile 3), bezieht sie sich im weiteren Verlauf der Szene auf das Plättchenbild. Dies wird vor allem in Zeile 4 deutlich, da sie die Zahlworte nennt, bevor die entsprechenden Symbole auf dem Bildschirm erscheinen. Eine Fokussierung der Plättchenauswahl ist ebenfalls auszuschließen, zumal sie die Plättchen während des Darstellens am Plättchenbild sichtbar abzählt (Zeile 5) und im Gespräch kommuniziert, das Zwanzigerfeld samt Plättchen fokussiert zu haben (Zeile 10).

Am physischen Zwanzigerfeld konnten bei der Darstellung der strukturgleichen Aufgaben sowohl die (2) Fokussierung der Plättchenauswahl als auch die (3) Fokussierung der ikonischen Repräsentation beobachtet werden. Zwar liegt beim physischen Zwanzigerfeld keine so kompakt über der ikonischen Darstellung dargebotene Plättchenauswahl vor, jedoch haben die Kinder das physische Pendant – eine Plättchenschachtel – ebenso fokussieren können. Die beim virtuellen Zwanzigerfeld vielfach beobachtete Nutzungsweise in Form der (1) Fokussierung der symbolischen Darstellung konnte bei der Arbeit am physischen Zwanzigerfeld hingegen nicht beobachtet werden. Die Ursache dessen ist nur allzu nachvollziehbar, zumal das physische Zwanzigerfeld eine symbolische Darstellung nicht offeriert, die somit auch nicht von den Kindern fokussiert werden kann.

Zwar konnte bei keinem Kind beobachtet werden, dass das Potential der Synchronität und Vernetzung von Darstellungsebenen in einer Weise ausgeschöpft wurde, dass nicht nur eine, sondern mehrere Darstellungen zugleich (oder wechselseitig) fokussiert wurden – dies war auch nicht zwingend erforderlich, zumal der Arbeitsauftrag, eine Additionsaufgabe auch zielführend unter Fokussierung nur einer Darstellung bewältigt werden kann. Gleichwohl ist hinsichtlich des Umgangs mit Heterogenität zu konstatieren, dass beim virtuellen Zwanzigerfeld durch die zusätzliche Bereitstellung einer symbolischen Darstellung eine zusätzliche Fokussierungsmöglichkeit eröffnet wird, die aus fachdidaktischer Sicht fruchtbar genutzt werden kann. Das physische Zwanzigerfeld bietet dies – so wie jedes erdenkliche andere mathematische Arbeitsmittel – nicht und unterbindet somit eine vielfach beobachtete Vorgehensweise von Kindern, so dass diese auf andere, möglicherweise weniger stark präferierte, Nutzungsweisen ausweichen müssen. Dementsprechend scheint das virtuelle Zwanzigerfeld individuelle Fokussierungen von Repräsentationen im Zuge der Darstellung von Additionsaufgaben eher zu unterstützen als das physische Zwanzigerfeld.

5.2 Generierung ikonischer Darstellungen zu einer Aufgabe

Für den Umgang mit Heterogenität ist es zentral, unterschiedliche Vorgehensweisen – die trotz ihrer Individualität tragfähig erscheinen – durch ein mathematisches Arbeitsmittel zu ermöglichen. Um diesen Aspekt bei der Verwendung der Zwanzigerfelder zu untersuchen, wurden die von den Schülerinnen und Schülern generierten ikonischen Aufgabendarstellungen in den Blick genommen. Um eine möglichst große Fülle an Aufgabendarstellungen zu gewinnen, wurden die Schülerinnen und Schüler nach ihrer jeweils ersten Darstellung so lange darum gebeten, weitere Plättchenbilder zu generieren, bis sie signalisierten, keine weiteren mehr erzeugen zu können.

Bei der Arbeit mit dem virtuellen Zwanzigerfeld konnten – wie auch bei allen anderen erdenklichen Aufgaben – insgesamt nur zwei verschiedene Aufgabendarstellungen für 8 + 7 beobachtet werden, die in Abb. 2 präsentiert wurden. Rote Plättchen werden stets vor blauen Plättchen linksbündig und ohne Leerstellen positioniert, wobei zwischen zeilenfüllender oder zeilenweiser Positionierung der Summanden gewählt werden kann (s. Abb. 2). Darüber hinaus sind gemäß Standardeinstellungen der Software keine weiteren Aufgabendarstellungen möglich, bei denen am unteren Bildschirmrand auf mathematisch-symbolischer Ebene „8 + 7“ notiert ist.Footnote 1

Nach der Anregung, weitere Legeweisen zu erzeugen, versuchten die Kinder vielfach, einzelne Plättchen umzulegen, oder aber alle Plättchen zu löschen und anschließend zunächst blaue Plättchen vor den roten Plättchen zu positionieren. Die App weist jedoch derart starre Strukturierungsmechanismen, dass alle Darstellungsweisen schließlich in die beiden Varianten mündeten, die von der App vorgesehenen sind.

Verglichen mit den Aufgabendarstellungen am physischen Zwanzigerfeld bietet das virtuelle Zwanzigerfeld deutlich eingeschränktere Möglichkeiten, der Heterogenität individueller Vorgehensweisen gerecht zu werden. Dies liegt darin begründet, dass beim digitalen Medium deutlich weniger fachdidaktisch sinnvoll erscheinende Aufgabendarstellungen als beim physischen Medium ermöglicht werden. Abb. 4 zeigt alle empirisch erfassten Plättchenbilder, die bei der Darstellung der zu 8 + 7 strukturgleichen Aufgabe 7 + 6 am physischen Zwanzigerfeld beobachtet werden konnten. Neben den vier grau hinterlegten Darstellungen, die prinzipiell auch beim virtuellen Zwanzigerfeld erzeugt werden können (und auch wurden), generierten die Schülerinnen und Schüler insgesamt 15 weitere Darstellungen, bei denen – mit Ausnahme der Darstellungen in der Rubrik „andere“ – Strukturen des Arbeitsmittels in fachdidaktisch adäquater Weise berücksichtigt wurden. Bei diesen Darstellungen sind sowohl die beiden Summanden als auch das Ergebnis quasisimultan erfassbar.

Abb. 4
figure 4

Beobachtete Legeweisen zur Darstellung der Aufgabe 7 + 6 am physischen Zwanzigerfeld. Die grau hinterlegten Darstellungen sind auch beim virtuellen Zwanzigerfeld erzeugbar

Es konnte auch belegt werden, dass die Strukturierungshilfen des virtuellen Zwanzigerfeldes das Erzeugen weiterer Repräsentationen teilweise unterbinden, da die Software in seinen Standardeinstellungen nur zwei verschiedene Varianten der ikonischen Repräsentation einer Aufgabe gewährt (s. Abb. 2).Footnote 2

6 Diskussion

Die Ergebnisse der Studie deuten im Kontrast zu bildungspolitischen Empfehlungen darauf hin, dass keine globalen Aussagen darüber getätigt werden können, ob digitale Medien individuelle Zugangsweisen einer heterogenen Schülerschaft per se in einer Weise unterstützen, um unterschiedlichen Nutzungspräferenzen zielführender zu begegnen – Potentiale digitaler Medien greifen nur in spezifischen Unterrichtssituationen. So stellte sich zwar heraus, dass den Schülerinnen und Schülern bei der Fokussierung von Repräsentationen eine zusätzliche und von den Kindern auch verfolgte Nutzungsweise ermöglicht wird, die am physischen Zwanzigerfeld nicht möglich ist. Jedoch zeigte sich bei der Erzeugung individueller Darstellungsweisen von Aufgaben, dass am virtuellen Zwanzigerfeld aufgrund der starren Strukturierungscharakteristika – die vielleicht sogar durch eine marginale Änderung des Programmcodes weicher gestaltet sein könnten – nur eine begrenzte Anzahl an Darstellungsweisen einer Aufgabe (insgesamt zwei Varianten je Aufgabe) möglich sind. Hingegen fanden die Kinder bei den strukturgleichen Aufgaben am physischen Zwanzigerfeld deutlich mehr Aufgabendarstellungen (19). Das virtuelle Zwanzigerfeld unterbindet zahlreiche fachdidaktisch sinnvoll erscheinende Legeweisen von Aufgaben, die vielfältiger Strukturen des Arbeitsmittels (Kraft der Fünf (vgl. Krauthausen 1995)) zur Abbildung individueller nicht-zählender Rechenstrategien ermöglichen und auch am physischen Zwanzigerfeld von den Kindern präferiert werden. Der Heterogenität von Vorgehensweisen wird hier nicht Rechnung getragen. Bei der Entwicklung mathematikdidaktischer Software – und natürlich auch bei der Entwicklung physischer Arbeitsmittel – sollte somit besonderes Augenmerk auf die Umsetzbarkeit eines breiten Repertoires an Nutzungsweisen gelegt werden. Nur so können die Kinder ihre Wege im Mathematikunterricht überhaupt gehen.

Die Daten machen exemplarisch deutlich, dass weder virtuelle noch physische Materialien der jeweiligen Entsprechung bei jeglichen Aktivitäten überlegen sein können und nicht die bloße Frage „Digital oder physisch?“ entscheidend zu sein scheint. In diesem Sinne wird einerseits dafür plädiert, zur Bewertung von Materialien – ganz gleich, ob es sich dabei um ein virtuelles oder physisches handelt – dieselben fachdidaktischen Bewertungsmaßstäbe hinsichtlich des adäquaten Umgangs mit Heterogenität anzusetzen. Andererseits sehen wir in der aufeinander abgestimmten unterrichtlichen Kombination virtueller und physischer Materialien vielversprechende Chancen, um der Heterogenität von Vorgehensweisen im Mathematikunterricht adäquat zu begegnen. Je nach Aktivität kann ein (virtuelles) Arbeitsmittel Grenzen aufweisen, die durch die jeweilige Entsprechung überwunden werden können, um präferierte Nutzungsweisen zu ermöglichen. Ein solcher Ansatz ist international unter dem Terminus „Duo of Artefact“ (vgl. Maschietto und Soury-Lavergne 2013) etabliert und erscheint vor dem Hintergrund des Umgangs mit Heterogenität nutzbar. Am Beispiel des virtuellen und physischen Zwanzigerfeldes erscheint es vor dem Hintergrund der hier dargestellten Erkenntnisse fruchtbar, das virtuelle Zwanzigerfeld für die Darstellung einzelner Aufgaben heranzuziehen, da es geschicktere Vorgehensweisen bei der Zahldarstellung begünstigt (vgl. Walter 2018) und die Auswirkungen der Veränderung von Darstellungen auf weitere Darstellungen expliziert werden können. Da die Kinder dies – wie die Studie zeigt – jedoch in der Regel nicht von sich aus in ihren Vorgehensweisen einfließen lassen und einzelne Darstellungen fokussieren, sind gezielte Impulse unabdingbar. Das physische Zwanzigerfeld erscheint hingegen in besonderer Weise geeignet, verschiedene Darstellungsweisen einer Aufgabe zu erzeugen und miteinander zu vergleichen. Jedes Arbeitsmittel sollte in genau den Aktivitäten eingesetzt werden, in denen seine jeweiligen Potentiale ausgeschöpft werden können.

Die Aktualität der beiden Kernherausforderungen Digitalisierung sowie Heterogenität gebieten eine weitaus umfassendere Auseinandersetzung seitens der Lehrkräftebildung Mathematik. Lehrkräfte müssen bestmöglich darin unterstützt werden, eine auf fachdidaktischen Argumenten beruhende rationale Abwägung des Einsatzes digitaler und physischer Medien vornehmen zu können. Wenn dies gelingt, ist ein wichtiger Schritt für den gelungenen Umgang mit der Heterogenität von Vorgehensweisen gegangen.