Es ist ein Jubiläumsdatum, das der vorliegenden Ausgabe der ZfG den Charakter eines Special Issue verleiht. Im Jahr 2019 jährt sich zum hundertsten Male die offizielle Gründung der allgemeinen deutschen Grundschule. Aus diesem Anlass wurde in Rekurs auf das bildungspolitische und pädagogische Gründungsversprechen der Grundschule für die vorliegende Heftnummer der ZfG das Schwerpunktthema „100 Jahre Grundschule: Grundlegende Bildung für alle?“ in problematisierender Formulierung gewählt. Es wird in den Beiträgen der Ausgabe in einem thematisch, methodisch und zeitlich breit ausdifferenzierten Spektrum in empirischer Rekonstruktion und distanzierter Beobachtung bearbeitet. Sowohl für die Vergangenheit wie für die Gegenwart der Grundschule reflektieren alle Beiträge die Grundschulentwicklung unter Bezugnahme auf ihren ursprünglichen Gründungs- und Bildungsauftrag. Auch wenn dies aus verschiedenen Perspektiven geschieht, lassen sich die Artikel nach einer zugrundeliegenden Binnenstruktur bündeln. Danach sind bildungs- und schultheoretische, schulsystematische, bildungssoziologische und transnationale Zugänge zum Schwerpunktthema unterscheidbar.

Die ersten drei Beiträge verbindet trotz unterschiedlicher Forschungsperspektiven das Interesse an den in der Vergangenheit gepflegten grundschulbezogenen Reflexionsmustern und Diskursen bildungs- und schultheoretischer Art. Auf die grundlegende Bildung, die von Anfang an der Grundschule als ein spezifischer Auftrag zugeschrieben wurde, konzentrieren sich die Beiträge von Michaela Vogt sowie von Torsten Eckermann und Sascha Kabel. Im Anschluss an die neuere Ideengeschichte analysiert und kontextualisiert Vogt die in der 100-jährigen Geschichte vorfindbaren grundschulrelevanten bildungstheoretischen Positionen in ihrem diachronen Wandel. Eckermann und Kabel fragen in historischer Vergewisserung nach dem Verhältnis von Allgemeinbildung und grundlegender Bildung und verdeutlichen deren aktuelle Unterminierung an einer Fallstudie. Friederike Heinzel bewegt sich mit ihren Ausführungen auf einer Reflexionsebene, die der Theorie der Grundschule zurechenbar ist. In Differenz zu den von der Autorin identifizierten historischen Varianten einer auf Kindgemäßheit verpflichteten Grundschule stellt Heinzel mit ihrem Konzept der generationenvermittelnden Grundschule einen theoretisch profilierten Neuansatz zur Diskussion.

Einen schulsystematischen Zugang zum Schwerpunktthema wählen diejenigen Autorinnen und Autoren, deren Forschungsinteresse der Positionierung der Grundschule im Bildungssystem oder den Veränderungen ihrer Binnengestalt im historischen Prozess gilt. Mit dem schon in der Gründungsphase existenten und in der Folgezeit wiederkehrenden Streit um die Grundschuldauer befassen sich die Ausführungen von Rita Nikolai und Marcel Helbig. Aus der Perspektive des Historischen Institutionalismus zeigen sie kontinuierlich und diskontinuierlich verlaufende Akteursallianzen und Machtkonstellationen auf, die entsprechende Kontroversen bis in die jüngste Vergangenheit hinein bestimmen. Auf die Aufnahmemodalitäten in die obligatorische Grundschule erstrecken sich die Forschungsfragen von Katrin Liebers und Margarete Götz. Sie untersuchen in ihrem Beitrag für die 40-jährige Phase der deutschen Zweistaatlichkeit die Einschulungsverfahren, die zur Überprüfung der Schuleignung in beiden Staaten eingesetzt wurden. Der dabei durchgeführte Ost-West-Vergleich deckt divergente wie konvergente Entwicklungen in den diagnostischen Formaten und den Einschulungsregelungen auf. Mit welchen Argumenten pädagogischer sowie strategischer Art in der Weimarer Zeit eine Grenzziehung zwischen Grundschule und Hilfsschule begründet und vollzogen wurde, rekonstruieren Susanne Miller und René Schroeder anhand der Auswertung bildungsprogrammatischer wie strategischer Argumentationsmuster.

Mit Wandlungen in der Binnenstruktur der Grundschule befassen sich im Rekurs auf die interne Entwicklung der Unterstufe im Schulsystem der ehemaligen DDR zwei Artikel des Bandes. Gert Geißler zeigt aus übergreifender schulgeschichtlicher Perspektive und unter Berücksichtigung internationaler Bezüge für die 1950er und 1960er Jahre zunächst für die vierjährige und später für die dreijährige Unterstufe auf, wie sich etwa deren Stundendeputate, ihre Lehrplan- und Stoffvorgaben sowie ihre Unterrichtsorganisation im Kontext hoher Sitzenbleiberzahlen und politisch erwarteter Leistungssteigerungen veränderte. Die über mehrere Jahre hinweg durchgeführten Komplexversuche, mit denen die angestrebte Neugestaltung der DDR-Unterstufe in den 1960er Jahren wissenschaftlich begleitet wurde, stehen im Beitrag von Nicole Zabel im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Ihre Untersuchungsergebnisse, die die Autorin aus einer kontextualisierten Quellenanalyse von Archivmaterialien gewinnt, geben u. a. Aufschluss über den gesellschaftspolitischen Entstehungszusammenhang der Komplexversuche, deren Forschungsformate einschließlich ihrer Modifikationen im chronologischen Verlauf sowie über die Wirkungseffekte der Befunde auf die Unterstufenreform unter dem Vorzeichen sozialistischer Erziehungsansprüche.

Aus einer vorwiegend bildungssoziologischen Sicht bearbeiten diejenigen Autorinnen und Autoren das Schwerpunktthema, die historisch und/oder aktuell die mit der Grundschulgründung beanspruchte Egalisierung von Bildungschancen fokussieren. Dass diese Zielvorgabe schon in der Frühphase der Grundschulentwicklung nicht für alle Kinder unterschiedslos erreicht wurde, belegen für die Weimarer Zeit die historischen Fallstudien von Marianne Krüger-Potratz. Sie weist in den damaligen preußischen Beschulungs- und Unterrichtsbestimmungen für Kinder nichtdeutscher Herkunft Exklusions- und Sondermaßnahmen nach, deren veränderte wie unveränderte Fortdauer die Autorin bis in die jüngste Zeit hinein analysiert. Mit Blick auf das gegenwärtige Ausmaß sozial bedingter Bildungsungleichheiten setzen sich Isabell van Ackeren und Klaus Klemm auf der Basis der PISA- und IGLU-Ergebnisse mit dem Gründungsversprechen der Grundschule auseinander und reflektieren die jüngsten bildungspolitisch initiierten Reformmaßnahmen für den Abbau von Bildungsnachteilen. Jörg-Peter Schräpler und Horst Weishaupt kennzeichnen anhand schulstatistischer Daten exemplarisch die Entwicklung der Grundschullandschaft in Nordrhein-Westfalen in den letzten 50 Jahren und belegen mit aktuellen empirischen Befunden an ausgewählten Schulbezirken die Abhängigkeit der Bildungskarriere von Grundschülerinnen und Grundschülern von sozialräumlichen Disparitäten. Ebenfalls auf jüngst erhobene empirische Daten stützen sich die Forschungsergebnisse, die Philipp Stirner, Lars Hoffmann, Tanja Mayer und Thomas Koinzer in ihrem Beitrag zur sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft an öffentlichen, privaten, städtischen und ländlichen Primarschulen berichten. Einbezogen in die Datenerhebung und -auswertung sind auch extracurriculare Angebote von Primarschulen. Aufgrund der Befunde konstatiert das Autorenteam für den Primarbereich einen Entwicklungstrend, der soziale Segregation befördert. Wie diese gemindert werden könnte, wird im Beitrag skizziert.

Einen transnationalen Zugang zum Thema des Special Issue wählt Marcelo Caruso, der sich mit seinem Beitrag zeitlich der Gründungsphase der Grundschule zuwendet. Die in der Weimarer Nationalversammlung geführten parlamentarischen Debatten zur Grundschule untersucht der Autor hinsichtlich ihrer internationalen Bezüge und Referenzen. Im Vergleich mit den zeitgleichen Verhältnissen im europäischen Ausland und in Nordamerika werden zudem die Besonderheiten der Grundschulgründung in Deutschland identifiziert.

Der abschließende Beitrag von Maria Fölling-Albers nimmt eine Auswahl der in der 100-jährigen Geschichte der Grundschule beobachtbaren Veränderungen zum Anlass, um theoriegeleitet zu überprüfen, ob die Differenzen zwischen der Grundschule von 1919 und 2019 lediglich oberflächliche Modernisierungen repräsentieren oder Veränderungen des Kerns von Schule und Unterricht betreffen. Dieser Beitrag zeigt exemplarisch nochmals auf, wie vielseitig und perspektivenreich grundschulbezogene Wandlungsprozesse betrachtet werden können. Damit liefert der Schlusstext gleichzeitig einen Erklärungsstrang, warum das Special Issue mit seiner thematischen, methodischen und zeitlichen Bandbreite die Reflexion über die 100-jährige Geschichte der Grundschule und ihren Bildungsauftrag letztlich zu einem interdisziplinären Schnittfeld werden lässt. Das dokumentiert sich ebenso in der wissenschaftlichen Herkunft der vertretenen Autorinnen und Autoren, die teilweise der Grundschulpädagogik des Weiteren aber auch anderen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen zurechenbar sind. Auf die aus unterschiedlichen Perspektiven geleistete Bearbeitung des Themas ist zudem der weiterführende Erkenntnisgewinn, den das Special Issue ermöglicht, zurückführbar. Sofern die enthaltenen Forschungsbeiträge schwerpunktmäßig auf die Vergangenheit fokussieren, lassen ihre Befunde langlebige Gewissheiten fragwürdig erscheinen. Darüber hinaus liefern sie Erkenntnisse über bislang vernachlässigte oder gänzlich unbeachtete Forschungsfelder der Grundschulgeschichte – auch über deren bisherige nationale Beschränkung hinaus. Sofern sie sich – zumeist in Verbindung mit historischen Rückblicken – auf gegenwärtige Grundschulverhältnisse beziehen, reflektieren sie historisch ungelöste und aktuell wiederkehrende Problemlagen in ihren Bedingungen und Abhängigkeiten entweder vor dem Hintergrund neuer Forschungsbefunde oder basierend auf innovativen Theorieanstrengungen. Zusammen genommen regen die Beiträge dazu an, über vergessene Vergangenheiten der Grundschule ebenso zu reflektieren wie über ihre aktuellen Entwicklungspotentiale und -hürden.