Zusammenfassung
Gerade bei Übergangsentscheidungen spielen diagnostische Kompetenzen von Lehrkräften eine zentrale Rolle. Im vorliegenden Beitrag geht es um den Entscheidungsprozess im Rahmen einer möglichen Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen. Auf der Basis einer qualitativen Interviewstudie mit Grundschullehrkräften und mit administrativen Fachvertretern aus Schulverwaltungen in Nordrhein-Westfalen (NRW) wird das jeweilige Verständnis von Diagnostik rekonstruiert. Dabei wird gefragt, welche diagnostischen Kompetenzen sich bei Grundschullehrkräften im Entscheidungsprozess widerspiegeln, welche Diagnostik aus Sicht der Fachvertreter tatsächlich eine Wirkmacht hat und ob im Zuge von Inklusion Statusdiagnostik in Form von Intelligenzdiagnostik an Bedeutung verloren hat.
Abstract
The present paper reconstructs the understanding of diagnostics using the example of the testing procedure for special educational needs. It is based on a qualitative interview study with primary school teachers and experts from school administration in North Rhine Westphalia. The research-guiding question is whether and to what extent the profession of primary school teachers and the experts from school administration reflect what significance diagnostic (assessment) and which diagnostic competencies gain in the context of inclusive education.
Notes
Vgl. Pressemitteilung „Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen NRW e. V.“: „Schadenersatz für Sonderschul-Besuch“ vom 07.03.2017. Unter: http://www.gemeinsam-leben-nrw.de/content/heute-landgericht-koeln-schadenersatz-fuer-sonderbeschulung (abgerufen am 08.01.2018). Einen ähnlichen Fall wie Nenad beschreibt auch Hänsel (2012).
Da die Untersuchung in Nordrhein-Westfalen erfolgte, werden auch die dort derzeit gültigen rechtlichen Bestimmungen zu Grunde gelegt. Die Abkürzung AO-SF steht für das derzeit gültige Verfahren zur Feststellung von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf.
Das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10)“ stellt eine statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme dar.
Zur Wahrung der Anonymität der Experten können keine konkreteren Aussagen getroffen werden. Dementsprechend nutzen wir ausschließlich die männliche Form.
Da ausschließlich weibliche Lehrkräfte interviewt wurden, sprechen wir im Folgenden von Lehrerinnen.
Literatur
Amrhein, B. (Hrsg.). (2016). Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung. Theorien, Ambivalenzen, Akteure, Konzepte. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Artelt, C., Stanat, P., Schneider, W., & Schiefele, U. (2001). Lesekompetenz: Testkonzeption und Ergebnisse. In J. Baumert, et al. (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich (S. 69–137).
Bartnitzky, H. (2012). Fördern heißt Teilhabe. In H. Bartnitzky & H. Brügelmann (Hrsg.), Individuell fördern – Kompetenzen stärken in der Eingangsstufe (S. 6–36). Frankfurt a.M.: Grundschulverband e. V.
Boger, M., & Textor, A. (2016). Das Förderungs-Stigmatisierungs-Dilemma. Oder: Der Effekt diagnostischer Kategorien auf die Wahrnehmung durch Lehrkräfte. In B. Amrhein (Hrsg.), Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung (S. 79–97). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Bundschuh, K., & Winkler, Ch (2014). Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. München, Basel: Reinhardt.
Eberwein, H., & Knauer, S. (Hrsg.). (1998). Handbuch Lernprozesse verstehen. Wege einer neuen (sonder-)pädagogischen Diagnostik. Weinheim: Beltz.
Fend, H. (2006). Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: VS.
Foucault, M. (2008). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Gomolla, M., & Radtke, F.-O. (2002). Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Götz, M. (2017). Editorial. Zeitschrift für Grundschulforschung, 1, 7–10.
Hänsel, D. (2012). Wie die Sonderschule sozial Benachteiligte schwerstbehindert. Der Fall des Schülers S. Schulverwaltung Nordrhein-Westfalen, 23(11), 311–313.
Helsper, W. (1996). Antinomien des Lehrerhandelns in modernisierten pädagogischen Kulturen. In A. Combe & W. Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität (S. 521–570). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Huber, C. (2000). Sonderpädagogische Diagnostik im Spannungsfeld traditioneller und gegenwärtiger Sichtweisen. Ergebnisse und kritische Reflexion einer Praxisuntersuchung an Schulen für Körperbehinderte. Zeitschrift für Heilpädagogik, 51, 411–416.
Joél, T. (2017). Das Dilemma der Intelligenzdiagnostik in der Sonderpädagogik – erläutert anhand der neuen KABC-II. Zeitschrift für Heilpädagogik, 68(1), 12–21.
KMK (2016). Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2005 bis 2014. Statistische Veröffentlichungen der KMK, Dokumentation Nr. 210 – Februar 2016. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen/Dok_210_SoPae_2014.pdf. Zugegriffen: 25. Mai 2017.
KMK/HRK (2015). Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt. Gemeinsame Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz und Kultusministerkonferenz. http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2015/2015_03_12-Schule-der-Vielfalt.pdf. Zugegriffen: 25. Mai 2017.
Kornmann, R. (2003). Zur Entwicklung sonderpädagogischer Handlungskonzepte im Zuge der Bildungsreform der 60er-Jahre und ihre Implikationen für die Diagnostik. In G. Ricken, A. Fritz & Ch Hofmann (Hrsg.), Diagnose: Sonderpädagogischer Förderbedarf (S. 33–53). Lengerich: Pabst.
Kottmann, B. (2006). Selektion in die Sonderschule. Das Verfahren zur Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf als Gegenstand empirischer Forschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Kottmann, B., & Miller, S. (2014). Grundschullehrkräfte im Entscheidungsdilemma zwischen Fördern und Selektieren. In B. Kopp, S. Martschinke & M. Munser-Kiefer, et al. (Hrsg.), Individuelle Förderung und Lernen in der Gemeinschaft. Jahrbuch Grundschulforschung, (Bd. 17, S. 218–221). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Luder, R., Kunz, A., & Diezi-Duplain, P. (2016). Diagnostik. In I. Hedderich, G. Biewer, J. Hollenweger & R. Markowetz (Hrsg.), Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik (S. 331–337). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Mayring, P. (2015). Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken (12. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Meuser, M., & Nagel, U. (2005). ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht – Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In A. Bogner, B. Littig & W. Menz (Hrsg.), Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung (S. 71–93). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Miller, S., & Kottmann, B. (2016). „Und dann war das auch noch so ein kleines, zartes Persönchen“: Grundschullehrkräfte im Entscheidungsdilemma zwischen Fördern und Selektieren. In B. Amrhein (Hrsg.), Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung (S. 154–167). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW (2016). Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung. https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Schulrecht/APOen/SF/AO_SF.PDF. Zugegriffen: 25. Mai 2017.
Pfahl, L., & Powell, J. (2016). „Ich hoffe sehr, sehr stark, dass meine Kinder mal eine normale Schule besuchen können“. Pädagogische Klassifikationen und ihre Folgen für die (Selbst‑)Positionierung von Schüler/innen. Zeitschrift für Pädagogik, 62, 58–74.
Prengel, A. (2015). Diagnostik und Didaktik in heterogenen Lerngruppen. Die Grundschulzeitschrift, 285/286, 91–94.
Rindermann, H., & Kwiatkowski, V. (2010). Intelligenzdiagnostik im Kindesalter. In C. Quaiser-Pohl & H. Rindermann (Hrsg.), Entwicklungsdiagnostik. München (S. 102–132).
Schäfer, H., & Rittmeyer, Ch (Hrsg.). (2015). Handbuch Inklusive Diagnostik. Weinheim: Beltz.
Schumann, B. (2016). Sonderpädagogische Diagnostik: fragwürdig, beschädigend, verzichtbar. https://bildungsklick.de/schule/meldung/sonderpaedagogische-diagnostik-fragwuerdig-beschaedigend-verzichtbar/. Zugegriffen: 25. Mai 2017.
Simon, T. (2013). Diagnostik als Kernelement inklusiver Didaktik? Inklusionspädagogische Ansprüche an die Schulpraxis am Beispiel von Diagnostik und Didaktik. In N. Bernhardt, M. Hauser, F. Poppe & S. Schuppener (Hrsg.), Inklusion und Chancengleichheit. Diversity im Spiegel von Bildung und Didaktik (S. 238–243). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Simon, J., & Simon, T. (2014). Inklusive Diagnostik – Wesenszüge und Abgrenzung von traditionellen „Grundkonzepten“ diagnostischer Praxis. Eine Diskussionsgrundlage. In: Zeitschrift für Inklusion. http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/194. Zugegriffen: 25. Mai 2017.
Streckeisen, U., Hänzi, D., & Hungerbühler, A. (2007). Fördern und Auslesen. Deutungsmuster von Lehrpersonen zu einem beruflichen Dilemma. Wiesbaden: VS.
Trautmann, M., & Wischer, B. (2011). Heterogenität als Herausforderung für das Lehrerhandeln im Unterricht. In M. Trautmann & B. Wischer (Hrsg.), Heterogenität in der Schule. Eine kritische Einführung (S. 105–136). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Trost, R. (2017). „Man sieht nur, was man weiß“. Diagnostik in inklusiven und sonderpädagogischen Arbeitsfeldern. Sonderpädagogische Förderung heute, 1, 235–260.
Valtin, R., & Hornberg, S. (2010). Schülerinnen und Schüler mit Leseproblemen – eine ökosystemische Betrachtungsweise. In W. Bos, et al. (Hrsg.), IGLU 2006 – die Grundschule auf dem Prüfstand. Vertiefende Analysen zu Rahmenbedingungen schulischen Lernens (S. 43–90). Münster: Waxmann.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Kottmann, B., Miller, S. & Zimmer, M. Macht Diagnostik Selektion?. ZfG 11, 23–38 (2018). https://doi.org/10.1007/s42278-018-0008-2
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s42278-018-0008-2